- Lexikon
- Deutsch Abitur
- 4 Literaturgeschichte
- 4.7 Literatur des 18. Jahrhunderts
- 4.7.2 Sturm und Drang
- Götz von Berlichingen
JOHANN WOLFGANG VON GOETHEs Drama „Götz von Berlichingen“ entstand 1773, während der Sturm-und-Drang-Phase des Dichters.
„Wir trieben uns“
schrieb der Autor später in seiner Autobiografie „Dichtung und Wahrheit“,
„auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt und unbewußt, willig oder unwillig, unaufhaltsam mitwirkten.“
Diese deutsche literarische Revolution war eben die sogenannte „Genieperiode“, der Sturm und Drang, und er fand verblüffend neue Stoffe und Themen für die Literatur. Er griff tradierte Stoffe auf, um sie unter völlig neuen Gesichtspunkten zu verarbeiten. Zwar löste man sich ideologisch nicht vom kantschen Aufsatz „Was ist Aufklärung“, jedoch entdeckte man JEAN JAQUES ROUSSEAUs „Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen.“ („Discours sur l'Origine de l'Inégalité parmi les Hommes“), ein Werk, das Ergebnis einer Preisfrage der Akademie von Dijon unter der Fragestellung „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ist sie durch das Naturgesetz gerechtfertigt?“ war. Mit seinem Diskurs hatte ROUSSEAU eine umfassende und radikale Kultur- und Zivilisationskritik vorgelegt, die den ganzheitlichen „Naturmenschen“ zum Leitbild erhob. Als Ursachen für die Ausbildung der gesellschaftlichen Ungleichheit unter den Menschen sah er die Errungenschaften der Zivilisation, das Eigentum, die Entfaltung des Verstandes, die Gesetzgebungen usw. So müsse der Mensch „degenerieren“. Der ahnungslose „Wilde“ dagegen allein sei nicht fremdbestimmt, verfüge über seine Freiheit, sei gut und friedfertig. In diesem Sinne forderten die Stürmer und Dränger
„die Emanzipation des ganzheitlichen Menschen, die schöpferische allseitige Persönlichkeit für ihre Epoche ein“
(Matthias Dannenberg),
die Autonomie der Persönlichkeit.
In diesem Sinne erreicht dieses neue Menschenbild eine neue ästhetische Dimension. Es rankt sich um die Zentralbegriffe von Aufklärung und Sturm und Drang:
Diese vier Begriffe stellen für die Stürmer und Dränger eine Einheit dar. Freiheit ist ohne Gefühl, Natur und Vernunft nicht erreichbar. Sie gehen noch weiter in ihrem Denken und räumen dem Irrationalen – Herz, Gefühl, Trieb – die größte Bedeutung zu. Nach HERDER manifestiert sich in diesem Irrationalen die „Urkraft“, das „Original“, also das Genie.
Am nachhaltigsten war für die Stürmer und Dränger die Entwicklung des Genie-Gedankens.
„Genie: seit dem Sturm und Drang ... Bezeichnung für die Schöpferkraft und die Originalität des Künstlers und zugleich für die Person, in der diese Fähigkeiten vereinigt sind“,
heißt es im Schülerduden Literatur zu diesem Begriff.
DENIS DIDEROT definierte in seiner Enzyklopädie (siehe PDF "Denis Diderot - Genie"):
„Geistige Weite, Einbildungskraft und seelische Regsamkeit: all das zusammen bedeutet 'Genie'. Von der Weise, wie man seine Ideen empfängt, hängt die Weise ab, wie man sie sich ins Gedächtnis zurückruft. Der in die Welt geworfene Mensch empfängt mit mehr oder weniger lebhaften Empfindungen Ideen von allen Dingen. Die meisten Menschen bekommen lebhafte Empfindungen nur durch den Eindruck von den Gegenständen, die eine unmittelbare Beziehung zu ihren Bedürfnissen, ihrer Neigung usw. haben. Alles, was ihren Leidenschaften fremd ist, und alles, was ihrer Daseinsweise nicht verwandt ist, wird von ihnen entweder gar nicht wahrgenommen oder nur einen Augenblick gesehen, aber nicht empfunden; und dann für immer vergessen.
