- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 6 Globalisierung und Global Governance
- 6.2 Globalisierung der Weltwirtschaft
- 6.2.1 Weltwirtschaft und Weltwirtschaftsordnung
- Neue Weltwirtschaftsordnung – Gegenmodell der Entwicklungsländer
Die so genannte Ölkrise zu Beginn der 1970er-Jahre wirkte auf die Beziehungen zwischen den Industrie- und Entwicklungsländern äußerst konfliktreich. Im 4. israelisch-arabischen Krieg im Oktober 1973 setzten die arabischen Staaten erstmals das Öl als politische Waffe ein. Ausgangspunkt der Ölkrise war die einseitige drastische Erhöhung der Rohölpreise durch die Erzeugerländer der Dritten Welt, die sich in der Organisation Erdöl exportierender Länder (OPEC) zusammengeschlossen hatten.
Durch die politisch bedingte Verknappung der bedeutenden Energieressource wurde den Industrieländern erstmals bewusst, wie abhängig sie von den Rohstofflieferungen der Dritten Welt waren. Viele Entwicklungsländer wiederum entdeckten ihrerseits die Möglichkeit, in einem abgestimmten, solidarischen Vorgehen als Rohstofflieferanten Druck auf die Industrieländer auszuüben und eigene Forderungen durchzusetzen.
Aber auch jene Entwicklungsländer, die vorrangig auf Erdölimporte und Rohstoffexport angewiesen sind, waren von der Ölkrise betroffen. In den Industrieländern hatte die Verknappung des Rohöls auf dem Weltmarkt eine wirtschaftliche Rezession zur Folge. Insgesamt wurde die Nachfrage nach Rohstoffen, den Hauptexportgütern der Entwicklungsländer, gedrosselt. Den Rohstoffexporteuren gingen dadurch wichtige Einnahmen verloren. Um die für die eigene wirtschaftliche Entwicklung notwendigen Erdölimporte weiter finanzieren zu können, waren viele Länder gezwungen, Kredite im Ausland aufzunehmen. Ihre Auslandsverschuldung erhöhte sich damit drastisch.
Bereits seit den frühen 1960er-Jahren und nun durch die Ölkrise verstärkt forderten die Entwicklungsländer eine Neue Weltwirtschaftsordnung (NWWO) im Rahmen des Systems der Vereinten Nationen. Sie erwarteten von der Schaffung neuer, gerechterer Wirtschaftsbeziehungen eine grundlegende Verbesserung ihrer Entwicklungsbedingungen.
Die Forderungen zielten auf Anerkennung der Entwicklungsländer als vollwertige und gleichberechtigte Partner der internationalen Gemeinschaft. Dabei ging es um:
Das Konzept für eine NWWO enthielt eine Reihe von Einzelforderungen der Staaten der Dritten Welt. Umfassende Reformen in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen wurden zu folgenden Punkten gefordert:
Es war vor allem die Gruppe der 77, die sich auf der ersten UN-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD – United Nations Conference on Trade and Development) 1964 in Genf zum Sprachrohr der Länder der Dritten Welt in wirtschaftlichen Fragen formiert hatte und auf die Benachteiligung der Entwicklungsländer durch die Struktur der Welthandelsbeziehungen hinwies.
Auf der 6. Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen 1974 legten die Entwicklungsländer, die in den meisten internationalen Gremien über eine große Stimmenmehrheit verfügten, einen umfassenden Forderungskatalog zur Neuordnung der Weltwirtschaft vor. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (und deren Organe – z. B. UNCTAD) kann aber nur völkerrechtlich nicht bindende Empfehlungen für die Mitgliedstaaten abgeben. Deshalb sind die Möglichkeiten der Entwicklungsländer, ihre Forderungen durchzusetzen, begrenzt geblieben. Hinzu kam, dass bei wachsenden strukturellen Unterschieden zwischen den einzelnen Entwicklungsländern die Interessenlagen immer weiter auseinander klafften.
Am 5. Mai 1974 verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen eine Erklärung und ein Aktionsprogramm zur Errichtung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung sowie am 12. Dezember 1974 die Charta über die wirtschaftlichen Rechte und Pflichten der Staaten.
