- Lexikon
- Musik
- 5 Gattungsgeschichte
- 5.1 Vokalmusik
- 5.1.5 Passion, Oratorium, Kantate
- Entwicklung der Kantate im Überblick
Die Kantate ist eine weit gefächerte Gattung mit einem historischen Spektrum zwischen
zwischen weltlicher und geistlicher Funktion. Sie entsteht im Umfeld der frühen europäischen (italienischen) Oper aus der Monodie (Sologesang mit Generalbassbegleitung, u.a. GIULIO CACCINI, um 1545–1618; JACOPO [IACOPO] PERI, 1561–1633).
Die Bezeichnung ist erstmals belegt bei ALESSANDRO GRANDI (etwa 1577–1630): „Cantade et Arie a voce sola“, 4 Bücher ab 1620), als ausgedehnteres mehrteiliges Sologesangstück mit Generalbass.
Die „Cantata“ besteht aus einer Folge von fünf bis neun durchkomponierten Strophen eines madrigalischen, d.h. freien Textes über gleichbleibendem Bass. Im Unterschied dazu werden bei der gleichfalls strophischen Aria (Arie) alle Strophen auf die gleiche Musik gesungen. Die Bezeichnung „Cantata“ („Singstück“) wurde wohl in Analogie zu der schon früher bekannten „Sonata“ („Klingstück“) gebildet.
Die Kantate ist im Unterschied zum Oratorium nicht von Anfang an ein größerformatiges zyklisches Werk. Im 17. und bis zur Mitte des 18. Jh. ist die Cantata als Kammermusik die wichtigste Gattung des italienischen weltlichen Sologesangs. Im 17. Jh. gehörte die Kantate als „Cantata da camera“ zur Kammermusik. Selbst wenn sie einen geistlichen Text hat, ist die italienische Cantata keine Kirchenmusik, sondern geistliche Kammermusik zur eher privaten Erbauung. Geistliche Sologesänge mit lateinischem Text trugen stets die Bezeichnung „Concerti ecclesiastici“ oder „Motetti a voce sola“ („für Solo-Singstimme“).
Nach 1630 bildet sich die auch für die Oper maßgeblich werdende Scheidung von Rezitativ und Arie heraus. Entscheidende textliche Voraussetzung hierfür war der Wechsel von Erzählung und Betrachtung. Dieser Wechsel und die episch-lyrische Grundhaltung (im Unterschied zur dramatisch-epischen beim Oratorium) blieben für die gattungsspezifische Textgestaltung wie Komposition der Kantate bis ins 18. Jh. bestimmend.
Bei GIACOMO CARISSIMI (1605–1674) und anderen ist nach 1650 die Cantata meist nicht mehr strophisch, sondern mehrsätzig durch die Aneinanderreihung einzelner Da-capo-Arien mit vorangehendem Rezitativ; instrumentale Ritornelle schaffen Einheit. Die „Cantata con stromenti“ – d.h. mit orchestraler oder solistisch konzertierender Instrumentalbegleitung – wird dann in der Neapolitanischen Schule der Opernszene angenähert und mündet schließlich in die Konzertarie ein.
Auf anderer Textbasis gleicht sich auch die evangelische Kirchenkantate strukturell, musiksprachlich und stilistisch dem Opernmodell und sogar dem Opernidiom an. Der Text-Typus der „neueren Kirchenkantate“ wurde von dem Theologen ERDMANN NEUMEISTER (1761–1756) geschaffen. NEUMEISTER führte die aus der Oper stammenden Satztypen Rezitativ und Dacapo-Arie in die Kirchenkantate ein. Die Einführung des Rezitativs durch NEUMEISTER verdankt sich dichterisch-poetologischen wie theologischen Erwägungen. Einerseits konnte in der Kombination Rezitativ – Arie das subjektiv-religiöse Empfinden stärker hervortreten, andererseits bot das Rezitativ durch prosaartige Ungebundenheit der Sprache mehr Raum für theologische Erörterung als die Odenstrophe.
NEUMEISTERs „Geistliche Cantaten statt einer Kirchen-Music“ (1704) waren geistliche Dichtungen in madrigalischen, d.h. freien Versen (ohne Strophenbindung). NEUMEISTER bestimmt im Vorwort „Kantate“ als eine Folge von Rezitativen und Arien und nennt ausdrücklich als musikalisch-formales Vorbild die Oper; so auch die Da-capo-Form für die Arien. Die Aufgabe der Kantate im Gottesdienst war die einer Predigtmusik; sie wurde unmittelbar vor der Predigt aufgeführt oder rahmte diese ein. Eines ihrer wesentlichen Merkmale bestand in der Vielfalt der möglichen Textzusammenstellungen aus Bibelwort und Choral. Diese Vielfalt der Texte fand ihr Gegenstück in der Fülle der musikalischen Gestaltungsmöglichkeiten. Vor allem JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750) griff diese Neuerung für seine groß angelegten Kantatenzyklen für den Kreislauf des Kirchenjahrs auf. Oft wurde ihm denn auch die Theatralisierung der Kirchenmusik, die Vermischung von „Kirchen-“ und „Theater“-Stil vorgeworfen.
NEUMEISTERS erste Kantatentexte für alle Sonn- und Festtage des Jahres wurden bald vollständig vertont. Die Neuerung breitete sich rasch aus, allerdings setzte sofort ein Prozess der Verschmelzung mit den herkömmlichen Textgrundlagen der Kirchenmusik ein: Schon für den 2. Jahrgang seiner Kantatentexte (1708) dichtete NEUMEISTER Eingangsverse für Chor- bzw. Tuttibesetzung; im 3. und 4. Jahrgang (1711 und 1714, komponiert von GEORG PHILIPP TELEMANN, 1681–1767), fügte er die herkömmlichen Bibelworte und Choralstrophen ein. (Andernorts wurden umgekehrt auch ältere Texte durch Einfügung von Rezitativen modernisiert.)
