- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 4 Gesellschaft im Wandel
- 4.3 Sozialer Wandel
- 4.3.2 Wandel der Werte und der politischen Kultur
- Wertewandel und Politikverdrossenheit
Der soziale Wandel in der bundesrepublikanischen Gesellschaft wird von einem Wertewandel begleitet. Das bedeutet, dass sich gesellschaftliche oder kulturelle Wertvorstellungen in der Bevölkerung grundlegend und längerfristig verändern.
Werte sind allgemeine Prinzipien, die die Einstellungen eines Menschen zu konkreten Themen oder Phänomen prägen. Als übergeordnete Auffassungen vom wünschenswerten Ideal bilden sie Zielorientierungen des Handelns.
In der Bundesrepublik Deutschland setzte Mitte der 1960er-Jahre vor allem in der jüngeren Generation ein beschleunigter Wertewandel ein: im Zuge des Studentenprotests (1968) und der Herausbildung der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren (Umwelt-, neue Frauen-, Friedens-, Dritte-Welt-, Bürger- und Menschenrechtsbewegung).
Dieser grundlegende Wertewandel fand in allen demokratischen Wohlfahrtstaaten statt, in denen durch sozialstaatliche Politik die materielle Versorgung und Sicherheit der Bürger zunehmend gewährleistet war.
Der Soziologe HELMUT KLAGES beschrieb als wichtige Tendenz des Wertewandels einen Bedeutungsverlust der Pflicht- und Akzeptanzwerte wie
und eine Stärkung der Selbstentfaltungswerte.
Wertewandel ist ein langfristiger Prozess, in dem die Wertewelt in einer Gesellschaft anders gewichtet und akzentuiert wird: Neue Werte treten gleichberechtigt neben traditionelle Werte, ersetzen oder ergänzen sie. Wichtigstes Kennzeichen des Wertewandels seit den 1960er-Jahren ist eine zunehmende Individualisierung und Pluralisierung der Werte d. h. der traditionelle bürgerliche Wertekanon verliert seine Monopolstellung.
Der Wertewandel in der bundesrepublikanischen Gesellschaft erfasste alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens und wirkte sich grundlegend auf die individuellen Vorstellungen von
aus. Der Wandel der Werte ist auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens mit einem Emanzipationsprozess des Einzelnen verbunden: Der moderne Mensch kann selbstständiger und individueller handeln, ist für seine Entscheidungen und die Folgen seines Handelns (in Bezug auf das eigene Leben, die Mitmenschen und die Umwelt) aber auch stärker verantwortlich. Gesellschaftliche Normen, Rollen und Pflichten werden in ihrer Geltung hinterfragt, d. h. Werte können nach Überzeugung gewählt und in einer individuellen Lebensgestaltung (Familie, Ausbildung, Beruf, Freizeit) kombiniert werden. Das Individuum hat mehr Wahl- und Gestaltungsfreiheit in seiner Lebensweise (Wahlbiografie), muss aber auch mehr Verantwortung tragen (Entscheidungsdruck).
Gleichzeitig wird im Zuge der Krise des Sozialstaats und einer sich wandelnden Arbeitswelt vom Bürger zunehmend mehr
gefordert (hoher Anspruch an Lebensplanung).
Der gesellschaftliche Wertewandel wurde als Fortschritt hin zu mehr Freiheit und Partizipation der Bürger interpretiert, aber auch negativ als Werteverfall beklagt und für zahlreiche Krisenerscheinungen in der Gesellschaft verantwortlich gemacht. Die Schwächung der Pflicht- und Akzeptanzwerte und Stärkung der Selbstentfaltungswerte sei die Ursache für
Entgegen der These des „Werteverfalls“ zeigt sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Gegenwart aber eine komplexe, pluralistische Wertewelt , in der unterschiedlichste Wertorientierungen nebeneinander bestehen und sich individuell oder gruppenspezifisch mischen können, z. B.
Im Übergang von der Vollzeiterwerbsgesellschaft zur mobilen, flexiblen Arbeitswelt mit wachsender Freizeit muss der Einzelne immer wieder neu ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, Beruf und Familie finden (Work-Life-Balance).
