In den Vereinigten Staaten begann sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts erst langsam eine eigenständige Literatur herauszubilden. Literatur wurde zunächst aus England in die britischen Kolonien importiert. Selbst nach der Erreichung der Unabhängigkeit war der Einfluss der englischen Autoren so bestimmend, dass sich die ersten amerikanischen Romane eng an den englischen Vorbildern orientierten. Das 1789 erschienene The Power of Sympathy von WILLIAM HILL BROWN (1765-1793) gilt als der erste amerikanische Roman.
Die Konkurrenz der aus England importierten Romane verhinderte die Nachfrage nach einheimischen Erzählungen in Buchform. Um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, verlegten sich die Schriftsteller auf die Produktion von Geschichten (tales), die in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht wurden. Sie entwickelten auf diese Weise die Technik, in Kurzform darzustellen, was in den Werken europäischer Autoren detailreich und großzügig ausgebreitet werden konnte. So begünstigte die wirtschaftliche Notwendigkeit die Herausbildung der Short Story. Später wurden Short Story-Sammlungen einzelner Autoren in Buchform herausgegeben.
Die Short Story-Autoren WASHINGTON IRVING (1783-1859), NATHANIEL HAWTHORNE (1804-1864) und EDGAR ALLAN POE (1809-1849) gelten als die Begründer der eigenständigen amerikanischen Literatur.
HAWTHORNE schrieb auch die ersten amerikanischen Romane von Bedeutung: The Scarlet Letter (1850), The House of the Seven Gables (1851) und The Marble Faun (1860). Weitere wichtige Werke des 19. Jahrhunderts sind JAMES FENIMORE COOPERs (1789-1851) Leatherstocking-Tales (1823-1841), HARRIET BEECHER-STOWEs (1811-1896) Uncle Tom's Cabin; or, Life Among the Lowly (1851), HERMAN MELVILLEs (1819-1891) Typee (1846 ) und Moby Dick (1851).
Die Entstehung der Short Story ist Bestandteil der amerikanischen Literaturgeschichte. Noch im 20. Jahrhundert haben eine Reihe amerikanischer Autoren ihren schriftstellerischen Durchbruch über die Veröffentlichung einer Kurzgeschichte in einem der bekannten Magazine, z. B. The New Yorker oder Cosmopolitan, erreicht.
Die ersten Short Stories trugen noch die Bezeichnung tales. In ihnen stand eine interessante Handlung im Mittelpunkt, z. B. in EDGAR ALLAN POEs Geschichte einer Schatzsuche, The Gold Bug, oder in WASHINGTON IRWINGs Rip Van Winkle (1819/20), die als die erste Kurzgeschichte von literarischem Rang gilt.
EDGAR ALAN POE wird als der Begründer der amerikanischen Kurzgeschichte bezeichnet. Seine Erzählungen handeln von psychologischen Ausnahmezuständen, dem Verderben und dem Übernatürlichen. POE gilt auch als einer der Begründer der Detektivliteratur.
„True! - nervous - very, very dreadfully nervous I had been and am; but why will you say that I am mad? The disease had sharpened my senses - not destroyed - not dulled them. Above all was the sense of hearing acute. I heard all things in the heaven and in the earth. I heard many things in hell. How, then, am I mad? Hearken! and observe how healthily - how calmly I can tell you the whole story.“
(EDGAR ALLAN POE, The Tell-Tale Heart)
Mit diesem offenen Einstieg in die Geschichte wird das Interesse des Lesers sofort eingefangen. Die ersten Sätze werfen viele Fragen auf, auf die der Leser im Folgenden eine Antwort zu finden sucht: Wer spricht? In welcher Situation befindet sich diese Person? Was ist zuvor geschehen?
Mit dem Ich-Erzähler hat POE zudem eine sehr subjektive Erzählperspektive ausgewählt; die Zuverlässigkeit des Erzählers wird schon bald angezweifelt, und der Leser sucht selbständig nach einer Antwort auf die Frage des Erzählers Why will you say that I am mad?
NATHANIEL HAWTHORNEs Kurzgeschichten, z. B. The Minister's Black Veil und Dr. Heidegger's Experiment beschäftigen sich auch mit den inneren Vorgängen der Hauptfiguren und ihren Motiven. Bedeutende Beiträge HERMAN MELVILLEs zur Gattung der Short Story sind Bartleby the Scrivener, Benito Cereno und die Parabel The Lightning-Rod Man (1856).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wiegen Kurzgeschichten des Realismus vor, die eine möglichst wirklichkeitsgetreue Darstellung der Figuren und Handlungen anstreben. Wichtige Autoren dieser Richtung sind MARK TWAIN (1835-1910), BRET HARTE (1836-1902), JACK LONDON (1876-1916), STEPHEN CRANE (1871-1900) und AMBROSE BIERCE (1842-1914).
