Die irreale Phantastik in den Bildern von HIERONYMUS BOSCH und die dramatisch inszenierten Visionen der Malerei des Manierismus im 16. Jahrhunderts sind als Vorläufer und Wurzeln des Surrealismus zu betrachten, der sich ab 1920 in Paris formierte.
Verbunden durch die Erfahrungen des Dadaismus und angeregt durch die Erkenntnisse von SIGMUND FREUD über die Wirkungen unbewusster, psychischer Prozesse bildete sich eine Gruppe aus Literaten und Künstlern, deren Ziele erstmals von GUILLAUME APOLLINAIRE (eigentlich WILHELM APOLLINARIS DE KOSTROWITZKY, 1880–1918) mit dem Begriff „Surrealismus“ bezeichnet wurden.
Als Vorläufer des Surrealismus gilt die Malerei der italienischen „Pittura Metafisica“ (deutsch: metaphysische Malerei), mit der ab 1917 GIORGIO DE CHIRICO und CARLO CARRA (1881–1966) ihre psychologisch-philosophische Sichtweisen in traditioneller, malerischer Form gestalteten. Sie hatten das Bestreben, „den inneren Sinn, die höhere Wirklichkeit jenseits der Dinge aufzuzeigen“.
Die Beschäftigung mit der Kunst der Antike und der Renaissance bildeten den Fundus ihrer Bildwerke, die vor allem auch durch die Motive der oberitalienischen Stadt Ferrara mit ihren weiten, leeren Plätzen, den Statuen und den monumentalen Mauern beeinflusst sind.
„Die beunruhigenden Musen,“ von DE CHIRICO und die „Metaphysische Muse“ von CARRA (1917) thematisieren die Kultur der Antike in einer erstarrten, wie versteinert wirkenden Verfremdung. Statt in der traditionellen Bewunderung für die Schönheit erscheinen die Musen, die einst die Gedanken beflügelten, nur noch als verlassene, gesichtslose, leere Puppen, die in einem perspektivisch überdehnten Raum wie im Rampenlicht auf einer verlassenen Theaterbühne nur noch vergessene, bewegungslose Requisiten zu sein scheinen. Die magische Isolierung der Dinge erzeugt ein Gefühl von Einsamkeit und rätselhafter Zusammenhanglosigkeit. Mit einer meditativen Hinwendung zur eigenen Innerlichkeit ergibt sich aus der alogischen Zusammenstellung der Dinge die Fragestellung nach einem hinter der Erfahrung und hinter der vordergründigen Anschauung liegenden, tieferen Sinn des Daseins.
Der Grundgedanke, dass sich hinter der sichtbaren Welt eine unsichtbare Welt befindet, die nur in Gedanken erfassbar ist und die von den oft unanschaulichen Gesetzen der Physik bis zu den Grenzen metaphysischer Erkenntnisversuche reicht, steht am Beginn aller Religion und Philosophie.
Die Traumdeutung, die seit der Antike ganz konkrete und politisch höchst bedeutsame Entscheidungen beeinflusst hatte, wollte SIGMUND FREUD mit seinen Untersuchungen auf eine wissenschaftliche Basis stellen.
Auch durch Hypnose oder Drogenkonsum konnten andere Bewusstseinszustände erreicht werden, die wie eine eigenständige Gegenwelt zur materiellen Wirklichkeit erlebt werden.
Faszinierende Traumwelten hatte HENRI ROUSSEAU mit seinen großformatigen Bildern schon um die Jahrhundertwende als exotische Visionen in seiner naiv erscheinenden, aber handwerklich sehr präzise ausgeführten Malerei dargestellt. Das Bild „Der Traum“ von 1910 mit dem roten Plüschsofa in einem grünen, undurchdringlichen Dschungel erschien TRISTAN TZARA wie die Vorwegnahme der „Konfrontation wesensfremder Realitäten auf einer Bildfläche“, die später als fundamentale Gestaltungstechnik der freien Assoziation die surrealistische Kunst stark beeinflusst hatte.
Die Surrealisten wollten den unauflösbar erscheinenden Dualismus von Traum und Wirklichkeit überwinden und in der Verbindung der Gegensätze ein neues, komplexeres und damit weitergehendes Verständnis der Wirklichkeit erreichen. Ziel war die Erweiterung des Bewusstseins zu einer „surrealen“, also über die einfache Realität hinausgehenden Sicht der Dinge.
Die Pariser Surrealisten waren mit ANDRE BRETON, LOUIS ARAGON (1897–1982), PHILIPPE SOUPAULT (1897–1990) und TRISTAN TZARA zunächst eine literarische Bewegung und verbreiteten die surrealistischen Ideen in ihrer Zeitschrift „Litterature“.
Sie wurden bald von den Malern MARCEL DUCHAMP, MAN RAY, FRANCIS PICABIA und MAX ERNST (1891–1976) unterstützt, die ab 1925 ihre ersten gemeinsamen Ausstellungen organisierten, an denen noch HANS ARP, PAUL KLEE, ANDRE MASSON (1896–1987), JOAN MIRÓ (1893–1983) und PABLO PICASSO teilnahmen.
