Früher oder donauländischer Minnesang

Der Minnesang entstand zunächst in Südfrankreich mit den provenzalischen Troubadours. Herzog WILHELM IX. VON AQUITANIEN (1071–1127) soll der erste namentlich bekannte Minnesänger gewesen sein.

Warum sich der Troubadourgesang ausgerechnet in Südfrankreich etablierte, ist heute nicht mehr mit Sicherheit festzustellen.

  • Die einen führen ihn auf die Nähe der Provence am islamischen Spanien zurück. Dadurch sei die lyrische Sprache der Araber übernommen worden.
  • Andere wiederum behaupten, die Liebeslieder gingen auf die Katharer zurück, eine christliche Sekte, die im 11. Jh. in der Gegend um Carcassonne und Montsegur (Südfrankreich) siedelte.

Minnesang ist gesungene Lyrik.
Kennzeichnend für die Frühphase des Minnesangs war vor allem:

  • überwiegend einstrophige Lieder,
  • Langzeilenstrophen, teilweise mit eingeschobener reimloser Kurzzeile (sogenannte Stegstrophen),
  • häufige Verwendung von Halbreimen (z.B. was - sach; hemede - edele); der Vollreim war noch nicht die Norm,
  • Grundthemen sind Werbung, Sehnsucht, Scheiden, Fremdsein und Verzicht,
  • zweipolige Werbelyrik, d.h. in den frühen Sängen fand ein Dialog zwischen dem Werbenden und der Umworbenen statt.

Vertreter der donauländischen Minnelyrik sind:

  • MEINLOH VON SEVELINGEN,
  • DIETMAR VON AIST,
  • Burggraf von Regensburg,
  • Burggraf von Rietenberg sowie
  • DER VON KÜRENBERG.

DER KÜRENBERGER (Der von KÜRENBERG, KÜRENBERC) ist der älteste der namentlich bekannten Dichter der „donauländischen Liebeslyrik“ und entstammte vermutlich einem ritterlichen Geschlecht aus der Gegend von Linz. Seine Liebeslieder, „in der Form der Nibelungenstrophe und von seelenvoller Tiefe“ (Meyers Konversationslexikon), wurden etwa in der Mitte des 12. Jh. verfasst. Wie Meyers Konversationslexikon von 1888 berichtet, hielten die Germanisten F. PFEIFFER und BARTSCH im 19. Jh. KÜRENBERGER

„für den Dichter des ‚Nibelungenlieds' in seiner ursprünglichen, uns verlorenen Gestalt.“


Diese Meinung wird in heutiger Zeit nur noch von Wenigen geteilt.

Vom KÜRENBERGER sind 15 Strophen in der sogenannten Manessischen Liederhandschrift überliefert, die um 1150/60 entstanden. Aus seiner Feder soll (Audio 1)

Minnesangs Frühling II.I.11.1

„Vil lieben vriunt verkiesen, daz ist schedelîch;
swer sînen vriunt behaltet, daz ist lobelîch.
die site wil ich minnen.
bite in, daz er mir holt sî, als er hie bevor was,
und man in, waz wir redeten, dô ich in ze jungest sach“

stammen.

audio

Das Falkenlied

Am bekanntesten sind die beiden Strophen des Falkenliedes (Audio 2):

Ich zôch mir einen valken / mêre danne ein jar.
dô ich in gezamete / als ich in wolte hân
und ich im sîn gevidere / mit golde wol bewant
er huop sich ûf vil hôhe / und flouc in anderiu lant

Sît sach ich den valken / schône fliegen
er fuorte an sînem fuoze / sîdîne riemen
und was im sîn gevidere / alrôt guldîn
got sende si zesamene / die gerne geliep wellen sîn.

