Das neue Lebensgefühl

Nie zuvor gab es eine vergleichbare Politisierung der Öffentlichkeit.
Leben in der Großstadt bedeutete viele Menschen auf einem Raum. Sie bewegten sich durch den Arbeitsrhythmus zu bestimmten Zeiten in Strömen durch die Stadt. Arbeiten im Takt des Fließbandes wurde für viele Alltag. Technik und Wirtschaft gingen ihren Weg, ohne sich um die individuellen Erlebnisse und Stimmungen zu kümmern. Es ist die Zeit der Massenmedien.

  • Zeitungen mit großer Auflage,
  • viele neue Zeitschriften,
  • das Radio,
  • die Schallplatte,
  • das Kino für alle und
  • der Tonfilm

entwickelten sich. Das nach der Zeit von Krieg und Krise aufgestaute Lebens- und Unterhaltungsbedürfnis bricht sich überall massenhaft Bahn.

Am 15. Juli 1920 entstand Groß-Berlin als Verwaltungseinheit. Orte wie Rudow und Lichtenberg wurden eingemeindet und gehörten nun zu Berlin.

Der Kulturmarkt wurde international und kommerziell. Es ist die Zeit des Charleston, Foxtrott und Jazz. Hollywood wurde auch in Europa ein Begriff.
Sportwettkämpfe wie das 6-Tage-Rennen oder Boxveranstaltungen waren riesige Spektakel vor großem Publikum.
Die Helden und Stars dieser Zeit waren

  • Luftschiffkonstrukteure,
  • Pol-Entdecker,
  • Autorennfahrer,
  • 6-Tage-Champions,
  • Boxsportler,
  • Künstler wie CHARLIE CHAPLIN und GRETA GARBO,
  • Hochstapler und Ganoven.

Durch die Elektrifizierung und Mechanisierung der Großstadt veränderte sich das Zeitgefühl seiner Bewohner erheblich. Dies ging einher mit einer bisher nicht gekannten Wahrnehmung des Alltags. Mit dem neuen Lebensgefühl veränderte sich auch die Sprache im Alltag.
Die neusachliche Literatur beobachtete das Verhalten des Einzelnen in der Masse und seiner Zwänge, denen er ausgesetzt war und in denen er sich bewegen musste. Sie machte Verhaltensgebote.

Die ästhetische Frage der Neuen Sachlichkeit: ihr Kunstcharakter

MAX BROD bezeichnete in seinem Aufsatz „Die Frau und die neue Sachlichkeit“ Sachlickeit als „oberstes Postulat der Zeit“, also als oberste Forderung. Und er erklärte, dass es „letzten Endes sogar“ eine Gutheißung des vergangenen Krieges bedeute, wenn mit Sachlickeit „Amerikanisierung, Ausschaltung des Herzens, des Problems, der Liebe gemeint“ sei (vgl. ebenda).

MAX BROD 1929 über die Neue Sachlichkeit:

„... Die neueste Literatur bekommt mehr und mehr einen harten und männlichen Zug. [...] Von Liebe darf weder geredet noch gesungen werden. Das verträgt sich nicht mit der ‚Sachlichkeit‘“.
(In: Friedrich M. Huebner: Die Frau von Morgen wie wir sie wünschen. Leipzig: Seemann Verlag, 1929, S. 40)

Ist das eigentlich Dichtung?” – lautete eine der zentralen Streitfragen.

Inwieweit

„kann sich dichterisches Sprechen als Ausdruck neuer Sachlichkeit in seiner umformenden Eigenfunktion behaupten ... Ist es nicht vielmehr ... eben Berichterstattung, bestenfalls sprachlich starke Berichterstattung? Hat Dichtung nicht gerade die Sachlichkeiten in eine eigengesetzliche ästhetische Wirklichkeit zu verwandeln? Und errichtet nicht die neue Sachlichkeit eine unübersteigliche Mauer gegen alle selbstgenugsame (sic) Schönheit?“

(Hermann Pongs).


Auch wenn 1928 eine kritische Revision neusachlicher Forderungen einsetzte, folgten nur wenige Autoren der Forderung JOSEPH ROTHs (1894–1939): „Schluß mit der Neuen Sachlichkeit“ (1930).

