- Lexikon
- Geschichte
- 8 Das Zeitalter bürgerlicher Revolutionen
- 8.3 Gesellschaftliche und politische Veränderungen in Europa
- 8.3.3 Die Befreiungskriege
- Yorck und die Konvention von Tauroggen
NAPOLEONS Russlandfeldzug von 1812, an dem auch 100 000 Deutsche teilnehmen mussten, endete in der Katastrophe. Die Verluste waren ungeheuer: Von den 600 000 Mann kehrten im Winter nur 50 000 aus Russland halb erfroren zurück. Die von den Rheinbundstaaten gestellten deutschen Regimenter wurden fast zur Gänze aufgerieben. Die preußischen Hilfstruppen kamen glimpflicher davon. Die Österreicher hatten fast keine Verluste. Ihrem Kommandeur, Fürst SCHWARZENBERG, gelang es, sie weitgehend aus den Kämpfen herauszuhalten.
Erst nach dem Untergang der Grande Armée flammte in ganz Europa der nationale Widerstand gegen die französische Fremdherrschaft auf. Zuerst wechselte der preußische General YORCK VON WARTENBURG (Bild 1) die Fronten und zündete damit in Deutschland den patriotischen Funken des Widerstands:
YORCK war Kommandeur der auf Seiten Frankreichs kämpfenden preußischen Hilfstruppen. Ohne die Zustimmung des preußischen Königs schloss er mit dem russischen General DIEBITSCH beim litauischen Ort Tauroggen eine Übereinkunft. In dieser Konvention von Tauroggen verpflichtete sich YORCK zur Neutralität seiner Truppen gegenüber den angreifenden Russen. Diese Übereinkunft gegen NAPOLEON erlangte geschichtliche Bedeutung.
YORCK VON WARTENBURG (1759–1830) war Sohn des Hauptmanns einer preußischen Infanteriekompanie in Potsdam. Schon als 13-jähriger trat er als Rekrut in den preußischen Militärdienst und entwickelte sich hier zu einem ausgezeichneten Offizier und Heerführer.
Ihm wurde deshalb vom preußischen König FRIEDRICH WILHELM III. die Führung eines Hilfskorps übertragen. Dieses musste entsprechend der preußischen Bündnisverpflichtungen an der Seite der napoleonischen Truppen am Russlandfeldzug von 1812 teilnehmen.
Nach der Niederlage der Grande Armée in Russland befand sich YORCK in einer zwiespältigen Situation: Der konservative Preuße verachtete und hasste NAPOLEON und dessen brutale Unterdrückungsherrschaft. Dieser hatte mit den von ihm diktierten Bedingungen im Frieden von Tilsit Preußen tief gedemütigt, von der europäischen Großmacht zum bedeutungslosen Mittelstaat degradiert. Für YORCK schien deshalb der geeignete Zeitpunkt gekommen, das Joch der Fremdherrschaft abzuschütteln. Dazu bedurfte es aber des Befehls seines Königs, der jedoch nicht kam.
YORCK war nach den Moralregeln altpreußischer Junker aufgewachsen und erzogen worden. So bezeichnete er beispielsweise den preußischen Reformer FREIHERR VOM STEIN als „unsinnigen Kopf“ und dessen Mitarbeiter als „Nattergeschmeiß“. Die Offiziere, die nach Preußens Niederlage und dem Kriegspakt mit Frankreich ihren Dienst quittierten und auf die Seite Russlands wechselten, beschimpfte er als „Rebellen“ und „Meuterer“. Deshalb fühlte sich YORCK andererseits in unbedingter Gehorsamspflicht gegenüber seinem König. Das wiederum bedeutete in seinem Verständnis, ohne dessen Befehl als Kommandeur der preußischen Hilfstruppen auf Seiten NAPOLEONS ausharren zu müssen.
In dieser Situation kamen im Dezember 1812 russische Unterhändler in das Stabsquartier YORCKS, der mit seinen Truppen an der Westgrenze des heutigen Lettland stand. Sie forderten den General auf, seine Truppen mit denen des Zaren zu vereinigen oder wenigstens eine neutrale Stellung auf dem Westufer des Njemen zu beziehen. YORCK reagierte auf die Anfragen und Aufforderungen ausweichend. Getreu seinem Fahneneid, verwies er auf seine königlichen Befehle.
