Das moderne Verständnis von Politik – von dem Politischen – entfaltet sich seit der abendländischen Antike in mehreren Entwicklungsschüben. Große Krisen, gesellschaftliche Umbrüche und Revolutionen sind es in der Regel, die zu neuen Blicken auf die politische Wirklichkeit und zu neuen Definitionen führen.
Die verschiedenen historischen Phasen des Politikverständnisses haben deutliche Spuren in der Gegenwart hinterlassen. So legten sie die Grundlinien für einige der gegenwärtig nebeneinander oder auch konkurrierend verwendeten Politikbegriffe.
Der normativ-ontologische Politikbegriff geht auf PLATON (427–347 v.Chr.) und ARISTOTELES (384–322 v. Chr.) zurück, die Begründer der Politikwissenschaft in der griechischen Antike (Bild 1). In der Krise der Polis in und nach dem Peleponesischen Krieg (431–404) entwickelte PLATON eine radikale Kritik an der herrschenden politischen Gesinnung. Machtbefangenheit und egozentrische Selbstbehauptung sollten durch Hinwendung zum „Wissen des Guten“ und der in den Ideen auffindbaren Ordnung des Seins überwunden werden. Auch die weltjenseitigen, göttlichen Seinsbereiche sollten als real anerkannt werden. Bei ARISTOTELES vereinten sich Ethik und Politik zu einer „Wissenschaft vom Menschen“, auch als „politische Wissenschaft“ bezeichnet. Nicht in unmittelbarer Teilhabe des Guten – wie bei PLATON –, sondern in tätiger Verwirklichung (praxis) sollten die (männlichen) Menschen Selbstvollendung erlangen. Dies würde ihnen nicht als isoliert Einzelne, sondern erst in der Bürgerschaft der Polis gelingen, da der Mensch ein zoon politicon ist.
RAFFAELs Fresko „Die Schule von Athen“ zeigt PLATON, der den rechten Zeigefinger in die Höhe hebt und unterm linken Arm sein Werk „Timaios“ trägt, und ARISTOTELES, der in seiner Linken die „Nikomachische Ethik“ hält. Der Renaissance-Künstler malte sein Bild 1510 für die Stanza della Segnatura in Rom (Vatikanstadt).
Die aristotelische Lehrtradition prägte in Verbindung mit den Schriften des CICERO, AUGUSTIN und der späten Scholastiker (THOMAS VON AQUIN, Bild 2) zwischen dem 13. und dem Ausgang des 18. Jh. das abendländische Verständnis von Politik, auch wenn es seit der frühen Neuzeit nicht unangefochten war. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachte insbesondere die „Freiburger Schule“ (WILHELM HENNIS, DIETER OBERNDORFER, HANS MAIER) die ontologisch-normative Betrachtungsweise erneut zur breiteren Geltung.
Definition: Aus normativ-ontologischer Sicht ist Politik neben der Ethik und der Ökonomie Teil der praktischen Philosophie. Politik meint an bestimmten Zielen und Werten orientiertes Handeln. Politische Ordnung ist eine wesentliche Voraussetzung eines tugendhaften „guten Lebens“ der Menschen.
Der heilige THOMAS VON AQUIN in einer Darstellung von CARLO CRIVELLI (1476)
Mit dem Beginn der Neuzeit, ihren politischen Krisen, geografischen Entdeckungen und wissenschaftlichen Umwälzungen verändert sich ähnlich revolutionär der Blick auf die politische Realität. Politik verband sich nunmehr entscheidend mit dem heraufkommenden Nationalstaat, der die mittelalterliche Ordnung ablöste, und mit den theoretischen und methodischen Errungenschaften der neuen Naturwissenschaften. Ethisch begründete Ziele und Zwecke der Politik wurden nachrangig, da über sie keine objektiven und methodisch gesicherten Erkenntnisse möglich schienen. An ihrer Stelle gewannen die Mittel der Politik den Vorrang. Das normativ-ontologische Politikverständnis verlor die Alleinherrschaft und wurde immer stärker auf das Gebiet des Juristischen abgedrängt. Eine neue Machtlehre sprengte die ältere Einheit von Politik und Ethik. Sie wurde klassisch formuliert bei NICCOLO MACHIAVELLI (1469–1527) und durchdrang seitdem als Element der wertfreien „realistischen“ Betrachtung die moderne Entwicklung. MACHIAVELLIs Politik rückte angesichts der fortgeschrittenen staatlichen Auflösung Italiens den Selbstbehauptungswillen isolierter politischer Territorien in den Mittelpunkt. Für ihn stellte sich (nur noch) die Frage, wie der Fürst wirksam politische Macht erobern, vermehren und auch mit List, Brutalität und Verrat behaupten (Staatsklugheitslehre) könnte.
