- Lexikon
- Geografie
- 5 Räumliche Gliederungen
- 5.1 Arten räumlicher Gliederungen
- 5.1.2 Kulturräumlich-politische Gliederung
- Wo endet Europa? Zur Ausdehnung Europas und der EU
Schon lange wird von Politikern nicht selten Europa mit der Europäischen Union gleichgesetzt, obwohl nahezu die Hälfte des gängigen Europas in der Russischen Föderation bzw. in den GUS-Staaten liegt. Im Statistischen Jahrbuch der Bundesrepublik Deutschland für das Ausland von 2001 werden für Europa Zahlenwerte (22,98 Mio. km²) angegeben, die mit den traditionellen 10 Mio. km² nichts mehr zu tun haben. Das muss stutzig machen.
Die kollektiven Vorstellungen über die Bedeutung und Abgrenzung Europas (Bild 1) prägen die politischen Strategien der EU im Bereich der Erweiterung. Die Frage „Welcher Staat gehört zu Europa und wo liegen die ,natürlichen' Grenzen einer EU?“ beschränkt gleichzeitig die zukünftigen Erweiterungen.
2004 kam es zur ersten EU-Osterweiterung, 2007 folgten die Beitritte Rumäniens und Bulgariens.
Der Türkei wurde der Kandidatenstatus zugebilligt, obwohl nur ein geringer Teil ihrer Landesfläche auf dem Kontinent liegt, den man traditionell unter Europa versteht. Island, Kroatien, Montenegro und Mazedonien gelten ebenfalls als offizielle Beitrittskandidaten.
Andere Länder wie Serbien, die Ukraine, Weißrussland und Moldawien warten auf politische Signale aus Brüssel, um irgendwann einmal auch ein Beitrittsansuchen stellen zu können. Aber was folgt dann? Ist die endgültige Größe Europas nach dem Beitritt der aufgezählten Staaten erreicht? Was geschieht, wenn die Russische Föderation mit ihren ca. 4 Mio. km² Fläche westlich des Urals EU-Mitglied werden möchte? Oder Kasachstan mit seinem Europa-Anteil größer als der der Türkei?
Die Antworten der Politik und des politische Feuilletons auf diese Fragen sind breit gestreut und lassen sich dennoch auf eine typische Argumentation verdichten:
Europa sei geografisch eindeutig abgrenzbar und das politische Tun und Handeln müsse nur darauf ausgerichtet sein, die politischen und geografischen Grenzen Europas zur Deckung zu bringen. Die endgültige Größe Europas sei dann erreicht, wenn all das, was Europa darstellt, vereint ist.
Die Begründung ist immer gleich:
Auf der einen Seite existiert eine vermeintlich klare Grenze Europas und auf der anderen Seite soll die politische Konstruktion einer Europäischen Union nicht über diese Grenzen hinausreichen. Die Grenzen seien vorhanden, man müsse sie nur erkennen und das politische Handeln danach ausrichten.
Das geografische Europa sei definiert und eigentlich müsse die Politik nur die Geografie fragen, wo dieser Ausschnitt der Erdoberfläche eigentlich endet und damit auch die Erweiterung der EU.
Wo endet Europa?
Die Geografie kann darauf aber keine eindeutigen Antworten geben. Sie kann nur Konventionen (Übereinkommen, Verabredungen) anbieten. Und Konventionen hat die Geografie viele produziert. Bereits in der Antike nahm man an, dass der Begriff Europa – sprachlich aus dem Phönizischen stammend – für die Westseite der Ägais zu verwenden sei. Dafür sprachen weder die Natur noch die Vorsehung, sondern schlichtweg die Notwendigkeit, die Ostseite der Ägais von der Westseite begrifflich zu trennen. Europa reichte später im öffentlichen Bewusstsein im Osten bis zum Asowschen Meer und bis zum Don.
Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit veränderte sich die Konvention abermals. Das politische Zentrum des damaligen Europas „wanderte“ nach Norden und Nordwesten. Die Nord- und Ostsee ersetzte das Mittelmeer als mare nostrum und dementsprechend verschoben sich auch die Grenzen Europas.
Problematisch war dabei immer die Grenze nach Osten, denn kein Meer sorgte dort für eine nahe liegende Abgrenzung. Die politische Reichweite der europäischen Mächte trat an dessen Stelle. So nahm man beispielsweise an, dass sich in der Weite der Podolischen Platte (zwischen den Flüssen Dnestr und Bug), dort, wo sich die nach deutschem Recht gegründeten Städte verlieren, auch Europa endete.
Mit der Europäisierung des russischen Raums unter PETER DEM GROSSEN veränderte sich auch diese Konvention hinsichtlich dessen, was Europa bedeutet und wo es endet. Im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Ostgrenze Europas schrittweise verschoben. Zuerst war es eine Linie vom Schwarzen Meer über den Dnjepr bis zum Ladogasee, dann verlegte man die Grenze längs des unteren Don über die Wolga zur Kama und schließlich (ab 1730) auf den Kamm des Urals. Diese Grenzziehung hat sich im Prinzip bis heute gehalten, obwohl prominente Geografen auf der einen Seite für eine Ausweitung plädierten (C. RITTER, E. RECLUS, E. WISOTZKI), andere für eine Rücknahme (E. BANSE, A. SUPPAN, H. SCHMITTHENNER).
Beschäftigt hat sich die Geografie auch mit der inhaltlichen Bedeutung des Begriffes Europa. Die Besonderheit Europas wurde meistens in physisch-geografischen, humangeografischen oder in agrarstrukturellen Besonderheiten gesehen. Hervorgehoben wurden solche Gesichtspunkte, wie die starke Verzahnung von Land und Meer, die Küstennähe, die vielfältige Gliederung in überblickbare Teilräume, die Vielfalt an Völkern und Sprachen, das milde und feuchte Klima oder die Dominanz des Regenfeldbaus.
Diese und alle anderen räumlichen Deutungen und Abgrenzungen befriedigen jedoch nicht restlos, denn sie sind „menschengemacht“, erfunden und legitimieren im Nachhinein das Konstrukt „Europa“. Und auch dann, „wenn sich die Grenzen, die zur Definition benützt werden, an der Natur orientieren, sind sie immer künstlich gezogen, aus Verabredung und Kampf hervorgegangen, auf Konvention und Gewalt gegründet“ (K.-M. GAUSS, Das Europäische Alphabet, München 2000, S. 58). „Räume sind nicht, Räume werden gemacht“ nennt ein anderer Geograf einen von ihm verfassten Aufsatz (H.-D. SCHULTZ in Europa regional, 5/1997, S. 2-14). Dies gilt im Allgemeinen und natürlich auch für Europa.
Es handelt sich immer um gesellschaftliche Konstruktionen – auch dann, wenn sie sich an Flussverläufen, Klimagrenzen, Bergrücken oder Tälern orientieren.
Wieder müssen wissenschaftliche Überlegungen und Darstellungen herangezogen werden, um die Frage „Wo endet Europa?“ beantworten zu können. Eine zweite Argumentationsrichtung wird dabei offensichtlich. Europa basiert nicht auf Grenzen, sondern stellt ein besonderes Gemisch von historischen Ereignissen sowie kulturellen und gesellschaftlichen Werten dar. Aus dieser historischen Sicht wird Europa überzogen-feierlich vom Rest der Welt abgegrenzt.
Dabei kehren drei typische Merkmalsbereiche immer wieder:
Europa ist in all diesen Definitionen nicht ein Produkt der Geografie, sondern Europa ist der Hort von Werten, Denktraditionen und gesellschaftlichen Entwicklungen. Bemerkenswert ist bei dieser Argumentation die historische Vergesslichkeit, die alle Grausamkeiten der europäischen Geschichte (z. B. Inquisition, Judenverbrennung im Mittelalter, Sklavenhandel, Ausbeutung der arbeitenden Menschen, viele Kriege, Holocaust) ausblendet, aber auch die mangelnde Beachtung realer Strukturen. Wer von Europa spricht, verallgemeinert und negiert die reale Differenziertheit der Staaten und Regionen.
