Goethe und Schiller: Über epische und dramatische Dichtung

GOETHE, SCHILLER und die Französische Revolution

Dies Annäherung der beiden war möglich geworden durch eine veränderte Haltung SCHILLERs gegenüber der französischen Revolution. Hatte er die Veränderungen in Frankreich anfänglich noch begrüßt, begann mit dem jakobinischen Terror 1793 ein Umdenkungsprozess. Sowohl GOETHE als auch SCHILLER verhielten sich neutral gegenüber den Veränderungen in Frankreich und Europa.

GOETHE hatte als Begleiter des Herzogs KARL AUGUST den 1. Koalitionskrieg (1792–1797) der Österreicher und Preußen gegen die Franzosen erlebt und stand der Französischen  Revolution sehr ablehnend gegenüber. Er setzte sich jedoch in verschiedenen Werken damit auseinander. Diese Auseinandersetzung blieb allegorisch-symbolisch. GOETHE nutzte zwar auch satirische und novellistische Stilmittel, vermittelte jedoch alles in allem ein klassisch geprägtes Gegenbild zur Revolution. Seine ablehnende Haltung blieb auf die Verurteilung von Gewalt beschränkt.

SCHILLER schrieb im übrigen außer dem Drama „Wilhelm Tell“ (1804) keine Revolutionsdichtungen. Er beschäftigte sich ästhetisch mit der französischen Revolution. Seiner Auffassung nach könnten politische Probleme nicht mehr „durch das blinde Recht des Stärkeren“ gelöst werden, sondern müssten vor dem „Richterstuhl reiner Vernunft“ verhandelt werden. In den „Horen“ veröffentlichte SCHILLER 1795 „Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen“. Hierin begründete er, dass eine ästhetische Erziehung den Weg zum Vernunftstaat bereiten sollte: „Der Weg zum Kopf“ müsse „durch das Herz geöffnet werden.“ Ästhetik ist nach seiner Auffassung Vermittlung von Vernunft und Sinnlichkeit.
Nicht durch einen gewaltsamen Umsturz gelange man zum Vernunftstaat, sondern durch evolutionäre Fortentwicklung der Gesellschaft. Deshalb genügt nicht die Reform des Staates. Ziel ist seine allmähliche Auflösung.
Die prinzipiell antirevolutionäre Einstellung beider ermöglichte erst die Freundschaft GOETHEs und SCHILLERs . Sie trafen sich in der         

  • Ablehnung der revolutionären Gewalt,
  • Hinwendung zur klassischen Antike,
  • Ästhetisierung des klassischen Ideals.

Der Dichterbund
GOETHE und SCHILLER kannten sich bereits relativ lange. So war GOETHE seinem jüngeren Kollegen bereits auf der Karlsschule und auch im Hause der VON LENGEFELDs in Rudolstadt begegnet, was für beide jedoch ohne Folgen geblieben war. GOETHE sah in SCHILLER immer noch den stürmenden und drängenden Dichter, er selbst hatte sich durch die italienische Reise und seine Beschäftigung mit der Antike bereits stark von seinem Frühwerk entfernt.

Am 23. Juni 1794 lud SCHILLER den von ihm verehrten GOETHE brieflich ein, an seiner neuen Zeitschrift, dem „Musenalmanach“, mitzuarbeiten. Dieser willigte zwar ein, zur Zusammenarbeit kam es jedoch nicht. Am 20. Juli 1794 verließen GOETHE und SCHILLER gleichzeitig eine Sitzung der „Naturforschenden Gesellschaft“ in Jena und kamen ins Gespräch. Dies löste einen regen Briefwechsel aus, und auch eine Zusammenarbeit beider wurde nun möglich.

SCHILLER schreibt darüber:

„Wie lebhaft auch immer mein Verlangen war, in ein näheres Verhältnis mit Ihnen zu treten, ... so begreife ich doch nunmehr vollkommen, daß die so sehr verschiedenen Bahnen, auf denen Sie und ich wandelten, uns nicht wohl früher, als gerade jetzt, mit Nutzen zusammenführen konnten. Nun kann ich aber hoffen, daß wir, soviel von dem Wege noch übrig sein mag, in Gemeinschaft durchwandeln werden, und mit um so größerm Gewinn, da die letzten Gefährten auf einer langen Reise sich immer am meisten zu sagen haben.“
(Brief FRIEDRICH SCHILLERs an GOETHE, 31.8.1794)

Jetzt waren die Voraussetzungen geschaffen, dass beide sich intensiv mit ästhetischen Fragen auseinandersetzen konnten. Statt sich in die Tagespolitik und damit in das deutsch-französische Verhältnis einzuschalten, begaben sich beide Dichter auf den Pfad der Ästhetik. GOETHE drückte dies kompromisslos kurz aus:

„Sowie ein Dichter politisch wirken will, muß er sich einer Partei hingeben; und sowie er dieses tut, ist er als Poet verloren“
(in: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe).

