Formenlehre: Geschichte und Prinzipien

Dies gilt für die meisten Kompositionen der „klassischen“ abendländischen Musiktradition ebenso wie für ein improvisiertes Jazz-Solo. Viele andere Musikstile und -gattungen dagegen beziehen ihre Wirkung auf Musiker und Hörer gerade nicht aus dem Erlebnis eines vom Komponisten vorherbestimmten Ablaufs: afrikanische Trommelmusik, indischer Raga, die Minimal Music, ... .

Die Formenlehre hat daher zu prüfen, ob die von ihr verwendeten Begriffe und Kategorien dem Gegenstand, den sie beschreiben will, überhaupt angemessen sind. Ohne Begriffe, Schemabildung und Kategorisierung kommt die Formenlehre allerdings nicht aus, denn sie will musikalische Abläufe hauptsächlich mit sprachlichen Mitteln beschreiben, verständlich machen und deuten (wobei Mittel grafischer Darstellung behilflich sind). Musik kann aber nicht restlos in Sprache aufgehen, weil sie eine eigene Art von Sprache ist. Die Beschreibung einer musikalischen Form wird sich dem Musikstück also immer nur nähern können.

Die Kategorisierung mittels Begriffen birgt noch andere Probleme:

  • Einerseits sind Kategorien mit ihrer notwendigen Abstrahierung und Simplifizierung für das Verständnis eines Werkes vor seinem historischen und stilistischen Hintergrund unabdingbar: Ein analytischer Zugang zu einer Bachschen Fuge öffnet sich erst, wenn der musikgeschichtliche Hintergrund der Kompositionsgattung „Fuge“ bekannt ist.
     
  • Andererseits lässt sich jede Kategoriebildung anhand von Einzelwerken widerlegen, weil die meisten Kunstwerke gleichzeitig mit der Benutzung musikalischer Konventionen und Muster auch deren individuelle Ausprägung und Abwandlungen zeigen.
     
  • Die Anwendung von kategorisierenden Begriffen in der Formenlehre („die Sonatenform“) birgt zudem die Gefahr des Missverständnisses, Komponisten hätten sich nach den Vorgaben einer Formenlehre gerichtet. Die historische Wirklichkeit ist vielmehr die, dass die Formenlehre aus der Menge von Kompositionen, die bestimmte Mittel der formalen Gestaltung benutzt haben, aus einem gewissen zeitlichen Abstand heraus eine Schnittmenge bildet und daraus Form- und Gattungstypen ableitet und formuliert.

Auch die Formenlehre selbst hat bereits ihre Geschichte:
Im 19. Jahrhundert wurden die Formen der klassischen Instrumentalmusik zu Idealtypen, und deren Kategorien wie Entwicklung und Folgerichtigkeit wurden später auch zur Analyse anderer Musik herangezogen, wie Musik der Renaissance, des 20. Jahrhunderts oder aus nicht-abendländischen Traditionen; die Formbildungen mancher Epochen wurden als unvollkommene „Vorstufen“ oder „primitive“ Randformen bewertet.

Hatte dies zeitweise zur Verengung des Blicks geführt, bemüht sich die Formenlehre heute in allen Stilbereichen um eine autonome und materialgerechte Beschreibung der Formbildung. Auch zwischen den Positionen der Abstrahierung und allgemeingültigen Kategoriebildung einerseits und einer nur am Einzelfall orientierten Sichtweise andererseits hat sich eine differenzierte Haltung des Ausgleichs entwickelt: Kein Kunstwerk geht deckungsgleich in einer Formkategorie auf, aber kein Kunstwerk kann auch ganz verstanden werden ohne Berücksichtigung der kompositorischen Standards, von denen es sich zur Zeit seiner Entstehung abhob.

Grundprinzipien musikalischer Gestaltung

Die folgenden (melodischen, harmonischen und rhythmischen) Grundprinzipien musikalischer Gestaltung gibt es – im Großen und im Kleinen:

  • Wiederholung,
  • Reihung,
  • Wiederkehr,
  • Variante und
  • Kontrast.

Wiederholung stiftet Zusammenhang und bringt ein Moment der Ruhe und Voraussehbarkeit in den musikalischen Ablauf. Andererseits kann Wiederholung als bestimmendes Prinzip Zustände der Trance und Ekstase hervorrufen, besonders im Zusammenhang mit Stimulation zur Bewegung, wie in afrikanischer Trommelmusik oder in einigen Stilformen des Jazz.

Reihung nennt man die Aufeinanderfolge mehrerer Gedanken, Formteile oder ganzer Musikstücke. Die Reihungselemente können beziehungslos nebeneinanderstehen, können aber auch untereinander einen inneren Bezug haben oder in eine größere Form eingebunden sein, etwa durch Zugehörigkeit zu einem Zyklus. Die Reihungselemente gehen nicht auseinander hervor, sondern stehen gleichberechtigt nebeneinander. Eine Reihung hat prinzipiell ein offenes Ende, wie z.B. Lieder, bei denen improvisatorisch neue Strophen angefügt werden können.

Bei der Wiederkehr (Reprise) folgt auf eine erzählte Episode, auf den ersten Gedanken oder Abschnitt eines Musikstücks ein zweiter, kontrastierender Teil der Erzählung oder des Musikstücks; der dritte Teil schließlich führt zur Thematik des Anfangs zurück und lässt diese in neuem Licht erscheinen.

Variante und Kontrast bezeichnen eine direkte Beziehung zweier musikalischer Gedanken und sind grundlegende Elemente der klassischen Motiventwicklung. Variante ist Veränderung, aber nicht in allen Eigenschaften. Sie ist rückbezogen auf Vorangegangenes.

Beim Kontrast sind musikalische Elemente oder Formteile zueinander gegensätzlich. Kontrast wirkt trennend, kann aber auch ergänzend wirken, wenn ihm auf einer anderen Ebene des Materials Analogie gegenübersteht: Zwei kontrastierende Soli über identisch gestalteten Jazz-Chorussen vereinen trennende und verbindende Elemente.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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