Jeder Mensch besitzt etwa 100 000 Erbanlagen (Gene). Trotzdem weiß man heute schon viel über die Vererbung beim Menschen. Wichtige Methoden der humangenetischen Forschung sind die Familienforschung (Stammbaumforschung) und die Zwillingsforschung. Auch statistische Untersuchungen über die Häufigkeit eines Merkmals in der Bevölkerung bzw. über seine Verteilung und Veränderung sowie mikroskopische und biochemische Untersuchungen von Zellen und Zellbestandteilen werden bei Forschungen über die Vererbung beim Menschen herangezogen.
Die Zwillingsforschung untersucht das Wechselverhältnis von Erbe und Umwelt bei der Merkmalsausbildung.
Eineiige Zwillinge entstehen aus einer einzigen befruchteten Eizelle, die sich geteilt hat. Sie haben identisches Erbmaterial, sind immer gleichen Geschlechts und ähneln sich sehr. Unterschiede in der Ausbildung von Merkmalen lassen sich deshalb ausschließlich auf die Wirkung der Umweltfaktoren zurückführen.
Zweieiige Zwillinge sind aus zwei befruchteten Eizellen entstanden, die in einem oder beiden Eierstöcken heranreiften. Ihr Erbgut unterscheidet sich wie das bei normalen Geschwistern. Sie können verschiedenen Geschlechts sein.
Übereinstimmungen in den Merkmalen können hier mit Umweltfaktoren in Beziehung gesetzt werden.
Untersuchungen ergaben, dass bei eineiigen Zwillingen bestimmte Merkmale weitgehend übereinstimmend auftreten, bei zweieiigen Zwillingen dagegen weniger. Diese Ergebnisse wurden u. a. durch die sogenannte Minnesota-Studie belegt.
Ein wichtiger Schritt in der Erforschung von Zwillingen ist die Minnesota-Studie. Der amerikanische Psychologe THOMAS BOUCHARD begann 1979 sein Projekt „Minnesota Study of Twins reared apart“, das bis heute andauert. Innerhalb dieser Studie haben BOUCHARD und seine Kollegen 7 000 getrennt aufgewachsene Zwillingspaare ausfindig gemacht und ihnen Tausende von Fragen gestellt. Ziel war, ein möglichst detailreiches Mosaik ihrer Persönlichkeit zusammenzusetzen.
Einige der durch diese Studie wieder vereinten Zwillingspaare sind zu Legenden der Wissenschaft geworden. So die „Jim Twins“: JIM LEWIS und JIM SPRINGER waren als Babys getrennt worden und trafen sich erst im Alter von 39 Jahren wieder. Erstaunliche Gemeinsamkeiten stellte man bei der Befragung fest: Beide Männer waren zweimal verheiratet, die Frauen beider Männer hießen Linda (1. Frau) und Betty (2. Frau). Auch die Namen der Söhne waren fast identisch: James Alan und James Allen. Von Beruf waren beide Heimwerker, sie waren Kettenraucher und kauten an den Nägeln. Und sogar die Arbeitsstellen waren gleich: sie hatten in einer Tankstelle gearbeitet und später als Hilfssheriff gedient.
Ein weiteres Zwillingspaar erlangte durch die Minnesota-Studie Berühmtheit, JACK YUFE und OSKAR STÖHR. Diese eineiigen Zwillinge wuchsen in total unterschiedlichen Lebensverhältnissen auf: Jack bei seinem jüdisch-orthodoxen Vater in Trinidad, Oskar bei seiner katholischen Mutter in Deutschland. Nach 46 Jahren trafen sie sich an der psychologischen Fakultät der Universität von Minnesota wieder. Beide trugen ein blaues Sporthemd mit Schulterklappen, Pilotenbrillen und ein paar Gummibänder am Handgelenk. Und beide hatten die gleichen eigentümlichen Marotten, wie die Gewohnheit, in Aufzügen laut zu niesen.
Natürlich lösten diese Gemeinsamkeiten von eineiigen Zwillingen, die getrennt aufwuchsen, Fragen aus, wie etwa: Gibt es ein Pilotenbrillen-Gen? Ist auf den Chromosomen festgeschrieben, welchen Beruf ein Mensch ergreifen wird?
Aber, so ein einfacher Zusammenhang zwischen Gen und Wirkung ist in der Realität eine seltene Ausnahme. Menschliche Eigenschaften wie Risikobereitschaft, Intelligenz oder die Vorliebe für modische Extravaganzen werden vom Zusammenwirken Dutzender, vielleicht Hunderter Gene gesteuert. Außerdem kann ein Gen, das die Intelligenz fördert, noch auf viele andere Körperfunktionen einwirken.
„Es gibt kein Gen für irgendetwas“, sagt DEAN HAMER, ein anerkannter Vererbungswissenschaftler. „Die Gene erhöhten vielmehr die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Träger eine bestimmte Eigenschaft ausbilde.“
Ergebnisse der Minnesota-Studie waren u. a. auch, dass ein Großteil der an der Studie beteiligten Zwillinge nicht nur den gleichen Beruf ergriffen hatte wie der jeweilige Zwilling, sondern dass es selbst bei Religiosität, politischer Einstellung und Toleranz gegenüber Andersdenkenden statistisch signifikante Übereinstimmungen gab. Demzufolge beeinflussen nicht ein oder zwei Gene, sondern deren Gesamtheit die Persönlichkeit. Man hatte bisher die Ausbildung der o. g. Eigenschaften dem Einfluss der Umwelt, also z. B. der Erziehung im Elternhaus zugeschrieben.
Zu ähnlichen Ergebnissen kam man übrigens bei der Beobachtung von Adoptivkindern: Sie ähnelten ihren Erzeugern in der Regel mehr als den Pflegeeltern. Mit diesen hatten sie nicht mehr Persönlichkeitsmerkmale gemeinsam als mit beliebigen Passanten auf der Straße.
Aus der Vielzahl von Adoptions- und Zwillingsstudien kann man eine Faustformel ableiten. Danach ist etwa die Hälfte der Persönlichkeitsmerkmale genetisch bedingt, der Rest durch die Umwelt geprägt.
Entstehung eineiiger und zweieiiger Zwillinge
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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