Geschichtsphilosophie – Definition

Die Geschichtsphilosophie ist jener Zweig der Philosophie, der sich zum einen mit der Deutung der Geschichte, das heißt mit der Frage nach einem eventuell hinter den ermittelten Fakten verborgenen Sinn und nach historischen Gesetzmäßigkeiten und Strukturen beschäftigt. Er zeigt zum anderen die Möglichkeiten und Grenzen geschichtswissenschaftlichen Erkennens auf und erforscht die Methoden der Geschichtswissenschaft.

Gesamtphilosophische Deutungen der Geschichte
Früheste Versuche einer übergreifenden Erklärung der geschichtlichen Ereignisse sind in der jüdisch-christlichen Tradition anzutreffen. Jüdische Denker verstanden die Geschichte als Offenbarung der Beziehungen zwischen Gott und seinem auserwählten Volk. Im Alten Testament wurde versucht, historische Gegebenheiten, wie beispielsweise den Auszug der Israeliten aus Ägypten, als Ausdruck göttlicher Vorsehung zu erklären. In der christlichen Religion wurden und werden historische Ereignisse in die nach einem göttlichen Plan verlaufende Geschichte eingeordnet.

Erste Ansätze zu geschichtsphilosophischen Betrachtungen finden sich in der Antike.

Dort herrschte etwa die Vorstellung vor, dass sich die Menschheit im Laufe der Geschichte von einem „goldenen Zeitalter“ immer weiter entfernt habe (z. B. bei EMPEDOKLES [500 v. Chr.– 430 v. Chr.], bei PLATON [427 v. Chr.– 347 v. Chr.] und in der Stoa [einflussreichste Philosophie des Römischen Reiches in der Zeit, bevor das Christentum zur Staatsreligion wurde])
Eine weitverbreitete Auffassung ging vom zyklischen Verlauf der Geschichte aus. Sie beinhaltete die Theorie von der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge (Kreislauf) der Verfassungen (bei POLYPIOS: 200 v. Chr.– um 120 v. Chr.) und die Auffassung, dass sich die Geschichte ständig wiederhole (bei THUKYDIDES: um 427 v. Chr.– um 395 v. Chr.).

Eine eher systematische Geschichtsphilosophie (eigentlich Geschichtstheologie) setzte erst im Mittelalter mit der Betrachtung der Geschichte als Heilsgeschichte ein. Geschichte wurde hier als ein die ganze Menschheit umfassendes, zielgerichtetes Geschehen verstanden, das vom Anfang der göttlichen Weltschöpfung über Sündenfall und Erlösung bis zum Weltende und Jüngstem Gericht reicht. Richtungweisend für dieses das ganze Mittelalter beherrschende lineare Geschichtsbild war die vom Kirchenvater AUGUSTIN (AUGUSTINUS), (354–430 n. Chr.) in seinem Werk „Gottesstaat“ entwickelte Lehre vom göttlichen Heilsplan, der sich hinter dem zufällig erscheinenden Weltgeschehen verberge. Nach ihm ist der Inhalt der Weltgeschichte der Kampf zwischen Gottesstaat (Civitas Dei) und Weltstaat (Civitas Diaboli) und die Geschichte vollende sich mit dem Sieg des Gottesstaates im Jüngsten Gericht.

Die von AUGUSTIN ausgehende Annahme von Geschichte als einer stufenweisen Entwicklung (Annäherung) der Menschheit zu Gott fand einen Höhepunkt im Chiliasmus, der am deutlichsten von JOACHIM VON FIORE (1130–1202) im Mittelalter entwickelt wurde. Darunter verstand und versteht man den Glauben an das tausendjährige Friedensreich des Heiligen Geistes oder der Herrschaft Christi am Ende der geschichtlichen Zeit (Endzeiterwartung).
Als chiliastisch werden religiöse Bewegungen der Neuzeit bezeichnet, die den Anbruch eines Friedensreiches auf Erden erwarten; nicht religiös begründete Hoffnungen und politische Praktiken, die auf die Errichtung eines dauerhaften, wenn nicht ewigen Reiches gerichtet sind, werden häufig als politischer Chiliasmus charakterisiert.

