Solange Herrschaft sich mit Volkswillen gleichsetzt, solange können wir nicht von Pluralismus reden. Solange Fürsten davon sprechen konnten, dass sie der Staat seien, oder, in jüngerer Zeit, der letzte deutsche KAISER WILHELM bei Kriegsbeginn 1914: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, so lange wird zwischen dem Willen von Regierenden und Regierten nicht unterschieden. In monistischen Gemeinschaften sind Staat und Gesellschaft, Regierung und Regierte identisch. Die Regierenden fragen nicht nach den Interessen der Untertanen; sie setzen als gegeben voraus, dass sie, die Regierenden, wissen, was gut und angemessen ist fürs Volk. Das Gemeinwohl ist ganz allgemein gesprochen das öffentliche Wohl aller, im Unterschied zum privaten Wohl oder privaten Interesse. Die Monisten gehen davon aus, dass dieses Gemeinwohl oder Gesamtinteresse vorgegeben ist, quasi a priori existiert, man muss die Bevölkerung nicht danach fragen, man kennt es vorher. Die Pluralisten hingegen gehen von einer Vielzahl gesellschaftlicher Gruppen aus, die gegenüber dem politischen System ihre Forderungen stellen. Sie vertreten die Ansicht, dass das Gemeinwohl bestenfalls annäherungsweise und im Nachhinein auf der Basis empirischer, grundsätzlich veränderbarer Ergebnisse des politischen Prozesses zu ermitteln ist, dass freies Spiel der beteiligten Interessen vorliegen muss, um das Gemeinwohl a posteriori, im Nachhinein, zu bestimmen.
Über viele Jahrhunderte hindurch war Monismus die vorherrschende Beziehung zwischen Herrschern und Beherrschten. Sieht man einmal von Amerika ab, wo sich die Gesellschaft früher ausdifferenzierte als in Europa, weil in Amerika traditionelle Machtstrukturen fehlten, so gerieten in Europa die Beziehungen zwischen Regierenden und Regierten vor allem im 19. Jh. in „Unordnung“. Die Gesellschaft begann, sich aufzusplittern in immer mehr Gruppen. Aus Homogenität wurde Heterogenität. Schon MARTIN LUTHER hatte mit seiner Reform der Katholischen Kirche ein konkurrierendes Kirchenmodell entgegengesetzt und damit zumindest theoretisch Wahlmöglichkeiten eröffnet. Die Industrialisierung brach mit anderen Festfügungen. Eine neue Klasse, die Arbeiterschicht, betrat die politische Bühne, und ganz sicher empfand sie ihre Interessen nicht als identisch mit denen ihrer Herrscher. Frauen wollten eigene Interessen artikulieren und gründeten Zusammenschlüsse, Vereine und Honoratiorenparteien formulierten politische Ansichten und Ambitionen; zwischen den Herrscher oder die Regierung und das Volk als großer Masse schob sich eine Vielzahl von Interessenorganisationen.
Der veränderten gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Situation musste zu Beginn des 20. Jh.s mit einer Theorie Rechnung getragen werden, der Pluralismus-Theorie. Ansatzpunkt der frühen Pluralisten war ihre Kritik am vorherrschenden Staatsbegriff. Die alte Souveränitätslehre war in ihren Augen zu einseitig legalistisch, politisch eng, und vor allem umfasste sie nicht die gesamte soziale Wirklichkeit, wie sie sich im letzten Drittel des 19. Jhs. herausgebildet hatte. Hatten sich bislang Monarch oder Regierung einerseits, Zünfte, Stände oder Familien andererseits gegenüber gestanden, so war es im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung zu einer großen Zunahme gesellschaftlicher Gruppen gekommen: Berufsgruppen, politische Parteien und Organisationen, Gewerkschaften, Frauenvereinigungen, religiöse Organisationen, Freizeitgruppen usw. Das warf neue Fragen auf: Wenn ein Bürger nun Mitglied mehrerer Organisationen war, stellte sich die Frage nach seiner Loyalität, falls diese Organisationen unterschiedliche Positionen vertraten. Wem gehörte die Loyalität eines Menschen, der als Staatsbürger Mitglied eines Staates ist, vielleicht darüber hinaus aber auch Mitglied einer pazifistischen Vereinigung ist, dann, wenn ein Krieg ausbricht? Wem gegenüber ist er zur Treue verpflichtet? Bislang hatte die Antwort immer geheißen: dem Staat.
Diese Position wurde nun in Frage gestellt, am prominentesten von dem britischen Politikwissenschaftler HAROLD LASKI (1893–1950), der in den 1920-er Jahren an der London School of Economics unterrichtete. Er vertrat die These von den gleichberechtigten Gruppen und sah den Staat wie einen Zweckverband, der sich von anderen nur durch seine generelle Ordnungsfunktion und die Zwangsmitgliedschaft aller auf einem bestimmten Territorium lebenden Menschen unterscheidet, nicht aber durch sein moralisches Wesen. Damit ist das Dilemma aber auch benannt, und zwar das Problem der Souveränität, der höchsten Gewalt oder Oberherrschaft in Angelegenheiten der Innenpolitik. Bislang war die Souveränität der Regierenden von Gott abgeleitet, durch Erbrecht bestimmt oder durch Akklamation Weniger zustande gekommen. LASKI definiert sie jetzt neu. Nach seiner Theorie bedeutet Souveränität nichts anderes als die Fähigkeit, sich Zustimmung zu verschaffen. Der Staat ist also nur dann, nur so weit und nur so lange souverän, wie es ihm gelingt, diese Zustimmung freiwillig oder aufgrund erfolgreich angewandter Zwangsmittel zu erwirken. Was die Treuepflicht des Menschen betrifft, so genießt der Staat keinen Vorrang. Die Treuepflicht besteht gegenüber allen Gruppen, denen ein Mensch angehört. Wenn der Staat sich z. B. unmoralisch verhält, kann er die Treuepflicht verwirken.