Hier wird zunächst eine Begebenheit geschildert: Jemand zieht einen Falken auf, richtet ihn als Jagdvogel ab. Doch eines Tages erhebt sich dieser und fliegt davon. Der Falkner sieht eines Tages seinen Falken über sich kreisen und erkennt, dass der nun einen neuen Besitzer hat. Der achte Vers erst weist das Falkenlied als Liebeslied aus:

„got sende si zesamene / die gerne geliep wellen sîn“,

heißt es hier. Übersetzt ins Neuhochdeutsche bedeutet der Satz:

„Gott führe sie zusammen, die einander gerne lieben wollen.“

Reimschema

Das Falkenlied des KÜRENBERGERs ist nach dem Vorbild der sogenannten Nibelungenstrophe geschrieben. Das bedeutet, der Anvers weist vier Hebungen auf, der Abvers dagegen nur drei Hebungen:

Ich zôch mir einen falken
re danne ein jar


Reimschema
Ich = unbetont,
zôch = betont,
mir =u nbetont,
ei = betont,
nen = unbetont,
fal = betont,
ken = betont = klingende Kladenz = vier Hebungen

mê = betont,
re = unbetont,
dan = betont,
ne = unbetont, (wahrscheinlich zusammengezogen mit:), ein = unbetont
jar = betont = männliche Kadenz = drei Hebungen

Der Abvers der vierten Langzeile lautet

und flouc in anderiu lant.

Dieser weist vier Hebungen auf, endet mit männlicher Kadenz.

Klingende Kadenzen werden, anders als im Neuhochdeutschen, als Nebenbetonungen und also als Hebungen gewertet.

Das lyrische Ich

Um etwas über das lyrische Ich herauszufinden, also darüber, wer hier über wen spricht, muss man sich zunächst der in der damaligen Zeit verbreiteten Falkenjagd zuwenden.

In der Großen Heidelberger (Manessische) Liederhandschrift (C, Bl. 14v) ist der Minnesänger HEINRICH VON MEISSEN als Falkenjäger abgebildet. Auch Kaiser FRIEDRICH II. war ein begeisterter Beizjäger. Er schrieb sogar ein Buch darüber: „De arte venandi cum avibus“ („Über die hohe Kunst mit Vögeln zu jagen“).
Noch KARL DER GROSSE hatte die Falkenjagd nur den Freien seines Landes erlaubt. Später wurde sie ausschließlich von Adligen ausgeübt. Im Falle des Falkenliedes kann also behauptet werden, dass das lyrische Ich dem Adel angehört. Auch Frôuwen (adligen Damen) wurde im Hochmittelalter die Falkenjagd gestattet.

Singt hier ein Mann oder eine Frau?

Aber: Singt hier ein Mann oder eine Frau? Wenn der Falkner ein Mann ist, müsste der Falke eine Frau sein. Dann würde sich der Falkner, der rîter, beschweren, dass er von der Geliebten verlassen worden ist.
Jedoch gibt es gegen diese These Einwände, denn im Mittelalter wurde der Falke auch zum symbolischen Zeichen des Ritters. Ist die Annahme richtig, dass der KÜRENBERGER mit dem Falken den rîter meinte, muss das lyrische Ich eine Frôuwe, eine Herrin, sein, die davon singt, wie sie von ihrem Geliebten verlassen wurde. In diesem Falle handelt es sich um eine sogenannteFrauenklage . Dazu müsste das lyrische Ich jedoch eindeutig als weibliche Stimme zu erkennen sein. Inhaltlich kann man dieser These zustimmen, denn der Schmerz um den Verlust der Liebe/des Geliebten steht im Zentrum des Liedes.
Die germanistische Mediävistik-Forschung streitet bis heute über den Inhalt des Gedichtes. Selbst PETER WAPNEWSKI, dessen Interpretation die anerkannteste ist, räumte in einem seiner jüngsten Werke zum Schaffen des KÜRENBERGERs ein, dass die

„15 in C überlieferten Strophen auch manches Rätsel“

lieferten.

Der KÜRENBERGER selbst setzt in einer seiner 15 Strophen Frau und Falken gleich:

„Wîp unde vederspil, die werdent lîhte zam.
swer sî ze rehte lucket, sô suochent sî den man.
als warb ein schoene ritter umbe eine vrouwen guot.
als ich daran gedenke, sô stêt wol hôhe min muot.“

neuhochdeutsche Übersetzung:

„Frauen und Jagdvögel, die werden leicht zahm. Wenn sie einer auf die rechte Art anlockt, dann fliegen sie auf den Mann. So warb ein schöner Ritter um eine edle Dame. Wenn ich daran denke, so fühle ich mich hochgemut.“