Kernstück der Forderungen einer NWWO war das Integrierte Rohstoffprogramm. Es wurde erstmals auf der 4. Welthandelskonferenz 1976 vorgeschlagen und zielte darauf, für 18 wichtige Rohstoffe stabile und angemessene Preise zu erzielen. Für 10 Kernrohstoffe (Baumwolle und Baumwollgarn, Jutefasern und -fertigprodukte, Kaffee, Kakao, Kautschuk, Kupfer, Sisalfasern und -fertigprodukte, Tee, Zinn und Zucker) sollten neben Markt regulierenden Bestimmungen Ausgleichslager („buffer stocks“) zur Regulierung der Preise bei Überangebot bzw. Engpässen an Rohstoffen geschaffen werden. Das Programm sah einen gemeinsamen Fonds zur Finanzierung von zwei Aufgaben vor:
Die Verhandlungen über die Rohstoffabkommen und den Gemeinsamen Fonds begannen 1977 in Genf. Auf der 6. UNCTAD-Konferenz 1983 in Belgrad wurde beschlossen, den Fonds 1984 in Kraft zu setzen. Tatsächlich erfolgte dieser Schritt erst 1989. 104 Staaten traten dem Fonds bei. Die Verhandlungen zu den einzelnen Rohstoffabkommen gestalteten sich langwierig und schwierig. Die Zahl der verhandelten Rohstoffe nahm ständig ab. Der Gemeinsame Fonds erreichte nie seine volle Funktionsfähigkeit. Das einzige langfristige Abkommen zur Preisstabilisierung existierte für Kautschuk und lief 2001 aus.
Die Industrieländer formulierten folgende Kritikpunkte gegen das Integrierte Rohstoffprogramm der Entwicklungsländer:
Kritik an der NWWO kam auch von jenen Entwicklungsländern, die die eigentliche Ursache von Unterentwicklung in der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Verflechtung sahen. Sie forderten für die Entwicklungsländer eine Abkopplung vom Weltmarkt und eine Orientierung auf den Binnenmarkt. Durch den Schutz und die Mobilisierung der nationalen Ressourcen („self-reliance“) erwartete diese Ländergruppe eine eigenständige Entwicklung auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet.
Kleine Fortschritte auf Teilgebieten konnten erreicht werden, so beispielsweise
In den Folgejahren scheiterten jedoch die Versuche, die Weltwirtschaft zugunsten der Dritten Welt neu zu ordnen. Der Nord-Süd-Gipfel im mexikanischen Cancùn 1981 und die 6. UNCTAD-Konferenz 1983 markierten faktisch das Ende des Konzepts der NWWO. Seit Anfang der 1980er-Jahre nahm nicht nur die Bedeutung des UNCTAD ab, es wurde auch sichtbar, dass eine NWWO nicht gegen den Widerstand der Industrieländer durchgesetzt werden kann. Die mit dem Ende des Ost-West-Konflikts nach 1989 vollzogenen politischen Veränderungen in vielen Entwicklungsländern führten auch zum Positionswechsel in Sachen einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die eigenen Entwicklungsprobleme nicht mehr auf der Grundlage und mit den Mitteln der NWWO gelöst werden können.
Die weltwirtschaftliche Entwicklung in den 1990er-Jahren war gekennzeichnet durch:
Seit Anfang der 1990er-Jahre wurde von IWF und Weltbank ein Konzept für die Entwicklungsländer forciert, das unter dem Begriff Washinton Consensus bekannt wurde. Die Kernaussagen lauten:
Seit Gründung der Welthandelsorganisation WTO 1995 – ein Ergebnis der sogenannten Uruguay-Runde des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) – wurde vielfach das endgültige Aus von UNCTAD vorausgesagt. Diese Prophezeiung erfüllte sich nicht. 2004 fand die 11. Ministerkonferenz (UNCTAD XI) in São Paulo, Brasilien, statt.
Das Scheitern der WTO-Ministerkonferenz 2003 in Cancún, Mexiko, markierte einen neuerlichen Wendepunkt. Die wachsenden Schwierigkeiten der WTO und die gravierenden Probleme, die die voranschreitende Globalisierung vor allem für die wirtschaftlich schwachen Länder hervorgerufen hat, haben die UNCTAD als Konsens-Forum zum Thema Handel und Entwicklung wieder aufgewertet. Der Gegensatz zwischen realer Welthandelsordnung einerseits und dem ungeordneten, zunehmend spekulativen und schwankenden internationalen Finanzsystem andererseits verlangt nach einer globalen Lösung von Handels- und Entwicklungsproblemen.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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