Bis ins 19. Jh. war die Psychologie an den Universitäten von Professoren der Philosophie vertreten und gehörte zu den Geisteswissenschaften. Anfang des 20. Jahrhunderts setzte sich der Behaviorismus durch, eine Psychologie, die auf mentale Begriffe verzichtete und stattdessen eine streng naturwissenschaftliche, experimentelle, auf objektiver Verhaltensbeobachtung basierende Methode entwickelte. Das tierliche Lernverhalten basierte für die Behavioristen nur auf einem Ausprobieren (Versuch und Irrtum). Gleichzeitig setzte sich die Gestaltpsychologie als Gegenspieler des Behaviorismus durch, zu deren Vertreter WOLFGANG KÖHLER gehörte.
KÖHLER wuchs noch zur Zeit des deutschen Kaisers Wilhelm II (1859-1941) auf, erlebte dessen Abdankung (1918) nach dem 1. Weltkrieg und die politisch unruhige Zeit danach, bis die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht ergriffen. Danach waren für ihn und viele andere Wissenschaftler die weitere Arbeit in Deutschland kaum mehr möglich. Teilweise wurden sie mit Berufsverbot belegt, teilweise verfolgt, wenn sie nicht im Sinne der Regierung arbeiteten.
Die von den Nationalsozialisten kontrollierte Psychologie widmete sich vor allem der Erbpsychologie oder Rassenpsychologie. Auch nach Ende des zweiten Weltkriegs behielten noch viele Professoren ihren Lehrstuhl, nur äußerst begeisterte Parteianhänger wurden ausgeschlossen. Die Entwicklung der Psychologie ging in Deutschland recht schleppend voran. Für KÖHLER gab es daher keinen Grund nach Deutschland zurückzukehren, hatte sich doch in den USA die Psychologie schon enorm weiter entwickeln können, auch aufgrund seiner eigenen Forschungen.
Am 21. Januar 1887 wurde WOLFGANG KÖHLER als Sohn von deutschen Eltern in Reval in Estland geboren. Mit sechs Jahren zog er mit seiner Familie nach Deutschland und wuchs in Wolfenbüttel auf, wo er auch erfolgreich das Gymnasium besuchte.
Danach studierte er Philosophie, Naturwissenschaften und Psychologie an den Universitäten in Tübingen (1905-1906), Bonn (1906-1907) und Berlin (1907-1909). In Berlin konzentrierte er sich auf die Fächer Physik unter MAX PLANCK (1858 - 1947) und Psychologie unter KARL STUMPF (1848 - 1936). Nach seiner Dissertation über Psycho-Akustik (1909) arbeitete er am Psychologischen Institut in Frankfurt am Main und traf dort mit MAX WERTHEIMER (1880 - 1943) und KURT KOFFKA (1886-1941) zusammen. Gemeinsam begründeten sie eine neuen Zweig der eigentlich noch jungen Psychologie - die Gestaltpsychologie. Sie ist eine Reaktion auf die behavioristischen Theorien von JOHN B. WATSON (1878 - 1958) und IWAN P. PAWLOW (1849-1936), und befasst sich mit der Natur der Wahrnehmung. Entgegen des behavioristischen mechanischen Reiz-Reaktion-Models sprach KÖHLER von einem dynamischen Model des menschlichen Verhaltens, einem Prozess, dessen Anteile in Wechselbeziehungen zueinander stehen (kognitive Psychologie).
KÖHLER wurde 1913-1920 Leiter der Anthropoiden-Station der Preußischen Akademie der Wissenschaften auf Teneriffa (Kanarische Inseln) und arbeitete während des 1. Weltkrieges am Problemlösungsverhalten von Schimpansen.
In seinem Buch „Intelligenzprüfungen an Anthropoiden“ veröffentlichte er 1917 seine Ergebnisse, 1925 wurde es ins Englische übersetzt.
Als er Anfang der 20iger Jahre nach Deutschland zurückkehrte, wurde er Direktor des Psychologischen Instituts der Berliner Universität. Er gründete dort, mit seinen Kollegen WERTHEIMER, KOFFKA und Anderen, einen Diskussionskreis über die Gestaltpsychologie. Es entwickelte sich die Berliner Schule, ein Zweig der Psychologie, deren zentrale Annahme lautet, dass einem aus Teilen zusammengesetzten Bewusstseinsprozess eine Qualität (Gestalt) zukommt, die die Summe der Einzelteile nicht hat.