Diese Gleichsetzung muss jedoch nicht zwangsläufig bedeuten, dass auch Frau und Falke im Falkenlied gleichgesetzt werden, gedenkt man zugleich der Tatsache, dass der Falke ein Sinnbild für den Ritter war.

audio

Der Zeitgenosse des KÜRENBERGERs, DIETMAR VON AIST (1140-1171; auch DIETMAR VON AST oder EIST, Bild 1), schrieb ebenfalls ein Falkenlied:

„Ez stuont ein frouwe alleine
und warte uber heide
und warte ire liebe,
so gesach si valken fliegen.
'sô wol dir, valke, daz du bist!
du fliugest swar dir liep ist:
du erkiusest dir in dem walde
einen boum der dir gevalle.
alsô hân auch ich getân:
ich erkôs mir selbe einen man
den erwelten mîniu ougen.
daz nîdent schœne frouwen.
owê wan lânt si mir mîn liep?
joh engerte ich ir dekeiner trutes niet.“

neuhochdeutsche Übersetzung:

„Es stand eine Frau allein
und schaute aus übers Land
und schaute aus nach ihrem Lieben,
da sah sie einen Falken fliegen.
'Dir ist wohl, Falke, in deinem Gefieder!
du fliegst, wohin dir lieb ist,
du suchst dir im Walde
einen Baum, der dir gefällt.
Das habe auch ich getan:
Ich suchte mir selbst einen Mann,
den erwählten meine Augen.
Das neideten mir schöne Frauen.
Ach, warum lassen sie mir nicht meinen Liebsten?
Ich will doch auch von ihren Freunden nichts.' “

In diesem Lied ist der „valke“ ebenfalls ein Gleichnis. Er steht, vermutlich ebenso wie bei KÜRENBERG, für das Recht der Partnerwahl. Eindeutig ist die Figurensprache. Der Sänger trägt eine Geschichte vor, die wörtliche Rede kann unzweifelhaft einer Frau zugeordnet werden. Und auch ihr selbstbewusstes Auftreten wird deutlich. Dass diese Haltung in damaliger Zeit keine Selbstverständlichkeit war, verraten die letzten drei Verse.


DIETMAR stammt vermutlich aus einem österreichischen Adelsgeschlecht. Der Name kommt in österreichischen und oberbayrischen Urkunden von 1143 bis 1170 vor. Die Stammburg derer von Aist hat sich als Ruine bis heute erhalten. Sie liegt am Fluss Aist, einem kleinen Nebenarm der Donau. Unter dem Namen DIETMARs sind insgesamt 16 Minnelieder (42 Strophen) in der

  • Kleinen Heidelberger Liederhandschrift,
  • Weingartner Liederhandschrift sowie der
  • Großen Heidelberger oder Manessischen Liederhandschrift

verzeichnet. Seine Minnelyrik stammt aus der Zeit zwischen 1150 und 1180. Nicht alle Minnelieder DIETMARs konnten ihm jedoch zweifelsfrei zugeordnet werden.

Fazit

Literatur und insbesondere Lyrik hat neben dem literatur- bzw. sprachgeschichtlichen Wert vor allem und in erster Linie einen kulturellen bzw. Gebrauchswert . Wird Literatur nicht gelesen, ist sie quasi nicht existent. Die Schönheit der Sprache, der Form, der Rhythmik und des Klangs mittelhochdeutscher Minnelyrik kann nur der Einzelne für sich erschließen. Zwar braucht er dazu ein gewisses Handwerkszeug (er muss wissen, wie man Konsonanten und Vokale ausspricht, sollte die Bedeutung der Worte kennen bzw. erahnen), aber der Leser muss nicht jede dunkle Metapher so entschlüsseln, wie sie der Dichter eventuell erdacht hat. Das ist auch in moderner und postmoderner Lyrik selten der Fall und oft unmöglich: Absicht des Dichters und Interpretation durch die Literaturwissenschaft kollidieren oft genug. Es bleibt deshalb der Interpretation des Lesers überlassen, wem er letztendlich das lyrische Ich zuordnet:

  • der männlichen Rolle oder
  • der weiblichen Rolle.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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