In den geschichtsphilosophischen Betrachtungen der Renaissance und des Humanismus wurde eine außerweltliche, göttliche Sinngebung der Geschichte abgelehnt. Die Auffassung vom Wirken der göttlichen Vorsehung in der Geschichte wurde durch die Rolle des Zufalls, der „fortuna“, ersetzt.
NICCOLO MACHIAVELLI (1469–1527) griff mit seiner Theorie von Verfall und Regenerierung der „virtù“ (etwa: der Herrscherkraft) ideengeschichtlich auf die zyklischen Geschichtstheorien der Antike zurück. Das Gleiche gilt für GIOVANNI BATTISTA VICO (1668–1744) mit seiner Lehre vom gesetzmäßigen Aufstieg und Niedergang der Völker und der Menschheit im Ganzen, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Auswirkungen auf die philosophische Betrachtung der Geschichte hatte. VICO sah die Geschichte noch von der göttlichen Vorsehung bestimmt, die er jedoch mit der von ihm angenommenen Gesetzmäßigkeit des Geschichtsprozesses gleichsetzte. Eine große Bedeutung für den Übergang von der christlich-theologischen Sicht auf die Geschichte zur neuzeitlich-weltlichen Geschichtsphilosophie hatte WILHELM VON OCKHAM (1285–1349), der für eine Trennung des Wissens vom Glauben eintrat und Geschichte als einen Ursache-Wirkungs-Prozess verstand.

Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung war im Wesentlichen von der Auffassung geprägt, dass die Weltgeschichte ein gesetzmäßiger und zielgerichteter Entwicklungsprozess sei, ein Fortschritt von der Barbarei zur Zivilisation und von der Unwissenheit zur Herrschaft der Vernunft. Es handelt sich hier um eine mehr oder weniger konsequente Verweltlichung der früheren Ansichten, wonach Geschichte durch den Heilsplan einer göttlichen Vorsehung geprägt sei.

Die in der Frühaufklärung dominante Ansicht vom linearen Verlauf der Fortschrittsverwirklichung wurde insbesondere von JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744–1803) abgelehnt. Er meinte zwar auch, dass sich die menschliche Geschichte gleich der Natur gesetzmäßig entwickeln würde, kritisierte aber die ausschließlich negative Beurteilung der Vergangenheit und die allzu unkritisch positive Bewertung der Gegenwart. HERDER, der Schöpfer der deutschen Geschichtsphilosophie, entwickelte die Ansätze zu einer dialektischen Fortschrittsidee. Die in der Sicht der Gegenwart „dunklen“, negativ zu bewertenden Epochen der Weltgeschichte sollten nicht lediglich als „Fehlleistungen“ und Hemmnisse bei der Durchsetzung der Idee des Fortschritts angesehen werden. Sie wären vielmehr historisch notwendige Bestandteile oder Durchgangsstufen des Fortschreitens der Menschheit vom Chaos zu einem harmonischen Weltsystem, zur Verwirklichung der Humanität.

HEGELS idelaistische Geschichtsphilosophie

Ausgehend von HERDER, erreichte die deutsche idealistische Geschichtsphilosophie, die im Geist und im Bewusstsein die entscheidenden Triebkräfte der Geschichte sah, über IMMANUEL KANT (1724–1804), JOHANN GOTTLIEB FICHTE (1762–1814) und FRIEDRICH WILHELM SCHELLING (1775–1854) mit GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL (1770–1831) ihren Höhepunkt. Nach HEGEL ist die Weltgeschichte ein dialektischer, d. h. sich in Widersprüchen vollziehender Stufengang der Selbstverwirklichung und Selbstbewusstwerdung des Weltgeistes mit dem Ziel der Erreichung der größtmöglichen Freiheit des Menschen. Die Weltgeschichte sei der „Fortschritt des Geistes im Bewusstsein der Freiheit“. HEGEL fasste nicht nur die geschichtlichen Epochen, sondern auch die Formen der Kunst, der Religion und der philosophischen Systeme als Erscheinungen des absoluten oder Weltgeistes auf.

Die Entfaltung und Selbstverwirklichung des Weltgeistes mit dem Endziel der Vernunft und Freiheit vollziehe sich in einem dialektischen Dreischritt: die Thesis (das Gesetzte oder Gegebene) treibe zur Antithesis (zu ihrem Gegensatz), beide würden sich dann in der Synthesis (der Versöhnung, einem höheren Zustand als der Ausgangspunkt) aufheben. Mit der Selbstverwirklichung des absoluten oder Weltgeistes würde der Geschichtsprozess sein Ende erreichen.

