Auch wenn der Erkenntnisprozess der Menschen über ihre Vergangenheit niemals abgeschlossen sein wird und es immer eine Meinungsvielfalt über den Geschichtsverlauf geben wird, kann die Geschichtswissenschaft doch einige gesicherte Grundaussagen über wesentliche Merkmale des Geschichtsprozesses treffen.
Die Menschen stehen in der Geschichte als in einem fortlaufenden Entwicklungsprozess der menschlichen Gesellschaft. - Es sei denn, die Menschheit bringt sich durch künftige Kriege mit dem Einsatz immer effektiverer Waffen oder durch den verantwortungslosen Umgang mit ihrer natürlichen Umwelt einmal selbst um.
Alles, was die Menschen früher getan haben, ist heute Geschichte und alles, was sie heute tun, wird einmal Geschichte sein. Die Menschen sind stets ein Glied in der Kette der Generationen von Beginn ihrer Existenz an bis in ihre ferne, nicht überschaubare Zukunft.
Die heutigen gesellschaftlichen Existenz- und Wirkungsbedingungen der Menschen sind das Ergebnis der geschichtsbildenden und geschichtsgestaltenden Tätigkeit früherer Generationen. Die gegenwärtige Generation schafft mit ihren Leistungen - aber auch mit ihren Fehlleistungen - das Bedingungsgefüge für die Aktivitäten der nach ihnen kommenden Jahrgänge. Das Wissen um die historische Bedingtheit menschlicher Existenz (Geschichtsbewusstsein) und die darin eingeschlossene Erkenntnis über den Zusammenhang zwischen dem Wirken der Generationen wird den Menschen hauptsächlich bei großen geschichtlichen Ereignissen bzw. bei tief greifenden und jähen gesellschaftlichen Veränderungen, die für das Leben Vieler spürbare Auswirkungen haben (Kriege, Revolutionen u.a.m.) bewusst.
Jede Generation findet bei ihrem Eintritt in die Geschichte bestimmte Verhältnisse und Umstände vor, die sie sich nicht aussuchen kann. Durch ihre Tätigkeit verändern die Menschen das jeweils Vorgefundene. Dadurch bedingter ständiger Wandel in allen Bereichen der Gesellschaft ist das wichtigste Merkmal des Geschichtsprozesses.
– Besonders das vergangene 20. Jahrhundert legte dafür Zeugnis ab. Vieles, was heute in Wissenschaft und Technik selbstverständlich ist, schien zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts reine Utopie zu sein - oder es war überhaupt noch nicht denkbar, wie die Computer- und Gentechnologie zeigen. Den ersten erfolgreichen Flugversuchen der Brüder Wright mit einem Motorflugzeug im Jahre 1903 folgte, gemessen an den großen Zeiträumen der Menschheitsgeschichte, verhältnismäßig schnell mit einem Weltraumfahrzeug der Sprung zum Mond. In der Gegenwart ist die Inspektion des Planeten Mars sogar schon eine reale Möglichkeit.
– Aber auch in Gesellschaft und Politik gab es in diesem Jahrhundert tief greifende Wandlungen. Der ca. 70 Länder erfassende Untergang des Kolonialsystems veränderte die Welt grundlegend.
Zu den Erfahrungen der Menschheit im vergangenen Jahrhundert gehören auch zwei furchtbare Weltkriege. Sie sind durch die Anzahl der beteiligten Staaten, die Zahl der Opfer an Menschen, den Grad der materiellen Zerstörungen und die Höhe des Verlustes unersetzlicher Kulturgüter mit den vorhergegangenen Kriegen nicht vergleichbar. Die Folgen der Atombombenabwürfe auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki mahnen die Menschen bei Strafe ihres Untergangs zur Überwindung des Krieges als Mittel der Politik. Und es hat auch seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viele, wenn auch territorial begrenzte Kriege gegeben, die etwa 40 Millionen Menschenleben gekostet haben.
– Schließlich stellen die Veränderungen in der Arbeitswelt, der Wandel in früher vorwiegend patriarchalisch strukturierten Familien, überhaupt die Veränderungen in den gesellschaftlichen Strukturen, die besonders im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts einsetzten, immer höhere Anforderungen an die Menschen. In der Gegenwart sind das vor allem die weltweite Globalisierung, in der „alten Welt“ die Einführung des Euro als neues Zahlungsmittel und die weitere Integration Europas.
Der geschichtliche Wandel ist kein glatter, linearer Entwicklungsvorgang, sondern ein widerspruchsvoller und konfliktreicher Prozess, in dem es Perioden des Fortschritts und solche des relativen Stillstandes oder gar des Rückschritts gibt.
Einen besonders eindruckvollen Beleg für dieses Wesensmerkmal bietet die Geschichte des deutschen Volkes im abgelaufenen Jahrhundert. Zwei große Kriege, Weltkriege, der Nationalsozialismus mit seinen Verbrechen, die Spaltung Deutschlands, eine vierzigjährige deutsche Zweistaatlichkeit und dann die Widerherstellung der staatlichen Einheit waren tief greifende, widerspruchsvolle und konfliktreiche Ereignisse mit Auswirkungen bis in die Gegenwart. Ihre Aufarbeitung wird nicht nur Historiker und Politiker noch lange herausfordern. Andererseits gab es in diesem Zeitraum in der Geschichte des deutschen Volkes international bedeutsame wissenschaftliche und technische Innovationen, große kulturelle Leistungen und insgesamt - wenn auch mit Rückschlägen und Widersprüchen verbunden - die Entwicklung zu einem in der Welt geachteten, demokratischen Gemeinwesen.
Ein weiteres wesentliches Merkmal ist die Beschleunigung des Wandlungsprozesses im Laufe der geschichtlichen Entwicklung.