Er lehrte u. a. als Gastprofessor in den USA, an der Clark-University (1925-1926), an der Harvard-Universität (1934-1935) und an der University von Chicago (1935). 1929 veröffentlichte er in den USA sein Buch „Gestalt Psychology“, es ist 1933 in der deutschen Übersetzung unter dem Titel „Psychologische Probleme“ erschienen.
KÖHLER war der einzige Psychologie-Professor, der die Nationalsozialistische Partei öffentlich kritisierte. Am 28.4.1933, einige Monate nachdem die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten veröffentlichte er in der Zeitschrift „Deutsche Allgemeine Zeitung“ einen öffentlichen Protest. Er setzte sich dabei für seine jüdischen Kollegen ein. Die Folge davon war, das die Regierung seine wissenschaftliche Arbeit behinderte und sogar in sein Institut eindrangen. Er musste 1935 in die USA emigrieren um weiter in seinem Sinne forschen zu können. Dort wurde er Professor am Swarthmore College in Princeton bis 1955.
KÖHLER ging danach für ein Jahr an die Princeton University und wurde dann Professor am Dartmouth College in Hannover, New Hampshire. 1956 wurde er zum Präsident der American Psychological Association ernannt. Er war als hervorragender Lehrmeister bekannt, der sich vor allem für seine jüngeren Kollegen einsetzte. Die Studenten behaupteten, von KÖHLER Psychologie zu lernen, sei wie Religion von Jesus zu lernen.
1962 verlieh man ihm die Ehrenbürgerschaft der Freien Universität Berlin. Am 11. Juni 1967 starb er in Enfield, New Hampshire.
KÖHLER schuf seine bedeutendsten Arbeiten während des 1. Weltkrieges auf der Anthropoiden-Forschungsstation auf Teneriffa. Seine Forschungen zur Untersuchung kognitiver Prozesse unternahm er mit 9 Schimpansen. Es war damals nicht üblich psychologische Forschung an Affen zu betreiben. In erster Linie arbeiteten die Behavioristen mit Hunden (IWAN P. PAWLOW, 1849-1936) und Katzen (EDWARD LEE THORNDIKE, 1874-1949).
Doch KÖHLER und auch sein Kollege R.M. YERKES, der mit Orang-Utans arbeitete, waren die Ersten die CHARLES DARWINs (1809 - 1882) Idee der Abstammungslehre auch in die Psychologie übertrugen und Untersuchungen zum Verständnis unserer eigenen mentalen Prozesse an unseren nächsten lebenden Verwandten durchführten. „...der Verwandtschaftsgrad von Anthropoide und Mensch soll auf einem Gebiet festgestellt werden, das uns besonders wichtig erscheint, auf dem wir aber den Anthropoiden noch wenig kennen.“ (KÖHLER, Intelligenzprüfungen an Menschenaffen 1921, S.1)
Auch der Begriff der Anpassungsfähigkeit, der ebenfalls von DARWIN stammt, wurde von ihnen aufgegriffen. Individuen müssen sich nicht nur morphologisch verändern, wenn sie sich an neue Umgebungen anpassen wollen, sie müssen auch ihr Verhalten ändern, d.h. lernen. Lernen wurde zum zentralen Begriff der Psychologie.
In der Natur ergibt sich die Motivation zu Lernen ganz selbstverständlich aus der Notwendigkeit zu überleben. Im Gegensatz dazu wurden bisher Tiere in Lern- und Konditionierungsexperimenten vor relativ unnatürliche Situationen gestellt (z. B. SKINNER-Box). KÖHLER jedoch achtete darauf, dass die Tiere mit möglichst für sie bekannten und natürlichen Dingen arbeiten konnten, er gab ihnen Aufgaben mit möglichst naturnahem Hintergrund.
Seine Hauptarbeiten handeln vom Problemlösungsverhalten, Werkzeuggebrauch und einsichtigem Verhalten. KÖHLER definierte Werkzeuggebrauch als „Einschalten eines materiellen Zwischengliedes“ in die Kette der Einzelverhalten, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen.
