- Lexikon
- Musik
- 7 Weltmusik Musiken der Welt
- 7.2 Musikalische Globalisierung Migration und Integration
- 7.2.1 Das Eigene und das Fremde in der Musik
- Weltmusik: Migration und Integration
Lokale kulturelle Prozesse sind nur noch im Rückgriff auf globale Kulturlandschaften und globale Kulturindustrien zu verstehen. Migration und Tourismus haben diese Erfahrung des Raumes erheblich erweitert, die Welt ist kleiner, aber auch durchmischter geworden.
Kulturelle Bilder des Eigenen, Vertrauten, der alltägliche Lebensgewohnheiten und Vorstellungen sind diesem Modernisierungsdruck in der Auseinandersetzung mit dem „Anderen“, dem „Fremden“, dem „Exotischen“ und Ungewohnten ausgesetzt.
Für die einen bedeutet das Fremde ein Ärgernis, das abgelehnt wird, es wird als eine Verunsicherung der eigenen kulturell selbstbezogenen Identität verstanden, andere sind davon fasziniert und sehen darin die Möglichkeit einer neuen Selbstfindung und interkulturellen Erfahrungen.
Die einen sehen die als „authentisch“ oder „echt“ verstandenen lokalen Musiktraditionen gefährdet oder gar dem Untergang geweiht, die anderen erblicken in der Hybridisierung, d.h. der Verschmelzung von unterschiedlichen kulturellen Ausdruckformen eine neue Kreativität oder aber die Gefahr einer Homogenisierung amerikanisch-westlicher Prägung.
Diese Auseinandersetzungen zwischen dem, was als das Eigene verstanden wird, und dem, was das Andere ausmacht, schafft einerseits eine Rückbesinnung, eine Re-Lokalisierung dessen, was als wichtig betrachtet wird, andererseits erweitert es auch die Horizonte im Hinblick auf ein überregionales, transnationales und schließlich auch transkulturellen Bewusstseins angesichts der Unterschiede in den vielen „Musiken der Welt“.
Im 20. Jahrhundert beschleunigte sich der Informationsfluss bedingt durch die neuen Kommunikationswege. Die grenzüberschreitenden Entdeckungen der musikalischen Vielfalt waren u.a. durch folgende Faktoren gekennzeichnet:
Die beschleunigten Prozesse der Säkularisierung, Demokratisierung, das Gleichheitsprinzip und Individualisierung schlugen sich in allen gesellschaftlichen Bereichen nieder. Die zunehmend global sich auswirkenden Einflüsse der Informationsgesellschaft produzierten entsprechend neue Kenntnisse über fremde kulturelle Ausdrucksformen, Musiken und Musikinstrumente unterschiedlicher Länder, über Traditionen, Tänze, Stile und Stilmischungen. Die erstarrten Fronten zwischen der „eigenen“ Unterhaltungsmusik, der als das „Eigene“ verstandenen in Klassik, Jazz, Pop und Rock begannen sich im Kontext von World Beat, Global Pop, Ethno-Pop, World Music, Fusion oder Transculture zu verwischen.
Anachronistische Begrifflichkeiten, wie die in Deutschland weiterhin noch vorgenommene Unterteilung in E-Musik (für ernste Musik, d.h. Klassik) und U-Musik (für unterhaltende Musik) spiegeln hierbei weniger den Sachverhalt als vielmehr die Trägheit institutioneller Einteilungskriterien wider. Der Mentalitätswandel von den romantischen Ideen des Reinheitsgebots in Auffassungen vom „Ernsten“ und „Unterhaltenden“, vom „Authentischen“, „Echten“ und „Traditionellen“ wurde im Schaffen der Musiker selber zunehmend abgelöst durch multikulturelle und transkulturelle Experimentierlust, mit denen ethnozentrische und nationale Barrieren zum Teil bewusst durchbrochen werden.
Insgesamt war ein Bewusstseinswandel festzustellen, der sich besonders in der Auffächerung des Kulturbegriffes abzeichnet. Es sind dies zusammenfassend
Kulturbegriff:
Der romantische Begriff des ethnisch zentrierten Handelns auf der Grundlage des Lokalen als Heimat zentraler Werte kann als der romantische Kulturbegriff aus der Überlieferung des 19. Jahrhunderts bezeichnet werden („die Musik im Dorf unter der Linde“). Es ist die Konzeption des isoliert betrachteten traditional village. Die Konzeption ist und war im Wesentlichen durch ethnozentrische oder nationale Perspektiven in der (missverstandenen) Nachfolge HERDERs essentialistisch geprägt. Das „Authentische“ war gleichsam das sich gegen außen abgegrenzte Kollektiv-Anonyme einer mündlichen Überlieferung.
Der erweiterte Kulturbegriff des interethnischen Handelns verortet im Lokalen das interkulturelle Miteinander von Ansässigen und Immigranten, indem die zusammenprallenden Kulturkonzepte mentalitätsmäßig bewusst als Vielfalt gegenseitig toleriert werden und in ihrer Verschiedenheit von „face-to-face“ grundsätzlich akzeptiert und geachtet werden (Musiken im „global village“).
Das interethnische Handeln wird schließlich zusehends durch den transnationalen Bewusstseinshorizont des Mediasiert-Globalen mitbestimmt. Im lokalen Handeln kann bereits ein ent-territorialisierter und transkultureller Bewusstseinswandel konstatiert werden, der unterschiedlichste Anleihen in fernen kulturellen Ausdrucksformen machen kann, ohne vor Ort je mit den Erfahrungen direkt (face-to- face) konfrontiert zu sein. Mentalitätsmäßig ist für den Kosmopoliten die ganze Welt auf eklektische Weise eine Fundgrube geworden, aus der er seine Bausteine schöpft und auf individuelle Weise kreativ verarbeitet (Musik als „glokales“ Handeln in global cities). Das Authentische wird als individuelle und selbstreflexive Positionierung in der Vielfalt verschiedener Richtungen gesehen.
Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass die eine Kulturkonzeption die andere obsolet machte. Ganz im Gegenteil, ein Kennzeichen der Globalisierung besteht eben darin, dass die Vielfalt der Differenz auch hierin erhalten bleibt, unterschiedliche mentale Konstrukte ohne weiteres im Nebeneinander und auch in verschiedenen oder gleichen Musikgruppen existieren können und ebenso gleichzeitig oder nacheinander zum Ausdruck gebracht werden können.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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