Diese Position konnte in ihrer Radikalität nicht aufrechterhalten bleiben. Sie hatte eine wesentliche Schwäche: Der Staat muss eine unteilbare und niemandem verantwortliche Souveränität fordern, weil es keinen anderen Weg gibt, die rechtlichen Forderungen der Gesellschaft abzugrenzen und zu kontrollieren.
Der Politikwissenschaftler ERNST FRAENKEL (1844–1921), der aus dem amerikanischen Exil in den 1940er Nachkriegsjahren nach Berlin zurückgekehrte und an der neu gegründeten Freien Universität lehrte, kritisierte die Pluralität der Souveränitäten und die freie Entscheidung des Bürgers über seine Loyalitätspräferenzen. Er führte die bis heute gültige Unterscheidung zwischen einem notwendigen „unstreitigen Sektor“ durch – das ist der Bereich, in dem Konsens über anerkannte Grund- und Menschenrechte sowie fundamentale, rechtsstaatlich gesicherte Verfahrensregeln herrschen muss –, und einem ebenso notwendigen „streitigen Sektor“, wo Dissens herrschen und wo man streiten kann über politische Konflikte. Der unstreitige Sektor enthält die Grundregeln der Auseinandersetzung in einem Staat, er ist ein für alle verpflichtender Minimalkonsens.
Ein neopluralistisches Konzept war FRAENKELS Reaktion auf die Erfahrungen des Totalitarismus. Jede totalitäre Diktatur geht von der Hypothese eines eindeutig bestimmbaren, vorgegebenen Gemeinwohls aus. Von diesem wird angenommen, es könne der Einheitspartei als politisches Aktionsprogramm dienen. Interessenvielfalt gilt in Diktaturen als schädlich oder illegitim. Denn totalitäre Systeme basieren auf einer Identitätstheorie des Politischen. Politische Auseinandersetzungen erübrigen sich, da Regierung und Regierte in ihrem politischen Willen identisch sind. Heterogenität, Anderssein, Individualismus wird von allen Diktaturen als feindlich empfunden. In der Weimarer Republik führte die immense Zersplitterung der politischen Interessen der um Macht streitenden Gruppierungen dazu, dass sie insgesamt zu schwach waren, um Gegner der Demokratie auf dem rechten und linken Parteienspektrum wirksam bekämpfen zu können.
ERNST FRAENKEL, der dem Homogenitätsanspruch des totalitären Nationalsozialismus nicht entsprochen hatte, hatte aus Deutschland emigrieren müssen. Aus seinen Erfahrungen zog er Lehren: Nie mehr sollte durch kompromissunfähige Interessen der demokratische Kern des politischen Systems gefährdet werden können. Der unstreitige Sektor, der Minimalkonsens, das ist in der Bundesrepublik Deutschland die freiheitlich-demokratische Grundordnung, wie sie das Grundgesetz in den Artikeln 1 bis 19 für alle Zeiten und unaufhebbar festschreibt. Politische Entscheidungen sind nur dann legitim, wenn sie sich inhaltlich an den Grund- und Menschenrechten orientieren und rechtsstaatliche Verfahren wahren. Pluralismus befindet sich also immer im Spannungsfeld zwischen Konsens und Konflikt.
Die höchst unterschiedlichen Interessen der Bevölkerung werden in erster Linie von politischen Parteien aufgegriffen, gebündelt und in parlamentarischen Verfahren bei Mehrheiten umgesetzt. So wie sich immer wieder die Bevölkerung verändert und neue Gruppen mit neuen Interessen und Anliegen sich bilden, so entstehen auch immer wieder neue Parteien und mischen im politischen Geschehen mit. Zuletzt war das im September 2011 in Berlin der Fall, als sich die 2006 gegründete „Piratenpartei“ erstmals mit dem noch jungen Themengebiet der elektronischen Medien in der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus platzieren konnte. Neben den Parteien sind es politische Vereine und Verbände, die als Interessenvertretungen auftreten. Im Jahr 2009 verfolgten Menschen in der Bundesrepublik Deutschland in mehr als 5 000 Verbänden politische Interessen; über 2.000 davon stehen beim Präsidenten des Deutschen Bundestages als Spitzenverbände mit bundespolitischen Interessen auf der parlamentarischen Lobbyliste.
Wie schon zu LASKIS Zeiten, so gilt auch heute, dass Interessenvertretung ungleich gewichtig stattfindet; schlecht organisierte Gruppen haben schlechte Durchsetzungschancen ihrer Interessen, z. B. Alleinerziehende, Kinder oder sozial Schwache. Eine pluralistische Demokratie bedarf des aktiven Bürgers, wenn sie denn einigermaßen gerecht funktionieren soll. Und dieser Bürger, darauf deutet die enorme Zunahme von Demonstrationen, Bürgerbegehren, Protestaktionen und anderen Formen der politischen Partizipation hin, ist in neuester Zeit auf dem Vormarsch.
Literaturempfehlungen:
Thomas Leif, angepasst & ausgebrannt. Die Parteien in der Nachwuchsfalle. Warum Deutschland der Stillstand droht, München 2010;
Ernst Fraenkel, Reformismus und Pluralismus, Hamburg 1973
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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