Seit dem 20. Jh. findet der realistische Politikbegriff breitere Geltung, was vor allem auf das Wirken von MAX WEBER (1864–1920) zurückzuführen ist. Die im Zentrum des Politischen stehende Macht definierte WEBER als „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegenüber Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht“. Politik ist das Streben nach Macht – entweder zur Erreichung ideeller oder egoistischer Ziele oder um ihrer selbst Willen.
Definition: Politik ist das Streben nach Anteil an der Macht innerhalb und zwischen Staaten oder nach Beeinflussung der Machtverteilung.
Einflussreich wird am Ausgang der Weimarer Republik eine Auffassung von Politik als Freund-Feind-Unterscheidung. Freund und Feind werden von dem katholischen Staatsrechtler CARL SCHMITT (1888–1985) als letzter Gegensatz verstanden, wie ähnlich im Moralischen der Gegensatz gut-böse, im Ästhetischen der Gegensatz schön-hässlich. Das Politische ist jedoch fundamental, da die Eventualität von Kampf und Krieg das menschliche Leben in eine existenzielle politische Spannung versetzt. Im konkreten Gegensatz von öffentlichen Freund-Feind-Gruppierungen und in einem von der realen Möglichkeit des Kampfes bestimmten Verhalten liegt danach das Wesen politischer Beziehungen. Diese Auffassung von Politik gründet in politischer Theologie, da es die durch Erbsünde gesetzte Bosheit der Menschen als geschichtsmächtig annimmt. Auch der Staat findet in diesem Verständnis eine neue Grundlage. Das Freund-Feind-Kriterium richtet sich kritisch gegen den Liberalismus, da er den Massenglauben eines antireligiösen Diesseits-Aktivismus befördere und darauf setze, Politik, Staat und Krieg durch Wirtschaft, Technik und Unterhaltung zu „besiegen“. Das Freund-Feind-Verständnis des Politischen hat viele Kontroversen verursacht; in jüngster Zeit wird es in der angelsächsischen Welt wieder stärker rezipiert.
In dem Maße, wie seit den 1960er-Jahren marxistisches Denken in westlichen Ländern stärker beachtet und angewendet wurde, gewann ein neuer Begriff von Politik öffentliche Beachtung und Relevanz. Zwei Denkschulen hatten faktisch kaum Berührung und dennoch entscheidende Grundzüge gemeinsam vertreten:
Die orthodoxe Strömung, die sich aus dem Marxismus-Leninismus speiste, wie er in den Ländern des Ostblocks gelehrt und praktiziert wurde, und die unorthodoxe Strömung der „Kritischen Theorie“ der „Frankfurter Schule“ um MAX HORKHEIMER (1895–1973) und THEODOR W. ADORNO (1903–1969).
Marxistisches Verständnis von Politik geht davon aus, dass das Handeln der sozialen Klassen und des Staates in den ökonomisch-sozialen Produktionsverhältnissen begründet liegt (Basis-Überbau-Lehre). Politik bestimmt sich also nicht nach dem Wollen politischer Akteure, sondern nach ökonomischen, sozialen und historischen Entwicklungstendenzen. Sie gelten prinzipiell als erkennbar und können als politische Planvorgaben eingesetzt werden. Das marxistische Politikverständnis rückt grundlegende gesellschaftlich-ökonomische Widersprüche in den Blick. Es ist daran interessiert, diese praktisch für die Klassenauseinandersetzungen innerhalb und zwischen den Lagern der „sozialistischen“ und der „kapitalistischen“ Welt zu nutzen.
