Viele Phasen des Lebens sind gekennzeichnet vorerst durch die Aneignung und Vertrautheit überlieferter Lieder, später durch Trennungsrituale, welche die Schwelle zu einem neuen Leben aufzeigen (z.B. in der Ablösung von der Kindheit), gefolgt von der Initiation und Re-Integration in ein neues Leben mit einer neu definierten Rolle als vollwertiges Mitglied innerhalb der Gesellschaft. Dies vollzieht sich unter anderem auch im Lernen eines neuen Lied- und Musikrepertoires. Die aus der Übergangsphase hervorgehende neue Situation setzt sich vor allem aktiv mit der Arbeitswelt, der Umwelt und der Freizeit auseinander.
Lieder kennzeichnen die sprachbezogenen musikalischen Ausdruckformen der Kulturen der Welt. Es sind sakrale oder profane Lieder des individuellen oder gruppenbezogenen Empfindens, Ritual- und Kultgesänge, Arbeits- und gesellige Tanz-, Spott und Trinklieder, Lieder im Bezug zu Menschen und Mächten, zum Du und Ich, zu Geschichte, Tages-, Jahres- und Lebenszyklus und ebenso Lieder im Vertrauen auf Glaube, Liebe und Hoffnung. Volkslieder, volkstümliche Lieder und Kunstlieder sind im gesellschaftlichen Ausdruck verknüpft mit Heimat, Ferne, mit Heimat- oder Umweltschutz und sie sind zugleich auch Ausdruck in der Sorge um eine nachhaltige oder bessere Zukunft.
Vom Schamanengesang bis zum Heilgesang, vom Liebeslied bis zum Trennungslied reicht die Thematik, vom Protest- bis zum Kampflied, vom genealogischen Gesang bis zum Meditationslied. Von der Wiege bis zur Bahre spannt sich der unendliche Bogen vokaler Expressionen, sei es als Sologesang, als begleitetes Lied, sei es im Chor, mit oder ohne Instrumentalbegleitung. Gesungen wird von Menschen, von Tieren, von Bergen und Seen, von Helden und Heroen, von Göttern und Geistern, von Ahnen und Toten, im fröhlichen, unterhaltenden, scherzenden oder ernsten Ton.
Eingebettet in ein kognitives System, in der Fluktuation von Auffassungen über Harmonie und Disharmonie, von Konsonanz und Dissonanz, von kultureller Identität und Multikulturalität bleibt das musikalische Denken, Singen und Handeln im weitesten Sinn ein metaphorisches, das zwar das Ohr unmittelbar anspricht, dieses jedoch – in der Interaktion der Sinne – immer auch mit Auge, Körper, Geist, Bewegung und Emotionen vernetzt. Lieder sind nicht nur eine Angelegenheit der äußeren, sondern auch der inneren Sinne. Wie kaum eine andere künstlerische Äußerung sind sie als Zeitkunst sowohl dem individuellen als auch dem kollektiven Erinnern überantwortet.
Als einzelne Narrationen fügt sich jedes Lied in ein Gesamtbild von Überlieferungssträngen ein, die entweder rein mündlich sind, gemischt mündlich und schriftlich oder vorwiegend schriftlich. Das Geschichtenerzählen mit Liedern erfolgt in den überlieferten Traditionen nach eigenen Regeln, z.B. jenen der nichtstrophischen Umgangssprache und Melodik oder der poetischen und strophischen Gedichtformen (z.B. Balladen, Ghazel). Das liedbezogene Erzählen richtet sich nach den regionalen und kulturellen Konventionen von Tonarten, musikalischen Wiederholungs- und Refrainformeln und nach den Aufführungspraktiken von Improvisation, Variation, bewahrendem Verändern und veränderndem Bewahren im Kontext von sozialen Interaktionen und ethnischer oder historischer Identifikationen.
Lieder sind soziale und geschichtliche Zeugnisse der Kulturen, in denen sich musikalische Formen und Gattungen, gesellschaftliche Strukturen, künstlerische und ästhetische Werte niederschlagen.