Der Übergang beispielsweise von der aneignenden Wirtschafts- und Lebensform der Menschen in der Alt- und Mittelsteinzeit (nomadisierende Jäger und Sammler) zur produktiven Wirtschaftsform (sesshafte Kulturen der Ackerbauer und Viehzüchter) in der Jungsteinzeit umfasste einen Zeitraum von ca. 6 000 Jahren. Diese in Anlehnung an den britischen Urgeschichtsforscher VERE GORDON CHILDE (1892-1957) auch als „neolithische Revolution“ bezeichnete grundlegende Umwälzung erforderte die Kraft von etwa 200 Generationen.
Mit der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden ersten industriellen Revolution vollzog sich der Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft in den damals wichtigsten europäischen Ländern und in Nordamerika. Im Zusammenhang mit der Automatisierung von Produktionsprozessen und dem Übergang zur Massenproduktion seit der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts spricht man von einer zweiten industriellen Revolution. Die darin wurzelnden Veränderungen in der Produktionstechnik, in der Wirtschaft und Gesellschaft, in den Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen in einem bisher unbekannten Ausmaß vollzogen sich bereits in einem Zeitraum von ca. 200 bis 300 Jahren und mussten von 10 bis 15 Generationen bewältigt werden.
Seit einiger Zeit vollzieht sich hauptsächlich in den Industriegesellschaften Europas, Nordamerikas, Japans und in einigen anderen asiatischen Staaten eine dritte wissenschaftlich-technische Revolution, die sich schnelle ausbreitet. Außer der Nutzung der Atomenergie stehen hier die neuartigen Informations- und Kommunikationsmittel (vor allem die sich immer schneller erneuernde Computertechnologie) auf der Basis der Mikroelektronik und zunehmend auch die Gentechnologie im Mittelpunkt.
Die neuen Informations- und Kommunikationsmittel sowie -technologien führen dabei zu Umgestaltungen der materiell-technischen Basis der Produktion, in der Organisation der menschlichen Arbeit, der Dienstleistungen und der Freizeitgestaltung in einer völlig neuen Dimension.
Es handelt sich um Veränderungen in allen wichtigen materiell-gegenständlichen Existenz- und Lebensbedingungen der Menschen und im Zusammenhang damit auch der gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen. Ihre Verheißungen und Gefahren werden zunehmend in alle Winkel des Erdballs projiziert und ihre Auswirkungen betreffen die Menschheit als Ganzes.
Eine Besonderheit der dritten industriellen Revolution im Verhältnis zu den vorangegangenen großen Umwälzungen besteht darin, dass die Zeit für ihre Bewältigung ungleich kürzer ist. Ihre drängenden, mit der weiteren Existenz der Menschheit zusammenhängenden wissenschaftlich-technischen, sozialen und geistig-kulturellen Probleme dulden keinen Aufschub. Sie müssen nach Auffassung vieler Geistes- und Sozialwissenschaftler im Prinzip in den nächsten Jahrzehnten, also bereits von 2 bis 3 Generationen bewältigt werden.
Die mit der dritten industriellen Revolution verbundenen neuen Dimensionen der Entwicklung in Raum und Zeit werden besonders an folgenden Fragen deutlich:
Aus den Betrachtungen über die fundamentalen Wandlungen in der Geschichte ist zugleich ersichtlich, dass jede Entwicklungsstufe sowohl mit neuen Möglichkeiten für die Entwicklung der Menschen als auch mit neuen Gefährdungen verbunden ist - bis hin zu den existenzbedrohenden Gefahren in der Gegenwart.
Die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und geistig-kulturellen Wandlungen in der Geschichte sind keine Naturereignisse oder das Ergebnis des Wirkens übernatürlicher bzw. übersinnlicher Kräfte. Sie werden von den Menschen selbst gemacht. Die Menschen sind die Schöpfer der Geschichte und damit auch der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen sie leben und wirken. Sie sind damit sowohl die Nutznießer als auch die Opfer ihrer eigenen geschichtlichen Aktionen. Dabei ist zu berücksichtigen:
– In ihrem geschichtlichen Handeln verfolgen die Menschen als Einzelne und in Gruppen stets bestimmte interessengeleitete Ziele, die meistens nicht deckungsgleich sind, sich oft sogar widersprechen. Übereinstimmende Ziele und darauf gerichtete gemeinsame Aktionen größerer Menschengruppen sind in der Geschichte relativ selten. In der deutschen Geschichte war das zuletzt Ende der 1980er/ Anfang der 1990er Jahre der Fall, als die überwältigende Mehrheit des Volkes die staatliche Einheit wollte.
– Es gibt in der Geschichte keine vorher bestimmten Ziele. Deutungen der Geschichte im Sinne einer - wie auch immer begründeten - Erwartung eines vorgegebenen Endzustandes, auf den die Geschichte zusteuert, sind wissenschaftlich nicht vertretbar. Das trifft vor allem auch auf eschatologische Vorstellungen (Eschatologie: griechisch, Lehre von den letzten Dingen) von einem neuen oder letzten Zustand der Welt nach einem Weltgericht zu. Das wird in verschiedenen prophetischen Religionen mit dem Reich des Messias (Judentum), dem Reich Gottes (Christentum), dem Paradies (Islam) verkündet. Aber auch in atheistischen Geschichtsauffassungen gibt es wissenschaftlich nicht begründbare Erwartungshaltungen an die Geschichte, so die Vorstellung vom Sozialismus als Ziel und Endzustand der Geschichte in pseudo-theoretischen Vereinfachungen des Marxismus. Diese dienten entweder der Machtlegitimierung der herrschenden Parteien im untergegangenen Realsozialismus dienten oder in der Gegenwart einer Politikrechtfertigung.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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