Streichquartett

Das Streichquartett ist die führende Gattung innerhalb der Kammermusik. Es ist ein Spezialfall des Quartetts, dem aus vier Instrumenten bestehendem Ensemble, und wird besetzt mit:

  • 1. und 2. Violine,
  • Viola und
  • Violoncello.

Zur Entwicklung der Gattung

Ein erster Ausgangspunkt des Streichquartetts ist die Triosonate für zwei Soloinstrumente und Generalbass. Der besonders von ARCANGELO CORELLI (1653–1713) ab 1681 ausgebildete Typus der Triosonate behielt bis zum Ausgang der Generalbasszeit um 1750 seine zentrale Stellung.

Ein zweiter Ausgangspunkt ist die Sammelgattung „Divertimento“ (ital. = Vergnügen, Unterhaltung). Das Divertimento diente zwischen 1681 und etwa 1760 einer gehobenen aristokratisch-höfischen oder bürgerlichen musikalischen Unterhaltung und schließt Gattungen wie die Serenade (wörtlich: „Abendmusik“) ein. Die Ensemblebesetzungen sind sehr variabel. Die Form folgt dem lockeren Suitenprinzip oder dem fester gefügten Sonatenprinzip.

Die unmittelbare Vorgeschichte des Streichquartetts ist die Zeit zwischen 1720 und 1760. Zahlreiche Anregungen, Einflüsse und Gattungsvarianten kommen hier zusammen, die über das vier- oder fünfsätzige österreichisch-süddeutsche Quartettdivertimento bei JOSEPH HAYDN (1732–1890) direkt in das Streichquartett einmünden.

Standard- und zugleich normativer Typ wird mit JOSEPH HAYDN seit den 1760er-Jahren und der Wiener Klassik um 1781 das vierstimmige Streichquartett. Interessant dabei ist, dass schon seit dem 16. Jh. Vierstimmigkeit in der Vokalpolyphonie als Inbegriff satztechnischer Vollkommenheit galt. Gegenüber der Vielfarbigkeit des Divertimento- und Serenaden-Typus konzentriert sich das Streichquartett auf farbliche Homogenität zugunsten satztechnischer Subtilität.

Schrittweise erarbeitete HAYDN im Streichquartett einen Fundus an Satztechniken, der auch auf andere Gattungen übertragen und für die Wiener Klassik grundlegend wurde. Seine ersten zwölf Streichquartette komponierte er vor 1759 für höfische Kammermusikabende. Ihre Fünfsätzigkeit (je ein Menuett an zweiter und vierter Stelle), ihr heiterer Tonfall und ihre Heterogenität zeigen noch die Nähe zum Divertimento. In den Werken op. 9 (spätestens 1770), op. 17 (1771) und op. 20 (1772) bildete HAYDN

  • die Viersätzigkeit,
  • die zyklische Form mit ausgeprägten Satzcharakteren,
  • die Sonatensatzform des Kopfsatzes und
  • das Prinzip der thematischen Arbeit heraus.

Die nach seiner eigene Einschätzung ganz neue und besondere Art der sechs großen „Russischen Streichquartette“ op. 33 (1781) ist im Wesentlichen in der Durchdringung des ganzen Satzes mit thematischer Arbeit und der Ausgeglichenheit zwischen den Satzcharakteren begründet.

HAYDN bringt polare Gegensätzlichkeiten der Stimmführung und der Stimmbehandlung (konzertierend, begleitend, Klang füllend; „polyphon“ oder „homophon“; als reale Stimmen oder im „obligaten Akkompagnement“ bzw. in durchbrochener Arbeit – der thematische Leitfaden wandert durch alle Stimmen) in eine ständige Wechselwirkung. Das Prinzip des „obligaten Akkompagnements“ wurde bis in die radikal Neue Musik des 20. Jh. hinein eine verbindliche satztechnische Norm.

In den Jahrzehnten nach 1761 entstanden auch in Paris zahlreiche Streichquartette. Hier überwiegt die Tendenz zu bevorzugter, oft virtuoser Behandlung der 1. Violine. Daraus entstand die Sonderform des Quatuor brillant („brillantes Quartett“). Im Unterschied dazu hießen Streichquartette mit vier gleichberechtigten oder abwechselnd solistisch-konzertierend hervortretenden Stimmen Quatuor concertant oder Quatuor dialogué („konzertantes“ oder „dialogisches“ Quartett). Die Komponisten der Mannheimer Schule widmeten sich vor allem dem Quartett mit konzertierender Bläserstimme (z.B. Flöte mit 3 Streichern).

Bei WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756–1791) wird das Vorbild HAYDNS erstmals 1773 deutlich. Doch erst die Begegnung mit dem 1781 veröffentlichten op. 33 veranlasste MOZART zu seinen „klassischen“, HAYDN gewidmeten, sechs Streichquartetten (KV 387, 421, 428, 458, 464 und 465).

LUDWIG VAN BEETHOVEN (1770–1827) eroberte dem Streichquartett sogleich (mit seinem op. 18) und in jedem seiner späteren Streichquartette (op. 59, 74 und 95) neue Ausdrucksbereiche. Seine zerklüfteten späten Streichquartette (op. 127, 130–133 und 135) heben in der Verschränkung von altem und modernem Stil, von Sonaten- und Fugenprinzip die klassischen Gehalte und Gestaltungen in einer letzten, bis weit ins 20. Jh. nachwirkenden Prägung auf.

