Viele Leseforscher haben sich Gedanken gemacht, wie die Wörter während des Lesens im Gedächtnis gefunden werden. Sie sind jedoch zu keinem einheitlichen Ergebnis, sondern zu verschiedenen möglichen Modellen gekommen. Eines davon ist das Suchmodell, das von folgendem Ablauf ausgeht: Wenn das gelesene Wort im Arbeitsgedächtnis angekommen ist, wird ein Suchprozess gestartet, der so lange dauert, bis im mentalen Lexikon das Wort gefunden wird, das dieselben Eigenschaften hat, wie das gelesene Wort. Falls das Wort nicht im mentalen Lexikon vorhanden ist, wird die Suche abgebrochen, und das Wort als unbekannt eingestuft. Wenn das Wort im mentalen Lexikon vorhanden ist, verläuft die Suche oft so schnell, dass man praktisch nichts davon mitbekommt. Erst wenn die Wortbedeutung nicht ermittelt werden kann, werden wir uns der Schwierigkeit der Suche bewusst. Grund dafür ist entweder die fehlende Festigung des Wortes, oder schlicht die Tatsache, dass das Wort unbekannt ist.
Neben der Bedeutung des Wortes müssen auch dessen grammatikalischen Eigenschaften während des Lesens herausgefunden werden. Wichtig sind hier zum Beispiel die Verbkonjugationen. Es reicht nicht zu wissen, dass das englische Wort catch im Deutschen fangen bedeuten kann. Das Gedächtnis braucht Zeit, um abrufen zu können, dass durch das Anhängen der Endung -es, also catches, die 3. Person des Verbs gebildet wird.
Hier wird während des Leseverstehens die Position untersucht, die ein Wort im Satz hat. In dem Satz Tom gave Laura the gloves muss z. B. herausgefunden werden, bei welchem der beiden Namen es sich um das Subjekt und bei welchem um das Objekt handelt, um zu verstehen, wer die Handschuhe bekommen hat.
Früher ging man davon aus, dass der Leseprozess aus linear aufeinanderfolgenden Teilschritten besteht. Heute weiß man, dass diese Teilschritte oft zyklisch, also wiederholt absolviert werden. Die Leseforschung unterteilt den Leseprozess in das Wortverständnis, das Satzverständnis und das Textverständnis.
Das Wortverständnis ist das erste Teilziel. Buchstaben werden gelesen und als ein Wort identifiziert, das nun mit Hilfe des Arbeitsgedächtnisses und des mentalen Lexikons entschlüsselt wird.
Beim Satzverständnis werden die syntaktischen Beziehungen zwischen den einzelnen Wörtern im Satz herausgefunden. Mit Hilfe des Wortverständnisses und des Erkennens der syntaktischen Beziehungen wird der Sinn des Satzes ermittelt. Um einen Text zu verstehen, reicht es jedoch nicht aus, wenn man die einzelnen Sätze verstanden hat.
Das Textverständnis wird erreicht, wenn man die Inhalte der Sätze zueinander in Beziehung setzt. Die einzelnen Informationen müssen zu einem Ganzen zusammengesetzt werden.
Als zyklisch wird der Leseprozess bezeichnet, weil jede der drei genannten Stufen wiederholt ablaufen kann. Während des Satzverständnisses kann z. B. das Wortverständnis korrigiert werden. Oft verstehen wir ein Wort zuerst nicht und erkennen seine Bedeutung dann aus dem Kontext heraus. Nehmen wir den Satz He couldn't drive the car because he was too drunk. Vielleicht stolpert man hier über das Wort drive und weiß nicht, was es bedeutet. Wenn man aber die anderen Wörter couldn't, car und drunk kennt, dann kann man sich denken, was drive heißen muss. Dabei gehen wir vom Satzverständnis zurück zum Wortverständnis, da sich uns jetzt erst das Wort drive erschließt.
Auch beim Lesen eines Textes greift das Arbeitsgedächtnis, das die ankommenden Wörter verarbeitet, auf das bereits vorhandene Wissen zurück. Angenommen wir lesen in einer Geschichte, dass der Weihnachtsmann jedes Jahr, bevor er die Geschenke bringt, stundenlang Klimmzüge macht, damit er den schweren Sack tragen kann. Das stellen wir uns doch gerade deshalb lustig vor, weil wir wissen, dass der Weihnachtsmann ein alter, dicker Mann mit Bart ist. Es gibt in Texten eine Menge verstecktes Wissen, dass nicht ausdrücklich formuliert wird. Der Autor in unserem Beispiel geht davon aus, dass wir wissen, dass der Weihnachtsmann dick und alt ist. Solche Informationen im Text aufzuspüren, nennt man inferieren. Alles uns bekannte Wissen, das mit dem Text zu tun hat, inferieren wir während des Lesevorgangs. Das Vorwissen ist also sehr wichtig für das Leseverstehen. Das Vorwissen umfasst nicht nur das Sprachwissen, sondern auch das sogenannte Weltwissen, z. B. dass der Weihnachtsmann dick und alt ist.
Sowohl für das Leseverstehen als auch für das sprachliche Verstehen im Allgemeinen sind noch zwei andere Faktoren von Bedeutung: die Wichtigkeit und das Interesse. Wenn man in einer Sprache Probleme hat, und ein Freund gibt einem einen Zeitungstext in dieser Sprache, dann wird man sich beim Verständnis des Textes natürlich sehr schwertun. Anders ist es, wenn dieser Text Teil einer Klassenarbeit ist. Die Wichtigkeit des Textes gibt dem Arbeitsgedächtnis mehr Anlass, sich mit dem Text auseinanderzusetzen.
Der andere wichtige Faktor ist das Interesse am Thema. Wenn jemand begeisterter Radfahrer ist, wird er einen Text über die letzte Tour de France besser verstehen als jemand, der Sport überhaupt nicht mag. Für diese beiden Verstehensfaktoren ist das limbische System im Gehirn verantwortlich. Je nach Interesse und Wichtigkeit des Textes sendet es Botenstoffe an das Gedächtnis aus, die das Verstehen unterstützen. Diese Botenstoffe werden auch affektive Mobilisatoren genannt.
Das fremdsprachliche Leseverstehen
Beim Lesen eines fremdsprachlichen Textes können verschiedene Schwierigkeiten auftreten.
Je häufiger man Texte in der Fremdsprache liest, umso mehr Wörter und Satzverbindungen lernt man kennen und erkennen. Dadurch wird das gesamte Textverständnis gefördert. Auch das kulturelle Wissen, das man braucht, um fremdsprachliche Texte richtig zu verstehen, wächst, je mehr man in der Fremdsprache liest. Und: Je mehr man liest, umso einfacher und schöner wird es!
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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