In dem Bild „Au Rendez-vous des Amies“ von MAX ERNST scheinen die abgebildeten Personen - wie von unsichtbaren Kräften getragen - über dem Boden zu schweben und verleihen dem Bild dadurch eine Aura des Irrealen, die nicht mehr an die Gesetze der Schwerkraft gebunden zu sein scheint.
In den Bildern Joan Mirós wird der Versuch, die unmittelbare Bildhaftigkeit des Denkens wiederzugeben anschaulich. Das Bild „Die Weinflasche“ von 1924 ist nicht mehr ein Spiegel der äußeren Dingwelt, sondern wird zu einer neuen Wirklichkeit, in der die vertrauten Gegenstände nur noch symbolisch - wie verfremdete Zeichen - enthalten sind. MAX ERNST entwickelte vor allem eigene technische Verfahren bei der Bildherstellung, um den bewussten, gestalterischen Willen auszuschalten.
1925 entdeckt er die „Frottage“ als geeignetes Verfahren für einen gleichsam automatisch ablaufenden Gestaltungsprozess. Das Verfahren der „Grattage“ erweitert diese Möglichkeiten, in dem eine mit verschiedenen Farbschichten bemalte Leinwand über reliefartige Gegenstände gelegt wird, so dass deren Strukturen einen Abdruck in den Farben ergeben. Wenn die Farben getrocknet sind, werden sie teilweise abgekratzt und lassen so die tiefer liegenden Schichten wieder zum Vorschein kommen.
Schließlich verwendete MAX ERNST noch die „Décalcomanie“, eine Technik zum Abziehen von Bildern, die OSCAR DOMINGUEZ (1906–1957) entwickelt hatte. Wenn Papier oder Leinwand auf eine mit frischer Ölfarbe bestrichene Glasplatte gelegt wird, entstehen beim Abziehen organisch aussehende Strukturen durch die sich die Gestaltungsmöglichkeiten erheblich erweitern lassen. Seit den 1940er-Jahren beschäftigte sich ERNST auch mit der Bildhauerei. Für sein Wohnhaus in in Sedona, Arizona, schuf er die Wächtergruppe „Capricorn“.
Den Ablauf automatisch erzeugter psychischer Prozesse unterwarf SALVADORE DALÍ (1904–1989) einer bewusst gesteuerten Kontrolle. Er entwickelte aus dem Strom innerer Vorstellungsbilder, die er in tranceartigen Zuständen erlebte, seine „paranoisch-kritische Methode.“
Die Paranoia ist eine Geisteskrankheit, die sich in chronischen Wahnvorstellungen äußert. Der Paranoiker empfindet und sieht alles überdeutlich, er sieht mehr als im Normalzustand und gelangt so zu einer Erweiterung seines Bewusstseins über die Grenzen der einfachen Realität hinaus.
Die absurden Konstellationen, in denen die eigentlich vertrauten Dinge erscheinen, zeigen im „Surrealismus“ den unüberbrückbaren und quälenden Widerspruch zwischen Rationalität und Irrationalität. Die Kluft zwischen ungehemmter Triebwelt und sozialer Gebundenheit wird zur tragischen Spaltung des menschlichen Geistes, die alle optimistischen Vorstellungen einer Harmonie zwischen Vernunft und Gefühl zerstört oder leugnet.
In dem Bild „Die Beständigkeit der Erinnerung“ stellt DALÍ ein verändertes, subjektives Zeitempfinden dar. Die Gestalt der weichen Uhren, zu der ihn angeblich die Form von weichem, zerlaufendem Camembert-Käse inspiriert haben soll, verweist auf die Vergänglichkeit und die Relativität der Zeit. Der zerfließende Kopf mit dem geschlossenen Auge ist in einer weiten, einsamen Landschaft dem Prozess von Tod und Verwesung ausgesetzt.
Die wahnhaften Vorstellungsbilder sind jedoch nicht nur Produkte einer überreizten Fantasie, sondern - wie es Vexierbilder und optische Täuschungen deutlich zeigen - in jedem einfachen, ganz normalen Wahrnehmungsprozess latent enthalten. Dali bearbeitete diese Phänomene der aktiven und selektiven Wahrnehmung in einer Reihe von Bildern, die wie ein Bilderrätsel erst nach längerem, konzentriertem oder meditativem Anschauen ihre Mehrdimensionalität preisgeben.
Der Maler RENÈ MAGRITTE (1898-1967) entwickelte mit einer präzisen, im Detail fast naiv wirkenden Malweise eine Methode, die versucht, die Prozesse des Denkens nicht darzustellen, sondern sie direkt nachvollziehbar zu machen. Die Aufspaltung der Identität zwischen einem Gegenstand und seiner gewohnten Darstellung durch Bilder und Worte fordert das interpretierende Denken des Betrachters heraus. Durch die alogische Zusammenstellung der Dinge und durch die Trennung von Erscheinung und Begriff wird eine magische, zugleich aber kritische Dimension des Denkens eröffnet, die zur Reflektion über die eigene Geistestätigkeit auffordert.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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