Viele Tierarten sind in spezifischen Entwicklungsphasen besonders empfänglich für bestimmte Umwelteinflüsse. Der Lernprozess innerhalb dieser sensiblen Phase wirkt sich in der Regel auf das gesamte weitere Leben aus.
Umwelteinflüsse können sich auf jedes Stadium des Entwicklungsprozesses auswirken, sind aber gleich nach der Geburt bzw. nach dem Schlüpfen am massivsten. In der Regel sind die Umstände, unter denen Eltern ihre Jungtiere aufziehen so, dass der Nachwuchs vor ungünstigen Umwelteinflüssen geschützt wird.
Jungtiere sind in der Lage, auf Umweltereignisse wie z. B. die Versorgung mit Nahrung durch die Eltern mit charakteristischen Verhaltensweisen angemessen zu reagieren. Im Erwachsenenalter gehen diese Verhaltensweisen verloren.
In der Verhaltensbiologie sind nur sehr wenige Beispiele bekannt, in denen einzig und allein der Einfluss der Gene auf die Verhaltensmerkmale (Verhaltensgenetik) sicher nachgewiesen werden kann. Die Aussage, dass Unterschiede der genetischen Ausstattung auch Unterschiede im Verhalten der Tiere verursachen, muss sehr kritisch betrachtet werden.
Die Gene steuern den Entwicklungsvorgang, sie codieren Proteine, die den Ablauf der Entwicklung kontrollieren. Aber auch bestimmte Umweltbedingungen müssen gegeben sein, damit der Embryo sich entsprechend entwickeln kann. Der Ablauf der Individualentwicklung wird also sowohl von den Genen als auch von der Umwelt, in der sich der Vorgang abspielt, vorgegeben.
Der Phänotyp der befruchteten Eizelle, der Zygote wird auf der nächsten Entwicklungsstufe sowohl durch die Gene als auch durch die Umweltbedingungen bestimmt:
: biochemische Faktoren in der Umgebung des Embryos
Der Phänotyp des anschließenden Entwicklungsstadiums wird so bestimmt, wie durch die Gene und die Umweltfaktoren zur Entwicklung nach angeregt wird:
: Umweltbedingungen nach dem Schlüpfen bzw. nach der Geburt: Neben biochemischen Bedingungen hinsichtlich des Ernährungszustandes und Informationen, die mit Sinnesorganen erfasst werden, kann Lernen sich auf auswirken.
Ausgangsphänotyp, Gene und Umweltfaktoren sind also die Bestandteile einer normalen Individualentwicklung.
Das nächste Stadium kann sich anschließen, wenn folgende Faktoren gegeben sind: Der Phänotyp des sich entwickelnden Tieres muss die entsprechende Reife haben, die richtigen Gene müssen bereit stehen und die Umweltbedingungen müssen sich innerhalb bestimmter Grenzwerte bewegen.
Bei den Jungtieren vieler Nestflüchter kann man eine scheinbar wahllose Hinwendung zu beweglichen Objekten beobachten.
Wenn man z. B. frisch geschlüpfte Entenküken von ihrer Mutter trennt, so folgen sie einer einfachen Entenattrappe, einer Person oder aber einem Kasten, der sich langsam von ihnen fortbewegt und Geräusche bzw. Töne von sich gibt. Dieser Lernvorgang, bei dem sich unter natürlichen Bedingungen die Bindung zur Mutter entwickelt, wird als Prägung bezeichnet und findet während einer besonderen Phase der Entwicklung statt (sensible Phase), die je nach Tierart und Umständen variieren kann. Diese Art des Lernens ist irreversibel. Sie läuft vorprogrammiert als Teil des normalen Entwicklungsprozess und unter beliebigen Begleitumständen ab.
Welche Art von Erfahrungen bzw. welche Umwelteinflüsse im einzelnen für eine normale Individualentwicklung nötig sind, ist artspezifisch. Je höher die Entwicklungshöhe, umso weniger starr entwickelt sich das Verhalten. So beeinflussen bei Säugetieren die unterschiedlichen Umweltfaktoren, Lern- und Sozialisationsprozesse das Verhalten der erwachsenen Tiere, auch pränatale Einflüsse spielen dabei eine Rolle.
Tiere müssen in jeder Lebensphase optimal an ihre Umwelt angepasst sein. Jungtiere zeichnen sich daher durch spezifische Verhaltensweisen aus, die sie in ihrem späteren Leben nie wieder zeigen und die in der Regel ihren unmittelbaren Bedürfnissen entsprechen.
So entfernen sich z. B. Silbermöwenküken bei Gefahr von ihrem Nest und verstecken sich duckend, still und bewegungslos in der Vegetation. Die erwachsenen Möwen zeigen ein gänzlich anderes Verhalten: Sie fliegen vom Nistplatz auf und stoßen Alarmrufe aus. Würden die Küken sich wie ihre Eltern verhalten, wären sie eine leichte Beute für Krähen und andere Möwen. Indem sie sich ruhig und bewegungslos verhalten, minimieren sie das Risiko, von einem Raubfeind entdeckt zu werden.
Der Begriff „angeboren” wurde von den klassischen Ethologen sehr eng definiert: Sowohl KONRAD LORENZ als auch NIKOLAAS TINBERGEN verstanden unter angeborenem Verhalten, ein in allen Einzelheiten erblich festgelegtes Verhalten, das von der Erfahrung des Individuums in keinster Weise beeinträchtigt wird. Diese überholte Auffassung angeborenes und erlerntes Verhalten strikt voneinander zu unterscheiden, hilft dem Betrachter nicht weiter, da die meisten Verhaltensaspekte von genetischen Faktoren und durch die Erfahrung der Individuen beeinflusst werden.
Die moderne Verhaltensbiologie definiert angeborenes Verhalten als Verhalten, dass sich ohne offensichtlichen Umwelteinfluss entwickelt.
Dabei muss dem Betrachter klar sein, dass Gene allein niemals das Verhalten bestimmen können. Sie sind zwar in der Lage, Entwicklungsvorgänge auf unterschiedliche Art und Weise zu beeinflussen, aber es wirken auf all diese Vorgänge auch Umwelteinflüsse ein. Der Ablauf der Individualentwicklung wird also sowohl von den Genen als auch von der Umwelt, in der sich der Vorgang abspielt, vorgegeben.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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