Gleichzeitig hatte er jedoch Eilboten nach Berlin gesandt. In der Botschaft teilte er dem preußischen König sein Empfinden mit, dass die veränderte militärische Lage nach dem Untergang der französischen Truppen neue politische Entscheidungen möglich mache. Der kluge Militär hatte die Gefahr für sein Armeekorps erkannt, vernichtet zu werden, d. h. an der Seite von NAPOLEON unterzugehen. Außerdem bat er seinen König um rasche Antwort auf die Vorschläge des russischen Zaren.
Als das „Erlösungswort“ seines Königs am 16. Dezember 1812 schließlich kam, enthielt es nicht den erwarteten Befehl, sich mit den russischen Truppen zu vereinen. Vielmehr erhielt er die Anweisung, mit den napoleonischen Truppen im guten Einvernehmen zu bleiben.
Zum gleichen Zeitpunkt gingen Meldungen ein, dass Kosakenschwärme an den Grenzen Ostpreußens streiften. Er stand aber immer noch mit seinem Korps in Lettland und war offensichtlich von den vorrückenden russischen Streitkräften umgangen worden. Auf Befehl des französischen Oberkommandierenden erfolgte daraufhin der getrennte Rückzug der Franzosen und Preußen bis zum litauischen Tauroggen am Njemen. Unter den harten Winterbedingungen war der Rückzug für die kriegsmüden Soldaten außerordentlich mühselig und schleppend.
Die Russen hatten während dieser Tage ständig Kontakte mit YORCK unterhalten. Ihr Ziel war nach wie vor, die Preußen als Bundesgenossen zu gewinnen. Die Bestrebungen der russischen Armeeführung, den preußischen General zu überzeugen, an der Seite Russlands gegen Napoleon zu kämpfen, wurden durch CARL VON CLAUSEWITZ unterstützt. CLAUSEWITZ, der spätere preußische General und Militärreformer an der Seite von SCHARNHORST und GNEISENAU, kämpfte als Freiwilliger in der Russisch-Deutschen Legion gegen die französische Fremdherrschaft.
Der Disput von YORCK und CLAUSEWITZ dauerte bis tief in die Nacht hinein. YORCK erwog militärische und formalrechtliche Rücksichten. CLAUSEWITZ appellierte an die patriotischen Pflichten zur Befreiung Preußens.
Am Morgen des 29. Dezember 1812 hatte sich YORCK schließlich durchgerungen und war zum Handeln entschlossen. Kaum hatte sich jedoch CLAUSEWITZ entfernt, um den russischen General DIEBITSCH über einen Waffenstillstand zu informieren, erhielt YORCK per Eilboten königliche Order. Sie verlangte von ihm, unbedingt am Bündnis mit Frankreich festzuhalten. YORCK kam wieder ins Schwanken. Ihm wurde erneut bewusst, dass er gegen die ausdrücklichen Befehle aus Berlin verstieß, wenn er eigenmächtig mit Russland verhandelte.
Als CLAUSEWITZ am Abend erneut mit YORCK zusammentraf, wollte dieser seine Zusage an die russische Seite widerrufen. Es gelang CLAUSEWITZ jedoch, den preußischen General davon zu überzeugen, dass er als Patriot handeln und das Wagnis eingehen musste, ohne Einverständnis seines Monarchen ein Signal zum Befreiungskampf zu setzen. YORCKS alter Hass gegen den französischen Eroberer, das Erlebnis der Verbrüderung der preußischen und russischen Soldaten auf dem Rückzug aus Lettland, all das überzeugte ihn letztlich von der Richtigkeit seines Tuns. Mit den Worten „Ihr habt mich!“ stimmte YORCK dem Waffenstillstandsvertrag schließlich zu. Seine hinzugerufenen Stabsoffiziere und Regimentskommandeure begrüßten seinen Entschluss, die Kampfhandlungen gegen die russischen Truppen einzustellen.
Am 30. Dezember 1812 unterzeichneten die Generäle YORCK und DIEBITSCH in der Poscherunschen Mühle nahe dem Dorf Tauroggen den Vertrag, der als Konvention von Tauroggen in die Geschichte einging.
Das preußische Korps trennte sich nach Vertragsabschluss von NAPOLEON und bezog einstweilen im Gebiet zwischen Memel, Tilsit und dem Kurischen Haff neutrale Positionen. YORCK hatte sich nicht ganz auf Russlands Seite gestellt. Dennoch verfügte FRIEDRICH WILHELM III., allerdings vergeblich, die Absetzung und Festnahme YORCKS sowie die Einberufung eines Kriegsgerichts. Im Volk und in der Armee wirkte YORCKS Tat jedoch als Weckruf für Preußens Erhebung gegen NAPOLEON.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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