KÖHLER konnte beobachten, dass sich die Schimpansen Bananen, die in ihrem Gehege an der Decke aufgehängt und eigentlich unerreichbar waren, herunter holten, indem sie Kisten übereinander stapelten und darauf kletterten. Zwar waren diese Stapel nach echter „Schimpansenstatik“ krumm und schief gebaut, erfüllten jedoch ihren Zweck. Des Weiteren nutzten sie Stöcke, die sie, nachdem sie herausfanden das jeder Stock für sich zu kurz war, ineinander steckten und damit verlängerten, um an begehrte Leckerbissen heranzukommen. Sie stellten eine lange Stange unter das hoch aufgehängte Ziel, und kletterten so schnell daran hoch, dass sie die Frucht noch ergreifen konnten, bevor sie umfiel. Auch das Zurechtschnitzen eines Holzstücks beherrschten sie, um damit Türschlösser zu öffnen.
Das Bemerkenswerte dabei war, dass sie es z. T. auf Anhieb richtig machten ohne vorher etwas auszuprobieren, nachdem sie zuvor eine Weile nur dagesessen und sich umgeschaut hatten. Hatten sie sich theoretisch erdacht, wie sie das Problem zu lösen hatten?
KÖHLER schloss daraus, dass Schimpansen durchaus fähig sind, Probleme durch vorheriges „Nachdenken“ zu lösen und nicht allein durch Versuch-und-Irrtum, wie bis dahin angenommen wurde. Das von den Schimpansen gezeigte Lösungsverhalten deutete KÖHLER als einsichtig im Sinne einer Problemerkenntnis mit zweckgerichtetem Folgeverhalten.
Auch die Kommunikation der Schimpansen, die er eng mit der Denkfähigkeit verknüpft sah, war für KÖHLER ein interessantes Forschungsgebiet.. Er schrieb über die „Sprache“ der Schimpansen: „Daß ihre phonetischen Äußerungen ohne jede Ausnahme subjektive Zustände und Strebungen ausdrücken; also sogenannte Affektlaute sind und niemals Zeichnung oder Bezeichnung von Gegenständlichem anstreben, ist schlechthin gesichert.“ (KÖHLER: „Psychologische Forschung“, Berlin/Göttingen/Heidelberg 1922, Bd. 1)
Die Schimpansen, die in sozialen Gruppen zusammenleben, haben eine sehr ausgeprägte Kommunikation entwickelt. Die verschiedensten Formen der sprachlichen Kommunikation der Schimpansen hat KÖHLER beschrieben, wie die vielfältigen emotionalen (Angst, Ärger) und sozialen (Begrüßung, Freundschaft) Ausdrucksgebärden und Laute. Aber sowohl „ihre Gesten“, schreibt KÖHLER, „als auch ihre expressiven Laute bezeichnen und beschreiben nie irgend etwas Objektives.“. Es ist in erster Linie eine emotionale Sprache, die zu einem großen Anteil aus Gebärden besteht.
Die Tiere verstehen sich untereinander ausgezeichnet, sie können ihren Gefühlszustand und ihre Wünsche zum Ausdruck bringen. Oft wird dazu eine beabsichtigte Handlung zu denen ein Tier ein anders bewegen möchte, durch eine kurze Bewegung angedeutet (z. B. stößt der Schimpanse ein anderes Tier an und geht ein paar Schritte, um darum zu bitten, dass es mit ihm geht).
KÖHLER erklärte, dass mithilfe derartiger Gebärden eine Belehrung im primitiven Sinn gemacht werden kann, die eine Verbalinstruktion ersetzt.
Für KÖHLER ergab sich eine Sichtweise der Psychologie, die besagt, dass für ein vollständiges Verständnis des Ablaufs von Wahrnehmungs- und Denkprozessen auch die inneren Prozesse im Gehirn geklärt werden müssen. Seine weiteren Forschungen beinhalteten vor allem Neuropsychologische Arbeiten. Mentale Prozesse können von außen nur schwer erfasst werden und sollten durch wissenschaftliche Erkenntnisse erklärt werden.
KÖHLERs Beitrag zur Psychologie - insbesondere zur Vergleichenden Psychologie - ist sehr bedeutend. Seine Erkenntnisse finden heute wieder verstärkt Beachtung, unter anderem werden sie therapeutisch in der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie genutzt und seine neuropsychologischen Arbeiten in der Gehirnforschung.
Im zu Ehren wurde die Kognitionsforschungseinrichtung für Menschenaffen in Leipzig nach ihm benannt.
Stand: 2010
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