Genial ist der Mensch, dessen Seele die größte Weite hat, also von allen Dingen Empfindungen erfährt, Anteil an allem nimmt, was in der Natur existiert, und deshalb keine Idee empfängt, ohne daß in der Seele ein Gefühl geweckt wird. Alles belebt die Seele und bleibt darin bewahrt.“
(vgl. PDF "Denis Diderot - Genie")
Den Geniebegriff SHAFTESBURYs findest du in PDF "Johann Georg Sulzer - Allgemeine Theorie der Schönen Künste (Auszug)" .
Den Plan für das Drama „Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand“ (siehe PDF "Johann Wolfgang Goethe - Götz von Berlichingen") trug GOETHE schon als 21-Jähriger mit sich herum, als er zum Studium nach Straßburg ging. Über seine Beweggründe zum Schreiben des Schauspiels schrieb er in „Dichtung und Wahrheit“ rückblickend:
„Durch die fortdauernde Teilnahme an Shakespeare's Werken hatte ich mir den Geist so ausgeweitet, dass mir der enge Bühnenraum und die kurze, einer Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas Bedeutendendes vorzutragen. Das Leben des biederen Götz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben, trieb mich in eine historische Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus, dass auch meine dramatische Form alle Theatergrenzen überschritt und sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nähern suchte. .... fing ich eines Morgens zu schreiben an, ohne daß ich einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt hätte. Ich schrieb die ersten Szenen, und abends wurden sie Cornelien vorgelesen. Sie schenkte ihnen vielen Beifall, jedoch nur bedingt, indem sie zweifelte, daß ich so fortfahren würde, ja sie äußerte sogar einen entschiedenen Unglauben an meine Beharrlichkeit. Dieses reizte mich nur um so mehr, ich fuhr den nächsten Tag fort, und so den dritten; die Hoffnung wuchs bei den täglichen Mitteilungen, auch mir ward alles von Schritt zu Schritt lebendiger, indem mir ohnehin der Stoff durchaus eigen geworden; und so hielt ich mich ununterbrochen ans Werk, das ich geradeswegs verfolgte, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links zu sehn, und in etwa sechs Wochen hatte ich das Vergnügen, das Manuskript geheftet zu erblicken.“
(vgl.: PDF "Johann Wolfgang von Goethe - Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit")
Im selben Werk charakterisierte er seinen Helden als „Gestalt eines Selbsthelfers in wilder archaischer Zeit“:
„Die Lebensbeschreibung des (Götz) hatte mich im Innersten ergriffen. Die Gestalt eines rohen, wohlmeinenden Selbsthelfers in wilder anarchischer Zeit erregte meinen tiefsten Anteil.“
(ebenda)
In der Figur des Götz sieht sein Verfasser das idealisierte Genie, den „wilden“, (reichs)freien Kerl, der schlussendlich scheitern muss an der Herausbildung des Absolutismus. Deutlich wird sein Freiheitsbedürfnis und der sich daran koppelnde Konflikt an den ersten und letzten Worten des Götz im Schauspiel:
„Es wird einem sauer gemacht, das bißchen Leben und Freiheit.“ (1. Akt, 2. Szene: Herberge im Wald)
„Es kommen die Zeiten des Betrugs, es ist ihm Freiheit gegeben. Die Nichtswürdigen werden regieren mit List, und der Edle wird in ihre Netze fallen.“ (5. Akt, letzte Szene: Gärtchen am Turn)
(vgl. PDF "Johann Wolfgang Goethe - Götz von Berlichingen")
Götz stirbt, wissend, dass eine gesellschaftliche Phase der Angepassten angebrochen ist, die alte Ordnung und Freiheit existieren nicht mehr:
„Maria. Edler Mann! Edler Mann! Wehe dem Jahrhundert, das dich von sich stieß!