Definition: Politik ist der Kampf der Klassen und ihrer Parteien, der Staaten und der Weltsysteme um die Verwirklichung ihrer sozialökonomisch bedingten Interessen und Ziele.
Nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnete die schnell und in verschiedenen Anwendungen rezipierte Systemtheorie auch einen veränderten Blick auf die politische Wirklichkeit. Es wurde ein systemtheoretischer Politikbegriff geprägt. Zunächst erweiterte die Systemtheorie die Perspektive. In ihr tauchten einerseits die in den Rechts- und Verfassungsstaat des 18. und 19. Jh. eingeordneten traditionellen politischen Phänomene auf, andererseits jedoch zusätzlich die politischen Akteure und Institutionen, die vorstaatlich-gesellschaftlich agierten. Sie konstituierten als ein Teil der Gesamtgesellschaft das konkrete politische System, dessen Elemente in vielfältigen Wechselverhältnissen miteinander verbunden sind. Schon durch die Dichte der inneren Beziehungen dieses Teilsystems wurde Politik von den anderen Systemen der Ökonomie, Kultur und Gesellschaft unterscheidbar. Über Rückkopplung und Anpassung ist das politische System darauf gerichtet, seine Identität in einer komplexen und veränderlichen Umwelt zu bewahren.
Entscheidend geprägt wurde die heute weltweit verbreitete Systemauffassung von Politik durch die Amerikaner DAVID EASTON (geb. 1917), den Prager KARL W. DEUTSCH (1912–1992) und in Deutschland durch NIKLAS LUHMANN (1927–1998). In den 1960er-Jahren fand sie kurzzeitig auch in kommunistischen Ländern Eingang.
Definition: Politik umfasst die Entscheidungen und Handlungen, mit denen das gesellschaftliche Verhalten geregelt und gesteuert wird. Aufgabe des politischen Systems ist es, die Verteilung von begehrten Werten und Gütern autoritativ für die Gesamtgesellschaft zu entscheiden. Die nur dem politischen System eigenen Mittel der legitimen physischen Zwangsgewalt der Ordnungsbehörden sorgen im Zweifelsfall für allgemeine Geltung.
Die genannten Politikbegriffe qualifizieren unterschiedliche Aspekte der gesellschaftlichen Wirklichkeit als „politisch“. Aspektänderungen erfolgten aus gesellschaftlichen Krisen und Umbrüchen heraus. Die ältere Perspektive fragte nach den Zielen des Politischen, nach dem normativ und qualitativ gedachten „guten Leben“ und der „richtigen Ordnung“ als seiner Voraussetzung, aber kaum nach den konkreten Erscheinungsformen der Politik. Im Politikverständnis der Gegenwart begann sich das Verhältnis umzudrehen. Die Frage nach dem Zweck (wozu dient Politik) trat hinter die nach den Modalitäten der Machtausübung (wie wird Politik gemacht) zurück. Politik wird nicht mehr als praktische Philosophie, sondern im Sinne der modernen Sozial- und Erfahrungswissenschaft gesehen und umfasst vorzugsweise die realistische und systemtheoretische Perspektive.
Definition: Politik ist das „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung“, der Kampf und die „Werbung von Bundesgenossen und von freiwilliger Gefolgschaft“ (MAX WEBER) und das Handeln, mit dem gesellschaftliche Konflikte über begehrte Werte und Güter verbindlich geregelt werden.
Abweichend hiervon wird Politik auch in einem noch weiteren Sinne verstanden, also über die Phänomene des Staates und des politischen Systems hinausgreifend. Politik tritt demnach überall dort auf, wo es gilt, eine verbindliche Regelung förmlich oder informell zu erzielen – das kann in einer Bundesregierung, aber auch in einem Fußballverein, einem Konzern oder einer Kirchengemeinde geschehen.
Politik ist jenes menschliche Handeln, das auf die Herstellung und Durchsetzung allgemein verbindlicher Regelungen und Entscheidungen in und zwischen Gruppen von Menschen abzielt. (WERNER J. PATZELT)
Ein Angebot von