BACH nutzt die strukturellen Gestaltungsspielräume, die der Text bietet, voll aus. Fast alle der 200 überlieferten Kantaten von BACH enthalten Rezitative und schließen mit einer vom Chor bzw. Tutti ausgeführten Choralstrophe. Eröffnet werden sie zumeist gemäß der Tradition des geistlichen Konzerts mit großen, orchesterbegleiteten Chorsätzen. In der 2. Hälfte des 18. Jh. verstärkte sich die Kritik gegen die Kantaten-Dichtung und den „unkirchlichen“, opernhaften Charakter der Musik. So wurde seit dem frühen 19. Jh. die Kantate im Gottesdienst von dem einfachen Choralgesang verdrängt.
In Frankreich galt im 17. und frühen 18. Jh. die Kantate primär als Dichtungsgattung. Üblich war eine sehr kleinformatige Zwei-Arien-Form. Die letzte Arie enthielt die Moral der Geschichte. Diese Ausprägung der Kantate erlebte nur eine kurze Blütezeit 1715–1725. Auch die italienische Cantata hatte im 18. Jh. nur eine bescheidene Nachblüte in Form höfischer Glückwunsch- und Gelegenheitskompositionen (auch „Serenata“ genannt; wichtigster Dichter war der Librettist PIETRO METASTASIO, 1698–1782).
Die weltliche Kantate bürgerte sich in Deutschland im 17. Jh. mangels geeigneter deutschsprachiger Texte nicht ein. Wie bei der geistlichen Kantate seit etwa 1700 entwickelte sich aber im Gefolge der Oper die weltliche Kantate auf deutsche Texte, vor allem in Hamburg (z.B. REINHARD KEISER, 1674–1739: Kantaten-Sammlung „Gemüthsergötzung“, 1698). Eine kontinuierliche Tradition führt von hier – z.T. in Wechselwirkung mit Passion und Oratorium – zur Konzertkantate des 19. und 20. Jh.
An strukturellen Gattungsmerkmalen der Kantate ändert sich seit den Text-Innovationen NEUMEISTERs kurz nach 1700 und der daran anschließenden Theatralisierung ähnlich wie beim Oratorium nichts Grundsätzliches mehr. Das Secco-Rezitativ verschwindet allerdings noch rascher als in der Oper. Das thematische Schwergewicht verschiebt sich durch den Zerfall der protestantischen Kirchenmusik im Zeitalter der Aufklärung jedenfalls bei anspruchsvoller Musik ins Weltliche. Die reiche Produktion zeigt ein großes thematisches und stilistisches Spektrum.
Die mit der Händel-Verehrung und dem Erfolg der Oratorien JOSEPH HAYDNs (1732–1809) aufgekommene Vorliebe für größere Vokalwerke hatte auch eine umfangreiche Kantaten-Produktion zur Folge. Seit Anfang des 19. Jh. werden größere Vokalwerke für Sologesang, Chor und Instrumente als Kantate bezeichnet (Konzertkantate). Diese grenzt sich nun gegen das Oratorium eher durch Text, Gestus und Haltung als musikalisch-satztechnisch und in der zyklischen Ausprägung ab. Der Tendenz nach hat überdies die Kantate ein eher kleineres Format, in Besetzungsaufwand wie Dauer.
Auch im 20. Jh. bleibt die Kantate kompositorisch ergiebig. Vertont wurden gern gegenwartsnahe, auf politische und militärische Ereignisse bezogene Texte wie z.B. CARL MARIA VON WEBERs (1786–1826) „Kampf und Sieg“ (1815): „erglüht und erfüllt von den großen Weltereignissen der letzten Zeit“ (so WEBER) feierte die Kantate den Sieg über den nach Frankreich zurückgekehrten NAPOLÉON BONAPARTE (1769–1821) bei Waterloo. Nachgeborene sollten mit dieser „Kantate zur Feier der Vernichtung des Feindes im Juni 1815 bei Belle-Alliance und Waterloo“ dieses dramatische Geschehen „in gedrängtem Überblicke“ noch einmal durchleben.
Andere Stoffbereiche für die Kantate waren
Die weltliche Kantate bleibt (mit stofflichen Auffächerungen als Chorballade, Chorode, Legende, lyrische Szene, Mysterium u.a.m.) – wie das Oratorium – im 19. und 20. Jh. eine kompositorisch vielgestaltige und produktive Gattung. Im 20. Jh. entstand – neben spätromantischen Ausläufern – im Gefolge der musikalischen Jugendbewegung als Zweig der „Gebrauchsmusik“ die für das „Gemeinschaftsmusizieren“ bestimmte, aufführungstechnisch anspruchslose Kantate.
Kompositorisch von höherem Gewicht und historisch haltbarer wurden Kantaten im Kontext der neuen Musik. Die Gattungskonturen sind dabei nicht immer sehr scharf ausgeprägt, besonders die Abgrenzung gegen das Oratorium ist oft schwierig. Fließend sind auch die Grenzen zum Kammermusiklied. HANNS EISLER (1898–1962) schrieb im dänischen Exil 1937 eine ganze Gruppe von mehreren solchen „Kantaten“, die heute noch aktuell wirken: u.a. (auf Texte des italienischen Romanciers IGNAZIO SILONE, 1900–1978): Die römische Kantate, Kriegskantate, Die Weißbrot-Kantate (alle extrem sparsam besetzt für Gesang, 2 Klarinetten, Viola und Violoncello).
Viele Komponisten griffen auf den Typus der mit Chor und Orchester größer besetzten Kantate zurück, u.a.:
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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