Epische und dramatische Dichtung

1797 entspann sich zwischen den „beiden Dioskuren“, wie Zeitgenossen diese Freundschaft nannten, ein Briefwechsel zur Gattungspoetik, den GOETHE angeschoben hatte: Über epische und dramatische Dichtung “.
Am 23. Dezember 1797 schrieb GOETHE:

 „In der Beilage erhalten Sie meinen Aufsatz, den ich zu beherzigen, anzuwenden, zu modificiren und zu erweitern bitte. Ich habe mich seit einigen Tagen dieser Kriterien beim Lesen der Ilias und des Sophokles bedient, so wie bei einigen epischen und tragischen Gegenständen, die ich in Gedanken zu motiviren versuchte, und sie haben mir sehr brauchbar, ja entscheidend geschienen.“
(Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den jahren 1794 bis 1805, Band 3-4, Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1829, S. 380)

Er forderte seinen neu gewonnenen Freund SCHILLER nach-gerade dazu auf zu reagieren. Wahrscheinlich wusste er, dass es Schwierigkeiten geben würde bei der Behandlung längerer, „ungebundener“ epischer Texte. GOETHE griff zu einem Trick. Denn der „moderne bürgerliche Roman“, wie er mit dem „Wilhelm Meister“ bereits vorgelegen hatte, ließ sich nicht in sein Schema pressen. Deshalb ließ er ihn völlig unerwähnt. Stattdessen zog GOETHE das Epos in Gestalt seines „Hermann und Dorothea“ hinzu, ein Indiz dafür, dass er der neuen Gattung des Romans wenig künstlerische Kompetenz beimaß.

GOETHE fand, dass ein Roman sich nicht dramatisieren lasse:
„Sie werden hundertmal gehört haben“, schrieb er deshalb an SCHILLER, „daß man nach Lesung eines guten Romans gewünscht hat, den Gegenstand auf dem Theater zu sehen, und wie viel schlechte Dramen sind daher entstanden! ... so soll alles sinnlich wahr, vollkommen gegenwärtig, dramatisch sein und das Dramatische selbst soll sich dem wirklich Wahren völlig an die Seite stellen. Diesen eigentlich kindischen, barbarischen, abgeschmackten Tendenzen sollte nun der Künstler aus allen Kräften widerstehen, Kunstwerk von Kunstwerk durch undurchdringliche Zauberkreise sondern, jedes bei seiner Eigenschaft und seinen Eigenheiten erhalten, so wie es die Alten gethan haben und dadurch eben solche Künstler wurden und waren. Aber wer kann sein Schiff von den Wellen sondern, auf denen es schwimmt? Gegen Strom und Wind legt man nur kleine Strecken zurück.“
(Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den jahren 1794 bis 1805, Band 3-4, Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1829, S. 381)

Aus diesem Grund fühlte GOETHE sich bemüßigt, seinem Anhang auch noch den Maßstab der Bewertung beizufügen:

„Um nun zu meinem Aufsatze zurückzukommen, so habe ich den darin aufgestellten Maßstab an Hermann und Dorothea gehalten und bitte die deßgleichen zu thun, wobei sich ganz interessante Bemerkungen machen lassen, als z. B.
   1. Daß kein ausschließliche episches Motiv, das heißt kein retrogradirendes (nach lat. retrogradi = zurückgehen, veraltet für rückwärts gehen, d. Verf.), sich darin befinde, sondern daß nur die vier andern, welche das epische Gedicht mit dem Drama gemein hat, darinne gebraucht sind.
   2. Daß es nicht außer sich wirkende, sondern nach innen geführte Menschen darstellt und sich auch dadurch von der Epopöe entfernt und dem Drama nähert.
   3. Daß es sich mit Recht der Gleichnisse enthält, weil bei einem mehr sittlichen Gegenstande das Zudringen von Bildern aus der physischen Natur nur mehr lästig gewesen wäre.
   4. Daß es aus der dritten Welt, ob es gleich nicht auffallend ist, noch immer genug Einfluß empfangen hat, indem das große Weltschicksal theils wirklich, theils durch Personen, symbolisch, eingeflochten ist und von Ahnung, von Zusammenhang einer sichtbaren und unsichtbaren Welt doch auch leise Spuren angegeben sind; welches zusammen nach meiner Überzeugung an die Stelle der alten Götterbilder tritt, deren physisch-poetische Gewalt freilich dadurch nicht ersetzt wird.“
(Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den jahren 1794 bis 1805, Band 3-4, Stuttgart und Tübingen: Cotta, 1829, S. 383)