Lerse. Wehe der Nachkommenschaft, die dich verkennt!“
Die Gegenfigur zum Götz ist Weislingen, der den Schritt vom Ritter zum höfischen Beamten gewagt hat. Götz über seinen einstigen Freund:
„Verkennst den Wert eines freien Rittersmanns, der nur abhängt von Gott, seinem Kaiser und sich selbst! Verkriechst dich zum ersten Hofschranzen eines eigensinnigen neidischen Pfaffen!“
In diesen Worten spiegelt sich Zeitkolorit: Der Absolutismus in Deutschland, den GOETHE erlebte, war ein Absolutismus der weltlichen und geistlichen Fürsten. Das Oberhaupt des „Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“, der Kaiser, regierte faktisch nur in seinen Stammlanden. Die Machtstrukturen in Gesellschaft und Politik waren – im Gegensatz zu Frankreich – durch Landesherrschaft gekennzeichnet. Jedes kleine Fürstentum erhob eigene Zölle, prägte eigene Münzen. Die Untertanen waren der landesherrlichen Gerichtsbarkeit unterstellt. Einstige reichsfreiherrliche Ritter dienten den Landesherren als Beamte.
Das berühmteste Zitat der Weltliteratur wurde seit der zweiten Auflage nicht mehr gedruckt: Oft wird es nur mit ... zitiert oder man bedient sich des ersten Buchstaben des Hauptwortes: A. Die vorliegende Fassung lässt das Zitat mit - - - ganz fort. Im Original aber steht tatsächlich:
„Götz (antwortet): Mich ergeben! Auf Gnad und Ungnad! Mit wem redt Ihr! Bin ich ein Räuber! Sag deinem Hauptmann: Vor Ihro Kaiserliche Majestät hab ich, wie immer schuldigen Respekt. Er aber, sag's ihm, er kann mich im Arsch lecken! (Schmeißt das Fenster zu.)“
Die letzten drei Worte stellten eine Provokation dar, deshalb wurden sie einfach gestrichen, aber den Zuschauern war natürlich klar, welche Worte da folgen sollten.
GOETHE entlehnte diese Worte der Autobiografie des historischen GÖTZ VON BERLICHINGEN, wo es heißt:
„Ich aber schrie zu ihm hinauf:
Hinten zu! Hintenzu,
da magst Du mich hinten lecken!“
Der historische GÖTZ VON BERLICHINGEN entstammte einem alten schwäbischen Adelsgeschlecht. Er wurde um 1480 auf der Stammburg der Familie in Jagsthausen geboren. Er wurde Ritter wie seine Vorfahren, d. h. er musste die höfischen Sitten und das Waffenhandwerk erlernen. Allerdings war die große Zeit des Rittertums schon vorbei. Seine Ausbildung war im Reich nicht mehr gefragt, Söldner hatten die Aufgaben des Kriegers übernommen. Allerdings verdiente man sich durch das Ausrauben fremder Kaufleute und zahlreiche Kleinkriege mit anderen Rittern seinen Lebensunterhalt. Diese Ritter nannte man Raubritter. Ein solcher wurde GÖTZ. Er überfiel Kaufmannszüge, führte Fehden gegen geistliche Fürsten und die Städte Nürnberg und Köln.
In der Schlacht von Landshut (Landshuter Erbfolgekrieg, 1504) verlor er seine rechte Hand. Man passte ihm eine eiserne an. 1512 und 1518 wurde die Reichsacht über ihn verhängt. Er trat in die Dienste des Herzogs ULLRICH VON WÜRTTEMBERG und kämpfte gegen den Schwäbischen Bund. Wegen seiner Beteiligung am Bauernkrieg (er hatte die Führung der fränkischen Bauern im Odenwald übernommen, jedoch seine Leute während des Kampfes um Würzburg im Stich gelassen) wurde er 1528 bis 1530 gefangengenommen. Mehrere Jahre prozessierte er und wurde vom Reichskammergericht schließlich freigesprochen.
1542 kämpfte er unter KARL V. gegen die Türken und zwei Jahre später gegen die Franzosen. Seine Erinnerungen inspirierten GOETHE zu seinem Drama „Götz von Berlichingen“. GÖTZ VON BERLICHINGEN starb am 23.7.1562 auf Burg Hornberg (Neckarzimmern).
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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