HEGELS alles einschließende und alles rechtfertigende Welterklärung, weil alles Bestehende als das Wirkliche auch das Vernünftige sei, gipfelte in einer Verherrlichung des preußischen Staates des Vormärz – jener der deutschen Märzrevolution von 1848 vorausgehenden Zeit seit 1815 (Wiener Kongress). Dieser Abschnitt war gekennzeichnet durch äußeren Frieden und gewaltsam erzwungene innere Ruhe, durch die Zersplitterung Deutschlands in zeitweise 39 Einzelstaaten, durch eine reaktionäre Knebelung aller nationalen und liberalen Bewegungen im „metternichschen System“, aber auch durch die Ideen und Aktionen der nationalen und liberalen Kräfte, die schließlich die Märzrevolution 1848 herbeiführten.

Der bedeutende Einfluss HEGELS auf die philosophischen und politischen Ideen des 19. und 20. Jahrhunderts wirkte sich in unterschiedlichen Richtungen aus: Auf ihn beriefen sich Vertreter des konservativen Preußentums, eines christlich oder liberal orientierten Humanismus und die atheistisch-revolutionären Junghegelianer.
Die Junghegelianer bildeten den linken, materialistischen Flügel der Anhänger HEGELS. Es handelte sich um eine atheistisch und sozialrevolutionär ausgerichtete philosophische Strömung in der Nachfolge der idealistischen Schule Hegels.

Mit der materialistischen Umkehrung der hegelschen Dialektik begründeten KARL MARX (1818–1883) und FRIEDRICH ENGELS (1820–1889) ihre Geschichtsauffassung des historischen Materialismus. Sie wurden dabei stark beeinflusst von LUDWIG FEUERBACH (1804–1872), der als wichtigster Vertreter der Junghegelianer mit seiner Kritik der Religion und der Philosophie HEGELS einen Bruch mit der idealistischen Philosophie überhaupt vollzog.

Für FEUERBACH bestimmt nicht die Idee in welcher Form auch immer die Wirklichkeit, sondern umgekehrt die Wirklichkeit die Idee. „Das Sein ist Subjekt, das Denken Prädikat. Das Denken ist aus dem Sein, aber das Sein kommt nicht aus dem Denken.“ („Zur Kritik der Hegelschen Philosophie“, 1839). Und in Bezug auf die Religion erklärt er, dass der Mensch nicht Gott gegenüber stehe, sondern dass der Mensch das Beste seines Wesens in Gott projiziert habe, wo er es als Fremdes anschaue und verehre. FEUERBACH wollte den Menschen von einem „Kandidaten des Jenseits“ zu einem „Studenten des Diesseits“ erziehen („Wesen des Christentums“, 1841). Er fasste das Geschehen in der Natur als gesetzmäßigen Prozess auf und den Menschen als dessen höchstes Produkt, aber noch nicht als aktiv tätiges, historisches Subjekt, das seine natürliche und gesellschaftliche Umwelt verändert.

Historischer Materialismus – MARX und ENGELS

Der historische Materialismus ist die Geschichtsphilosophie und Gesellschaftstheorie des Marxismus, unter dem das von KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS entwickelte System ihrer philosophischen, ökonomischen und politisch-sozialen Lehren verstanden wird, in einem weiteren Sinne auch deren Weiterentwicklung und Interpretation. Im historischen Materialismus wird die geschichtliche Entwicklung als ein gesetzmäßiger Entwicklungsprozess verstanden. Der geschichtliche Fortschritt bestehe in der Aufeinanderfolge unterschiedlicher sozialökonomischer Formationen (Gesellschaftsordnungen):

  • ausbeutungs- und unterdrückungsfreie Urgesellschaft,
  • die antagonistischen Klassengesellschaften der Sklaverei, des Feudalismus und des Kapitalismus (bzw. der nicht in dieses Schema einzuordnenden „asiatischen Produktionsweise“) mit ihren jeweils spezifischen Formen von Ausbeutung und Unterdrückung
  • und schließlich der Sozialismus mit seinem Ausblick auf eine klassenlose Gesellschaft mit der Aufhebung jeglicher Form von Ausbeutung und Unterdrückung.

Ursache und treibende Kraft der geschichtlichen Entwicklung sei die Dialektik von Produktivkräften (personelle, ideelle und gegenständliche Faktoren der für die Existenz und die Entwicklung der Gesellschaft notwendigen Güterproduktion) und Produktionsverhältnissen (vor allem die Eigentumsverhältnisse). Die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse bilde die ökonomische Struktur oder die Basis der Gesellschaft, worauf sich ein ideologischer (politischer und juristischer) Überbau mit entsprechenden gesellschaftlichen Bewusstseinsformen erhebe. Es sei nicht „das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein“ bestimme (MARX: „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“). Der Überbau besäße jedoch eine bestimmte Eigenständigkeit und würde eine Rückwirkung auf die Basis ausüben.