Die moderne Kurzgeschichte konzentriert sich auf die Analyse einer einzigen Handlung, die in der Regel eine besondere Bedeutung im Leben der Hauptfigur besitzt. Oft geht es um Entscheidungen von großer Tragweite, den Aufbruch in eine neue Lebensphase oder eine neue Erfahrung, die entweder Klarheit oder aber auch Enttäuschung nach sich ziehen kann.
In der modernen Kurzgeschichte steht weniger die Handlung im Vordergrund; sie dient vielmehr als Spiegel oder Auslöser psychologischer Abläufe und zwischenmenschlicher Beziehungen.
Wichtige Autoren dieses modernen Typus der Kurzgeschichte sind SHERWOOD ANDERSON (1876-1941) und ERNEST HEMINGWAY (1899-1961).
HEMINGWAY, auch Autor der Romane For Whom the Bell Tolls und The Old Man and the Sea, hat in seinen Kurzgeschichten das Merkmal der Konzentration perfektioniert. Durch seine kommentarlose, knappe und äußerst präzise Sprache gelingt es ihm, das Wesentliche einer Situation in wenigen Worten zu umreißen. Die Spannung, die in einer Situation oder in einer Beziehung liegt, wird für den Leser ohne Einschaltung von Erklärungen oder Kommentaren wahrnehmbar. Bekannte Short Stories von HEMINGWAY sind A Day's Wait, Old Man at the Bridge, Canary for One, Cat in the Rain.
Weitere amerikanische Short Story-Autoren von Bedeutung sind:
JOHN STEINBECK (1902-1968): The Raid, Chrysanthemums, The Red Pony.
TRUMAN CAPOTE (1924-1984): Seine Kurzgeschichten, die reich sind an sprachlichen Bildern und lyrischen Ausdrucksweisen, handeln von Einsamkeit, Sehnsüchten und Ängsten. Von ihm stammen die Kurzgeschichtensammlungen A Tree of Night and Other Stories (1949) und Breakfast at Tiffany's (1958).
WILLIAM FAULKNER (1897-1963) (A Rose for Emily) dringt tief in die seelischen Abläufe seiner Figuren ein.
JOHN UPDIKE (1932-2009): veröffentlichte mehrere Kurzgeschichtenbände, z. B. Pigeon Feathers (1962) mit den Geschichten A & P. UPDIKE zählt zu den hervorragendsten zeitgenössischen Autoren der amerikanischen Literatur.
WILLIAM SAROYAN (1908-1981): The Daring Young Man on the Flying Trapez (1934), My Name is Aram (1940).
JEROME DAVID SALINGER (1919-2010): Die Handlung seiner Geschichten umspannt die Mitglieder der Familie Glass: Beziehungsthemen wie Entfremdung, Missverstehen und Vereinsamung werden auf einfühlsame Weise präsentiert. Nine Stories (1953), Fanny and Zooey (1961), Raise High the Roof Beam, Carpenters and Seymour (1963).
BERNARD MALAMUD (1914-1986) gibt in seinen Geschichten die Erlebnisse der jüdischen Einwanderer in Amerika wieder: die Begegnung mit der als feindselig empfundenen neuen Umgebung und das Streben nach besseren Lebensbedingungen. Sammlungen von MALAMUD sind The Magic Barrel (1958), Idiots First (1963), Rembrandt's Hat (1973).
KURT VONNEGUT (1922-2007) schreibt zum Teil satirische, in der Zukunft stattfindende Geschichten, z. B. Harrison Bergeron und Tomorrow and Tomorrow and Tomorrow, beide aus der Sammlung Welcome to the Monkey House (1968).
DONALD BARTHELME (1931-1989) schrieb zum größten Teil satirische und humorvolle Kurzgeschichten, z. B. e.g. Me and Miss Mandible.
JOYCE CAROL OATES (1938), auch Autorin zahlreicher Romane, behandelt in ihren Short Stories Alltagssituationen und die gesellschaftlichen Verhältnisse der Gegenwart.
Im 20. Jahrhundert wurde die narrative Form der Short Story von britischen Autoren (z. B. JAMES JOYCE, DAVID HERBERT LAWRENCE, ALAN SILLITOE, JOHN WAIN) sowie Commonwealth-Autoren (z. B. KATHERINE MANSFIELD, JANET FRAME) übernommen. Kurzgeschichten werden inzwischen thematisch zugeordnet, z. B. Stories of Black Experience) oder nach der Herkunft der Autoren, Immigrant Stories oder Hispanic Stories.
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