Große Sängerinnen und Sänger haben immer schon identifizierende Bewunderung gefunden in ihrer eigenen oder auch in fremden sozialen Gruppen, bei geselligen Familienfesten, bei nationalen Feiern und an Festivals, an Fürstenhöfen, bei Konzerten, zusammen mit Fanclubs, in TV-Shows und in den Charts. In den Liedern der insgesamt auf 15.000 Kulturen geschätzten Welt ist ein ungeheures symbolisches und ästhetisches Erfahrungswissen versammelt, das eine endlose Vielfalt an Farben, Klängen, Texten, Melodien, Rhythmen, Tonarten und musikalischen Formen beinhaltet. Es ist gespeichert in den Erinnerungen der Älteren, von Heilern, Schamanen, Hebammen, Nomaden, Bauern, Sammlern und Jägern, von Priestern, Experten, Gurus und professionellen Sängerinnen und Sängern.
Lieder koordinieren und rhythmisieren Arbeitsprozesse:
Im brasilianischen Candomblé induziert die „Sprache der Trommeln“ Trancezustände und die Orixas offenbaren sich in Rhythmus und Liedern und vergegenwärtigen eine bestimmte Yoruba-Gottheit.Auf dem Mundbogen bezaubert der Jivaro seine Geliebte mit der Liebesmagie des sanften Klanges. Musik schlichtete einst den Singstreit der Ammassalik-Eskimos.
Nordische Heldenepen, das Kalevala-Epos (13. Jh.), westafrikanische Griots-Genealogien, Schamanengesänge der thailänischen Akha, Preislieder über die „Geheime Geschichte der Mongolei“ oder Traumzeitgesänge australischer Aborigines, sie alle vermitteln ein historisch-gewachsenes Wissen.
Ob ein Schildkrötengesang der Tewa, ein Sonnen-Tanz der Shoshonen, Fischerlieder vom Persischen Golf, Honigsammlerlieder der Pygmäen, japanische Shômyô-Gesänge, ein niassischer Ahnengesang von Sirao oder mexikanische Peyote-Lieder – in allem manifestiert sich die Vielfalt der musikalischen Formen, die als mündlich überlieferte Archive das archaisch-magische, das mythische, das rationale, etnische, historische und biografische Wissen weiterreichen und ein unschätzbares Erbe für die gesamte Menschheit darstellen.
Die Auffassung der Gesangskunst mag eingebettet sein in ein animistisch-pantheistisches Weltbild wie bei den Kayapós Indianern im Amazonas; sie mag theozentrisch ad gloriam Dei sein wie JOHANN SEBASTIAN BACHs Kantaten, sie mag anthropozentrisch als höfisch-weltliche Musik am königlichen Hof von Versailles oder im Sultanpalast von Jogjakarta sein; sie mag ökozentrisch sein wie bei den Kaluli in Papua New Guinea, wo Menschen und Vögel im Kosmos sichtbare und unsichtbare Realitäten transzendieren und über das Hervorbringen und Wahrnehmen von Klängen miteinander in Verbindung stehen – gewiss bleibt immer eines: es gibt keine universellen Kriterien der musikalischen Systeme, weder ihrer Funktionsweisen, Symbolik und Strukturen noch ihrer Deutung und Bewertung.
Die einzelnen Gesellschaften unterscheiden sich in ihrer Klassifikation der Lieder, Texte, Liedgruppen oder Liedserien. Die Vielfalt der Einteilungskriterien für die Abgrenzung einzelner Liedgruppen lässt sich dadurch ermessen, dass allein schon das 1914 gegründete Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg bei einem Sammelbestand von ca. einer halben Million Liedern aus dem deutschsprachigen Bereich diese nach systematischen Gesichtspunkten in 29 größere Liedgruppen einteilt.
Einteilung: deutschsprachige Liedgruppen nach dem „Deutschen Volksliedarchiv“
In Zentralaustralien und der westlichen Wüste werden mehrere Gesänge durch ihre Texte und ihre gemeinsame musikalische Melodik zu einer „Serie“ verbunden.
Die Texte einer Serie beziehen sich auf denselben Traum, auf einen Ahnengeist oder auf verschiene Ahnengeister, die aber untereinander verbunden sind. Es gibt deshalb Känguru-, Regen- und Bumerang-(Gesangs-)Serien, die sich auf den Känguru, Regen- und Bumerang-Ahngeist beziehen.
In der Abfolge der Lieder folgen diese den mythischen Erzählungen, wonach die einzelnen Geister auf ihrer Wanderung einzelne Stationen geschaffen hatten, indem sie einen bestimmten See, einen Felsen oder eine Gruppe von Bäumen besangen. Die Serien der traditionellen Gesänge werden in der Reihenfolge solcher geografischen Stationen bei der Aufführung entsprechend verortet.