In den 1990er-Jahren wurde die Vorstellung eines „nachhaltigen Wohlstands“ zunehmend wichtiger, die als Zielorientierung einer humanen Gesellschaft im Sinne einer menschengerechten und umweltfreundlichen Produktions- und Lebensweise dient: Der Bürger soll sich individuell entfalten und entwickeln können, seine Freiheiten aber im Rahmen sozialer und ökologischer Verträglichkeit verantwortlich wahrnehmen. Auch Werte der Zivil- und Bürgergesellschaft:
haben als Fundament einer lebendigen, demokratischen Kultur an Bedeutung gewonnen.
In einer parlamentarisch-repräsentativen Demokratie wie der Bundesrepublik Deutschland sind Wahlen die allgemeinste Form politischer Beteiligung.
Neben der Stimmabgabe bei Wahlen hat der Bürger verschiedene Möglichkeiten politischer Partizipation und bürgergesellschaftlichen Engagements, um für seine politische Meinung zu werben, sich mit anderen gemeinsam für politische Ziele einzusetzen und seine Interessen aktiv zu vertreten.
In der bundesdeutschen Bevölkerung – insbesondere in der jungen Generation – wurden in den 1990er-Jahren verschiedene Krisenphänomene in Bezug auf das politische Engagement der Bürger festgestellt:
Diese Tendenzen wurden als alarmierend für die demokratische politische Kultur interpretiert und häufig auf „Politikverdrossenheit“ zurückgeführt.
„Politikverdrossenheit“ bezeichnet eine negative oder neutrale Haltung der Bürger gegenüber politischen Themen, Phänomenen oder Akteuren (Desinteresse, Ablehnung, Unzufriedenheit, Misstrauen).
„Politikverdrossenheit“ ist ein Schlagwort, das die öffentliche Debatte in den 1990er-Jahren stark geprägt hat; auf Grund der Unbestimmtheit des Begriffs muss die jeweilige Ausprägung der „Politikverdrossenheit“ genauer bestimmt werden.
Mögliche Folgen von Politikverdrossenheit können sich z. B.
äußern.
In der bundesrepublikanischen Gesellschaft zeigt sich kein allgemeines Desinteresse an Politik oder eine fundamentale Ablehnung der Grundprinzipien freiheitlicher Demokratien. Häufig handelt es sich um Unzufriedenheit oder mangelndes Vertrauen gegenüber Politikern und Parteien als Repräsentanten der Politik. Deshalb wird häufig auch von Politiker- oder Parteienverdrossenheit gesprochen.
Zufriedenheit mit der Demokratie in Deutschland und der damaligen EU
breite Zustimmung zur demokratischen Idee und den Grund-prinzipien freiheitlicher Demokratien (demokratische Einstellung) |
geringe Zufriedenheit mit der aktuellen Funktionsweise und Leistungsfähigkeit des politischen Systems in der Bundesrepublik |
wenig Vertrauen in etablierte Politikinstitutionen (z. B. Parteien, Bundesregierung) und in die Bereitschaft politischer Akteure, die Bedürfnisse und Interessen der Bürger zu berücksichtigen |
hohes Vertrauen in Institutionen der Exekutive und Judikative (z. B. Polizei, Gerichte) und – besonders in der jungen Generation – in nichtetablierte Politikinstitiutionen (wie Bürgerinitiativen, NGOs wie Greenpeace) |
Auch Jugendliche und junge Erwachsene zeigen Interesse an Politik (Bild 2) und gesellschaftlichen Problemstellungen sowie eine grundsätzliche Bereitschaft zum politischen Engagement. Im Vergleich zur älteren Generation haben sich jedoch der Zugang zum Politischen sowie die Organisationsformen politischen Engagements grundsätzlich geändert:
Die neuen Möglichkeiten des Kommunikationsmediums Internet und das politische Engagement Jugendlicher stehen in einem engen Zusammenhang, da sie dem Interesse nach flexibler und punktueller Beteiligung entgegenkommen.
Politisches Interesse im zeitlichen Vergleich 1984–2010
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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