Auf einer bestimmten Entwicklungsstufe würden die sich ständig weiterentwickelnden Produktivkräfte in einen Widerspruch zu den ihnen nicht mehr entsprechenden Produktionsverhältnissen geraten. Deren notwendige Veränderung erfolge durch Klassenkampf und soziale Revolutionen. Mit dem Wandel der ökonomischen Basis würde sich auch der ideologische Überbau umwälzen, und es entstehe insgesamt eine neue Gesellschaftsformation. Man dürfe deshalb die geschichtliche Entwicklung nicht aus dem Bewusstsein erklären, sondern das gesellschaftliche Bewusstsein und die historischen Veränderungen aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, vor allem aus dem Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.

Kaum eine andere philosophische Lehre und Gesellschaftstheorie wie der historische Materialismus und der Marxismus haben insbesondere wegen ihrer sozialen Utopie solche weitreichenden Auswirkungen gehabt. Die marxistisch orientierte Arbeiterbewegung und vor allem der Jahrzehnte andauernde „reale Sozialismus“ hatten einen tief greifenden und lang wirkenden Einfluss auf die Geschichte. Der Marxismus existiert seit längerem nicht mehr als eine einheitliche Lehre, sondern in einer Vielzahl unterschiedlicher Weiterentwicklungen und in z. T. kontroversen Varianten.

Mit HEGEL und MARX enden die Versuche, mit einem geschlossenen philosophischen System eine umfassende Geschichts- und Seinsdeutung vorzunehmen. Es wurden jedoch weiterhin geschichtsphilosophische Betrachtungen von unterschiedlichen Gesichtspunkten aus angestellt. So wurde in dem von AUGUSTE COMTE (1798–1857) und HERBERT SPENCER (1820–1903) begründeten Positivismus ab der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts versucht, mithilfe der Naturwissenschaften und der Soziologie die Entwicklungsgesetze der Geschichte aufzudecken.
Unter dem Positivismus versteht man eine philosophisch-erkenntnistheoretische Richtung, die sich bei Ablehnung jeglicher spekulativen Betrachtungsweise auch bei der Untersuchung der Gesellschaft und ihrer Entwicklung nach dem Vorbild der exakten Wissenschaften auf das tatsächlich Gegebene, das „Positive“, beschränken will.

Die positivistischen Geschichtsphilosophen sahen in der Entwicklung der Technik und der durch sie bedingten Zivilisation den Hauptantrieb der geschichtlichen Entwicklung und den Maßstab des Fortschritts. Im Gegensatz zu diesem Denkansatz lehnten andere Historiker im Geiste des Historismus die Übertragung des naturwissensschaftlichen Gesetzesbegriffs auf die Geschichte ab und beharrten auf der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit des historischen Geschehens.

Im 20. Jahrhundert verabschiedete sich die Geschichtsphilosophie von der Universalgeschichte. Man verzichtete auf gesamtphilosophische Deutungen der Weltgeschichte, oder die Möglichkeit einer solchen wurde sogar generell verneint (so THEODOR LESSING [1872–1933] in „Die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“, 1919). Abgesehen davon wurden auch noch einmal Kulturzyklentheorien formuliert, in denen unter Rückgriff auf frühere geschichtsphilosophische Auffassungen die Weltgeschichte als Abfolge von Hochkulturen interpretiert wurde, die infolge des Wirkens organischer Gesetze des Wachstums und des Zerfalls immer wieder die gleichen Stadien oder „Lebensalter“ von Aufstieg und Niedergang durchmachen würden (OSWALD SPENGLER [1880–1936] und ARNOLD JOSEPH TOYNBEE [1889–1975].

In der neueren Geschichtsphilosophie stehen die Formen und Möglichkeiten geschichtsphilosophischen Denkens, Erkennens und Begreifens im Mittelpunkt des Interesses. Mit dem Ziel der Abfassung einer modernen „Historik“ erfolgte eine verstärkte Hinwendung zu den theoretischen und methodologischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft und der Stichhaltigkeit ihrer Aussagen.

KARL MARX (1818–1888) und FRIEDRICH ENGELS (1820–1895)

KARL MARX (1818–1888) und FRIEDRICH ENGELS (1820–1895)

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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