Ein Blick in die erfahrene Realität zeigt jedoch, wie brüchig und oberflächlich viele dieser Merkmale sind. Innerhalb Europas, aber auch innerhalb der EU existieren erhebliche regionale Disparitäten. Reichtum ist in den europäischen Zentralräumen vorhanden, zugleich aber auch sehr viel Armut an den Peripherien. Europa ist auch nicht ein ausschließlich christlicher Kontinent. Was passiert mit den muslimischen Teilen auf dem Balkan oder mit den islamischen Zuwanderern in den großen europäischen Metropolen? Sind diese nun nicht mehr Europa? Oder Europa als Sinnbild für Aufklärung, Toleranz und Menschenwürde? Übersieht man die Realität im Kosovo, in Sarajevo oder in Londonderry? Toleranz, Vernunft und Menschenrechte wurden dort zumindest kurzfristig ausgesetzt. Sind diese Orte damit nicht mehr Europa?
Dieser historisch-kulturelle Definitions- und Abgrenzungsansatz erscheint problematisch und oberflächlich. Die Grenzen bleiben unscharf und der Versuch muss scheitern, Europa eindeutig zu definieren. Nur bestimmte Festlegungen sind möglich und auch ausreichend, wenn man zugleich auf ihre Unzulänglichkeiten aufmerksam macht.
Europa kann auch institutionell begrenzt werden. Welche Territorialität haben europäische Institutionen in ihrem praktischen Handeln entwickelt und wie definieren diese ihr „Europa“?
Die Europäische Union (EU) deklariert nicht, was Europa ist und wo es endet. Sie bestimmt keine geografische endgültige Größe Europas. Es ist der politische Pragmatismus, die praktische Nützlichkeit, und es sind einige wenige Prinzipien, die darüber entscheiden, was Europa – oder genauer gesagt – was die Europäische Union ist und welche Staaten dazugehören können (Bild 6).
Diese Prinzipien wurden unter anderem während des EU-Gipfels in Kopenhagen (Juli 1993) festgelegt. Damals wurden die Aufnahmekriterien definiert, die notwendig sind, damit Staaten der EU beitreten können (Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft und Bereitschaft zur Übernahme der Verpflichtungen einer potenziellen Mitgliedschaft). Diese Kopenhagener Kriterien definieren damit die EU nicht aus einem territorialen Blickwinkel heraus, sondern aus einem politisch-ökonomischen. Es wurde nicht festgelegt, wie weit die EU im Konkreten reichen soll, sondern wer der Gemeinschaft im Grundsätzlichen beitreten kann.
Als Ergebnis auf die Frage „Wo endet Europa?“ muss festgestellt werden, dass die Grenzen Europas unbestimmt und aus sich heraus unbestimmbar sind. Es ist erforderlich, sich von der statischen und naturhaften Betrachtung eines fest umrissenen Europas zwischen Atlantik und Ural zu lösen. Wenn klare und eindeutige Abgrenzungen angeboten werden, dann sollte man dazu auch sagen, dass diese gesellschaftlich produziert wurden und dass es viele unterschiedliche Abgrenzungen gibt. Ob Europa im Osten an der Obtschei Syrt oder am Uralfluss endet, ist relativ belanglos. Nicht belanglos jedoch ist, wer die Macht im politischen Mehrebenensystem besitzt, welche Rolle die Nationalstaaten und Regionen heute spielen, was europäische Politikbereiche leisten können und welche realen ökonomischen und gesellschaftlichen Strukturen in einem differenzierten Europa vorherrschen. Ein zeitgemäßes Europabild ist dringend notwendig, um dem neuen Europa gegenüber sowohl die Akzeptanz als auch die Kritikfähigkeit zu entwickeln.
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