Weiterentwicklungen des Streichquartetts im 19. und 20. Jh.

Im 19. Jh. wirkten zunächst vor allem die Vorbilder HAYDNS und MOZARTs sowie des französischen Quatuor brillant fort. Von FRANZ SCHUBERTs (1797–1828) 15 vollständig erhaltenen Streichquartetten gehören vor allem drei 1824–1826 entstandene Werke (a-Moll op. 29 D 804; d-Moll, „Der Tod und das Mädchen“, D 810; G-Dur op. 161 D 887) zum festen Repertoire der Streichquartett-Ensembles.

Die österreichisch-deutsche Traditionslinie setzten u.a. ROBERT SCHUMANN (1810–1856) und JOHANNES BRAHMS (1833–1897) fort. Ausprägungen eines nationalen Idioms im Streichquartett zeigen sich vor allem in den Werken der russischen und der tschechisch-böhmischen Schule seit den 1870er-Jahren. Die französischen Komponisten dieser Zeit schrieben meist nur je ein Streichquartett.

Auch im 20. Jh. behielt das Streichquartett seinen traditionellen Rang. Mehrfach mit dem Streichquartett befasste sich CHARLES E. IVES (1874–1954). Nicht zuletzt das altehrwürdige Streichquartett wird in der Schönberg-Schule – der 2. Wiener Schule – ein Medium des Durchbruchs zur neuen Welt der nicht mehr tonartgebundenen Atonalität.

ARNOLD SCHÖNBERG (1874–1951) vollzog den Übergang zur Atonalität 1907/1908 u.a. im 2. Streichquartett fis-moll mit Gesang (III. Litanei, IV. Entrückung, nach STEFAN GEORGE, 1907/1908).

ANTON WEBERN (1883–1945) umging zunächst die ausdrückliche Bezeichnung „Streichquartett“ mit seinen ebenfalls atonalen 5 Sätzen für Streichquartett op. 5 (1909, Fassung für Streichorchester 1929) und den extrem miniaturisierten sechs Bagatellen für Streichquartett op. 9 (1913), bis dann im Spätwerk das zwölftönig strukturierte Streichquartett op. 28 (1937–1938) folgte.

ALBAN BERG (1885–1935) schrieb als Gesellenstück das Streichquartett op. 3 (1909/1910, umgearbeitet 1924).

BÉLA BARTÓK (1881–1945) komponierte sechs groß angelegte, besonders an den späten BEETHOVEN anknüpfende Streichquartette (1908, 1917, 1927, 1928, 1934, 1939). Er erweiterte auch das Klangfarbenspektrum, etwa durch das „Bartók-Pizzicato“, das Anzupfen der Saite mit der linken Griffhand statt, wie üblich, mit der rechten Bogenhand.

Bei DMITRIJ SCHOSTAKOWITSCH (1906–1975) verteilen sich die 15 Quartette über alle Schaffensphasen und zeigen sehr unterschiedliche Schreibweisen und persönliche Lösungen, in der Regel mit programmatischer Orientierung wie etwa dem Protest gegen Krieg und Faschismus und der Einbeziehung von SCHOSTAKOWITSCHs Namens-Chiffre D-Es-C-H.

KARL AMADEUS HARTMANN (1905–1963) verwendete in seinem 1. Streichquartett (1933) jüdische Liedmelodien und Intonationen als thematische Substanz und komponierte so ebenfalls gegen den faschistischen Antisemitismus an.

In der betont avantgardistischen Musik nach 1945 tritt das Streichquartett gegenüber variablen Besetzungen zwar quantitativ zurück. Doch es behält seinen Platz im Komponieren und seinen ästhetisch hohen Rang. PIERRE BOULEZ (1925-2016) lieferte mit seinem „Livre pour quatuor“ (1948/1949) ein erstes Beispiel seriellen Komponierens. Die dann in der Avantgarde üblichen Verfahren wie

  • Aleatorik (Einbeziehung des Zufalls),
  • Klangkomposition oder
  • Verweigerung des Wohlklangs und des traditionellen Streichquartett-Klangs

finden sich in der Folgezeit.

Einen Meilenstein der jüngeren Quartettkompositionen setzte LUIGI NONOs (1924–1990) mit „Fragmente-Stille-An Diotima“ (1979/1980): seine immer wieder abbrechenden Formulierungen stehen an der Grenze des Verstummens; zwischen dem Notentext finden sich Fragmente von Gedichten FRIEDRICH HÖLDERLINs, die aber von den Spielern nur innerlich „gesungen“ werden sollen. Einbeziehung von Lyrik als Dichtungskommentare durch Wechsel des Standorts auf dem Podium oder öffentlicher Vortrag der zum Streichquartett dazugehörenden Texte durch eine Sprechstimme sind andere Varianten des programmatisch unterfütterten Komponierens für das Streichquartett um diese Zeit.

Klangliche Verfremdung setzte GEORGE CRUMB (* 1929) in dem finsteren, Krieg und Naturzerstörung kritisierenden „Black Angels“ (Images I) – für elektrisch transformiertes Streichquartett (1970) – als zusätzlichen Bedeutungsträger ein.

Exponenten der satz- und spieltechnischen Komplexität fast um ihrer selbst willen sind u.a. die vier Quartette BRIAN FERNEYHOUGHs (* 1943) in den 1970er- und 1980er-Jahren. Seit 1976 gab es Versuche, die nachklassisch-romantische Gattung des Doppelquartetts aufzugreifen.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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