Die Einwohner von Hawai unterteilten demgegenüber ihre traditionellen Gesänge (meles) in Kriegsgesänge, genealogische Gesänge, Gesänge mit langgezogenen Klängen:
In Bulgarien wurden die traditionellen Lieder vorwiegend nach ihrem Jahreszyklus eingeteilt und zwar in Verbindung sowohl mit dem religiösen als auch dem Agrarkalender. Der Begriff für die Lieder der Weihnachts- und Neujahrszeit (bulgar. Koleda, Kolinda, wurden noch dem römischen Kalender (calendae) entnommen).
Einteilung der Lieder nach dem Jahreszyklus:
Die arabische Welt unterscheidet ihre Gesänge vor allem hinsichtlich einer rhythmisch freien Form und einer rhythmisch gebundenen Form.
rhythmisch freier Gesang ohne wazn (ohne Rhythmus) | rhythmisch gebundener Gesang mit wazn (mit Rhythmus) |
Qur‘an-(Koran-)Rezitation adan (Gebetsruf) layali (nur mit den Worten „oh Nacht“ / „oh Auge“ = ya lel / ya 'ain) und mit Instrumental-begleitung) mauwal (mit zugrunde liegender Dichtung und mit Instrumentalbegleitung) abudiya (im Irak) rukbani (im Irak) Abu z-zeluf (im Libanon) | muwaššaha, qasida, dor, taqtuqa, ahzuga Sowohl religiöse als auch weltliche Kunst- und Volksmusikgattungen, je mit einem festen Metrum, begleitet z.B. von einer nay-Bambusflöte, von einer Fidel (rebab), von Händeklatschen, Schellentrommel (riqq) und einer Gefäßtrommel (darabukkah). |
Beipiel für ein einfaches arabisches Rhythmusmuster (wazn):
Aufgebaut ist der Rhythmus auf den den dunklen und hellen Grundschlägen von dum und tak und dum-ma tak-ka
Auch in der japanischen Musik findet die Stimme in ganz unterschiedlichen Gesangsgattungen und -stilen eine reiche Verwendung. Dies zeigt sich allein schon in den unterschiedlichen Genres
Der Volksgesang (minyo) ist durch eine Eigenheit geprägt. Ob Reispflanzlied (taueuta) oder Fischerlied (soran-bushi), ob neueres Festlied (kiyari) oder traditionelles Liebeslied, ob Arbeitslied oder Wiegenlied, ihnen ist eins gemeinsam, dass sie alle auf der Yo- oder In-Tonskala basieren bzw. auch von dem einen Modus zum andern und wieder zurück modulieren können.
In-Tonskala (Pentatonik mit Halbtönen, yin – weiblich)
Yo-Tonskala (Pentatonik mit Halbtönen, Yang – männlich)
Die Gerüsttöne I und V werden betont. Die Töne in Klammern erscheinen gelegentlich als Nebentöne.
Später kamen in der Ost-West-Begegnung shôka-Lieder hinzu, die japanische und westliche Elemente musikalisch verbanden. Es entwickelte sich darüber hinaus aus der Bürgerrechtsbewegung der populäre enka-Gesang, der sich alsbald zum sentimentalen Schlager hinbewegte und schließlich entstand mit der neuen Playbacktechnik das Karaoke (wörtl. „leeres Orchester“), das alle Formen von traditionell bis Pop und Schlager umfasst.
Die neuen Folksongs aus dem Westen, wie die etwa von JOAN BAEZ und BOB DYLAN erhielten in Japan den Namen fôku songu und ab den 1970er-Jahren begann man die neu im westlichen Stil des fôku songu komponierte „New Music“ in Anlehnung an die englische Sprache als nyuu myuushiku zu bezeichnen.
Neben gunka (Militärlieder seit dem russisch-japanischen Krieg, 1904–05), fôku songu, new music und pops verbreiteten sich im Zuge der zunehmenden Westeinflüsse auch „easy listening“, Rock, Punk, HipHop und Rap wie es allgemein in allen Ländern heutzutage üblich geworden ist, wenn auch die Formen jeweils in ihren Modellen interessante Veränderungen in lokalen Ausprägungen entwickeln.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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