JOSEPH ROTH: Schluß mit der „Neuen Sachlichkeit“!
 „Der berechtigte Ruf nach dem Dokumentarischen hatte einen pädagogischen Nebenzweck: Er war ein Wink an die Schreibenden, sich in ihrer Gegenwart umzusehen.
Erst da sie, die Berufenen, es nicht taten (oder selten taten), begann das simple Zeugnis der Unberufenen und Zufälligen zu grassieren. […] Und in der Verwirrung […] beginnt die Verwechslung der anständigen Gesinnung mit der Flachheit. [...] Ja, selbst der Dilettant ohne Gesinnung beginnt, eine vorzutäuschen, und noch die erlogene Anständigkeit ist mächtig genug, ihn zu schützen. […]Die „Sachlichkeit“ beginnt, die „Zweckmäßigkeit“ zu ersetzen und zu verdrängen. […] Sagte man noch vor zehn Jahren etwa: Häßlich ist, was zwecklos ist; so sagt man heute: Häßlich ist, was un­sachlich ist. Indem man statt des präzisen „zwecklos“ ein vages „unsachlich“ setzte, verwandelte man Sinn in Unsinn. [… ] Hören wir auf! Brechen wir ab! Seit einer halben Stunde liest man uns mit dem bittersten aller Vorwürfe: wir seien „unsachlich“ geworden! ...“

(Roth, Joseph: Schluß mit der "Neuen Sachlichkeit"! In: Die Literarische Welt, 6 (1930), Nr. 3, S. 3 ff., siehe PDF)

Die einsetzende Revision war weniger Absage als Weiterentwicklung. In ihrer Tradition stehen u. a. Werke des magischen Realismus und des Neorealismus in den Vierziger- und Fünfziger-Jahren des 20. Jahrhunderts.

Ende der Neuen Sachlichkeit

Mit dem Ende der Weimarer Republik kam auch das Ende der Neuen Sachlichkeit als dominante kulturelle und literarische Strömung.
Wie auch immer das Fazit der Zeitgenossen ausfiel, letztlich gingen von der Neuen Sachlichkeit wichtige Impulse für das gesamte kulturelle Leben aus. Sie wurde

  • Ausdruck eines Lebensgefühls bestimmter städtischer Bevölkerungsgruppen und
  • sie hatte entscheidend dazu beigetragen, Kunst und Kultur ihrer geheimnisvollen Aura zu berauben und für ein Massenpublikum zu öffnen.

Die Künste hatten in der Auseinandersetzung mit den neuen Medien ihrer Zeit neue Formen entwickelt und deren Wirkungen erprobt, die schnell zum Standard wurden.

Das Ende der Zwanziger- und der Beginn der Dreißigerjahre ist jedoch auch eine der hohen Arbeitslosenzahlen geschuldete von Klassenkämpfen und Straßenschlachten aufgewühlte Zeit. Auch diese Beobachtungen fließen in die Literatur der Neuen Sachlichkeit ein. So entstehen neue Spielarten von Arbeiterliteratur, die an naturalistische Traditionen anschließt oder aber vom Proletkult bzw. vom Surrealismus gespeist wird.

Lasst Tatsachen sprechen!

Lasst Tatsachen sprechen! Unter diesem Motto schrieben Künstler ganz unterschiedlicher, ja zum Teil gegensätzlicher – nicht selten zur Radikalität tendierender – politischer Auffassungen und Weltsichten. Dies ist ein Grund dafür, dass diese Strömung sehr umstritten war und ist. Kritik kam vor allem vonseiten der konservativen Literaturkritik, gegen „großstädtische Zivilisationskunst“ und „urbane Asphaltliteratur“, gegen den „Geist von Berlin“ (WILHELM STAPEL).

Diskussionen um die Funktionalität und Ideologiefreiheit von sachlichen Formen, die eine Gleichstellung unterschiedlichster Erfahrungen wie Schlachtfeld und Sommerwiese durch die Verwendung gleicher oder verwandter Stilebenen zu erlauben schienen, gehören zur Geschichte dieses Phänomens.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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