Dramatische und epische Texte waren nach GOETHE durchaus vergleichbar, denn im klassischen Verständnis des Dramas war auch dieses durch gebundene Rede gekennzeichnet, d. h., GOETHE verwendete klassische Hexameter in seinem Epos:

GOETHEs „Hermann und Dorothea“:

Erster Gesang:  Kalliope. Schicksal und Anteil (Beginn)

„Hab ich den Markt und die Straßen doch nie so einsam gesehen!
Ist doch die Stadt wie gekehrt! wie ausgestorben! Nicht funfzig,
Deucht mir, blieben zurück von allen unsern Bewohnern.
Was die Neugier nicht tut! So rennt und läuft nun ein jeder,
Um den traurigen Zug der armen Vertriebnen zu sehen.
Bis zum Dammweg, welchen sie ziehn, ist's immer ein Stündchen,
Und da läuft man hinab, im heißen Staube des Mittags.
Möcht' ich mich doch nicht rühren vom Platz, um zu sehen das Elend
Guter fliehender Menschen, die nun, mit geretteter Habe,
Leider, das überrheinische Land, das schöne, verlassend,
Zu uns herüberkommen und durch den glücklichen Winkel
Dieses fruchtbaren Tals und seiner Krümmungen wandern.
Trefflich hast du gehandelt, o Frau, daß du milde den Sohn fort
Schicktest, mit altem Linnen und etwas Essen und Trinken,
Um es den Armen zu spenden; denn Geben ist Sache des Reichen.
Was der Junge doch fährt! und wie er bändigt die Hengste!
Sehr gut nimmt das Kütschchen sich aus, das neue; bequemlich
Säßen viere darin, und auf dem Bocke der Kutscher.
Diesmal fuhr er allein; wie rollt es leicht um die Ecke!“
So sprach, unter dem Tore des Hauses sitzend am Markte,
Wohlbehaglich, zur Frau der Wirt zum Goldenen Löwen.

Im Vergleich dazu:
GOETHEs Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“,
Erstes Buch, Erstes Kapitel (Beginn)

Das Schauspiel dauerte sehr lange. Die alte Barbara trat einigemal ans Fenster und horchte, ob die Kutschen nicht rasseln wollten. Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele, als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld als sonst, wenn sie ihr nur ein mäßiges Abendessen vorzusetzen hatte; diesmal sollte sie mit einem Paket überrascht werden, das Norberg, ein junger, reicher Kaufmann, mit der Post geschickt hatte, um zu zeigen, daß er auch in der Entfernung seiner Geliebten gedenke.

GOETHE sah sich durchaus in der Tradition der griechischen Epiker stehend, etwa der eines HOMER (Odyssee, 1. Gesang, Beginn):

Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes,
Welcher so weit geirrt, nach der heiligen Troja Zerstörung,
Vieler Menschen Städte gesehn, und Sitte gelernt hat,
Und auf dem Meere so viel' unnennbare Leiden erduldet,
Seine Seele zu retten, und seiner Freunde Zurückkunft.

Aber die Freunde rettet' er nicht, wie eifrig er strebte,
Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben:
Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers
Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft,
Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.

 (Übersetzung von VOSS).

Mit diesem Hintergrund ist GOETHEs und SCHILLERs Theorie der literarischen Gattungen zu lesen.

Epos, Lyrik und Drama

Noch im „West-östlichen Divan“ blieb GOETHE dabei: „Es gibt nur drei ächte Naturformen der Poesie : die klar erzählende, die enthusiastisch aufgeregte und die persönlich handelnde: Epos, Lyrik und Drama“. Diese Gattungseinteilung ist – obwohl es bereits zu GOETHEs Zeiten Mischformen gab – bis heute Grundlage der Literaturbetrachtung geblieben.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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