- Lexikon
- Musik
- 1 Musik als Kunst, Bildung und Wissenschaft
- 1.3 Musikalische Analysen
- 1.3.5 Modellanalyse Neue Musik
- Modellanalyse Neue Musik
Werke der Neuen Musik folgen in den grenzenlos gewordenen Möglichkeiten der Klanggestaltung jeweils ihren eigenen, vom Komponisten vorgegebenen Gesetzmäßigkeiten. Das Werk von NONO steht für die Orientierung an einem künstlerisch wie politisch universal verstandenen Konzept der Avantgarde. Ein bis heute gültiges und ergreifendes Schlüsselwerk ist seine Canto sospeso („unterbrochener“, aber auch „aufgehobener“ Gesang). Nono verarbeitete Abschiedsbriefe von zum Tode verurteilten Widerstandskämpfern aus ganz Europa, unter ihnen zahlreiche Jugendliche.
Das Stück ist reihentechnisch strukturiert. Ausgangspunkt der Tonhöhenorganisation ist eine zwölftönige, recht schematische Allintervallreihe. Die Reihe enthält alle Intervalle von der kleinen Sekunde bis zur großen None:
Es ergibt sich also das Bild einer Zickzack-Bewegung.
Diese Reihe, die zwei gegenläufige chromatische Tonleiterausschnitte umfasst, verwendete NONO seit den Incontri (1955) – oft ohne die vier klassischen Formen Grundgestalt, Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung. Oktavverlagerungen, Änderungen der rhythmischen Struktur und der Lautstärke, Verteilung auf die Vokal- und Instrumentalstimmen und differenzierte Instrumentation geben genügend Vielfalt. NONO ging unschematisch vor.
In der konkreten Melodiebildung veränderte er u. a. nach Ausdrucksbedürfnissen die Abfolge und Richtung der intervalle. Bei einer Stelle im Tenor (b Notenbeispiel Solo tenore) ist z. B. die Zickzack-Bewegung ansatzweise gewahrt, die Intervallfolge aber variiert:
– 4 + – 5 +9 +7– 1 +3 – 6 – 5 +6 (+ bedeutet aufwäts, – abwärts).
Eine Harfenstelle (Notenbeispiel Arpa) streckt die Zickzacklinie der Reihe in eine Aufwärtsbewegung (+5 +6 +7). Nach serieller Manier hat hier jeder Ton eine eigene Lautstärke; die Dauernwerte sind allerdings gleich.
Arpa:
Die Parameter bzw. Dimensionen Dauer und Lautstärke sind nur ansatzweise seriell organisiert. Ausdruck und Gehalt des Tonsatzes intensivierte NONO durch zahlensemantische Operationen. Er verwendete dafür vor allem die Fibonacci-Reihe (1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34 usw. – die Regel lässt sich aus dieser Abfolge leicht abstrahieren) und gematrische Zuordnungen (Buchstaben-Zahlen-Zuordnungen, wie A = 1, B = 2 usw.).
Damit brachte NONO neben Renaissance-Komponisten wie JOHANNES OCKEGHEM (um 1425 –1496), dessen Schaffen er im Studium intensiv analysiert hatte, auch seinen eigenen Namen in den Gesamttext ein. NONO verwendete das deutsche Alphabet mit der Trennung von I und J:
Im V. Satz seiner Kantate laufen drei voneinander unabhängige Reihen der Tonhöhen und ihre Permutationen ab, also Veränderungen der Abfolge. 1–12 ist die Grundgestalt, 12 –1 der Krebs. (Der Krebs ist eine strenge Form der Permutation.) 12 9 4 1 usw. sind freiere Permutationen. Die einzelnen Reihenabläufe werden durch ihre Zuordnung zu einem bestimmten Rhythmus definiert. Die drei Stimmen können anhand des Rhythmus verfolgt werden. In jeder Stimme gibt es zehn Durchläufe der Reihe bzw. von deren Permutationen.
NONO teilte die zwölf Töne also jeweils in drei Gruppen zu je vier Tönen auf. Innerhalb dieser Gruppen ergeben die Zahlen in allen Fällen eine Summe von 26. Ordnet man diese Zahlen dem Alphabet zu, erhält man aus der Summe 26 die Zahlen 12 und 14. Das sind die Initialen L N für LUIGI NONO.
Wesentlich für NONOS Zahlensemantik sind in der Nr. V der Kantate die Zahlen fünf und zwei. Den Ausgangspunkt dafür bildete ein nicht direkt als vokaler Text vertonter Satz in einem Brief, der von dem 14-jährigen polnischen Bauernsohn CHAIM geschrieben wurde:
„Vorgestern sind zwei Buben ausgebrochen, da hat man uns in eine Reihe gestellt, und jeder Fünfte der Reihe wurde erschossen.“
NONO konstruierte damit ein eindrucksvolles Beziehungsnetz. Er legte diesen Brief der Nr. V des Canto bewusst zugrunde. Ansonsten folgte die Reihung der Briefe innerhalb des gesamten Textes keiner zwingenden dramaturgischen Logik.
Für die Lautstärkewerte liegt kein serielles Prinzip vor. NONO arbeitete lediglich mit fünf verschiedenen Lautstärkewerten (ppp, p, mp, mf, f).
Die Reihen der Haupt- und zwei Nebenstimmen treten in zehn (zwei mal fünf) Durchläufen in Erscheinung. Hier übernimmt die ebenfalls im Text des Briefes auftretende Zahl 2 eine semantische Funktion. Nummeriert man die Glieder der Fibonaccireihe durch, so ist der erste Fünfte dieser Reihe die Zahl 5 und der nächste Fünfte die Zahl 34. Die Hauptstimme ist an einen Sechzehntelquintolenrhythmus gebunden, und der Satz zählt insgesamt 34 Takte. Nach der gematrischen Zählweise ergibt der Name CHAIM in der Summe die Zahl 34 (C–3 + H– 8 + A–1 + I –9 + M –13 = 34).
Der Tonsatz ist in allen Sätzen aufgefasert. Das ist eine neue Art „durchbrochener Arbeit“, wie sie JOSEPH HAYDN in den 1770er-Jahren für den orchestralen Satz entwickelt hatte. Die unmittelbare Wortverständlichkeit hatte NONO auf diese Weise aufgehoben. Die Schlüsselwörter treten dabei meist deutlich hervor.
Die Canto sospeso als frühes avantgardistisches Werk provozierte einige Diskussionen. Viele folgten der Einschätzung KARLHEINZ STOCHAUSENS, dass der Komponist
„ganz bewusst bestimmten Textstellen die Bedeutung ,ausgetrieben’“
habe durch die dichte musikalsische Form, wodurch kein Textverständnis mehr möglich ist.
HELMUT LACHENMANN, ein Schüler NONOS, erklärte 1960 dessen Absicht genauer:
„Das Prinzip der Textzerlegung … hat dem Text seine Bedeutung nicht ausgetrieben, sondern hat den Text als phonetisch-semantisches Gebilde zum musikalischen Ausdruck gemacht.“
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