- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 2 Demokratie in Deutschland
- 2.3 Politische Meinungs- und Willensbildung
- 2.3.3 Partizipation und Repräsentation
- Volksbegehren, Bürgerbegehren
Bei Volks- und Bürgerbegehren zwingt die Wahlbevölkerung Regierung oder Parlament, sich mit bestimmten politischen Fragen auseinanderzusetzen, beispielsweise gesetzgeberisch tätig zu werden oder sich mit einer von den Initiatoren des Volksbegehrens erarbeiteten Gesetzesvorlage zu befassen. Bei Volks- und Bürgerentscheiden stimmt der Bürger über eigene Gesetzentwürfe (Volksgesetzgebung) oder über Gesetzesvorlagen der Regierung bzw. des Parlaments (Referendum) ab. Daneben gibt es noch weitere Formen der direkten Demokratie wie
Auf Bundesebene gibt es keine direktdemokratischen Mitbestimmungsverfahren, obwohl sie laut Grundgesetz durchaus zulässig wären. Denn in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 GG heißt es ganz allgemein, die Staatsgewalt werde
„vom Volke in Wahlen und Abstimmungen“
ausgeübt. Doch wegen der Erfahrungen der Weimarer Zeit entschied sich der Parlamentarische Rat 1948/49 eindeutig für das repräsentative Regierungssystem, in dem der Bürger indirekt durch die von ihm gewählten Vertreter an der politischen Willensbildung mitwirkt. Plebiszitäre Elemente wurden in der Verfassung somit nicht näher konkretisiert.
Einzige Ausnahme von diesem Prinzip ist Art. 29 GG zur Neugliederung von Bundesländern. Dort heißt es in Abs. 2 Satz 1:
„Maßnahmen zur Neugliederung des Bundesgebietes ergehen durch Bundesgesetz, das der Bestätigung durch Volksentscheid bedarf.“
In Abs. 4 ist ferner vorgesehen, dass ein Teil der betroffenen Bevölkerung durch ein Volksbegehren selbst die Initiative zur Neugliederung ihres Gebietsteils ergreifen kann. Anschließend ist durch Bundesgesetz entweder zu bestimmen,
„ob die Landeszugehörigkeit gemäß Absatz 2 geändert wird, oder dass in den betroffenen Ländern eine Volksbefragung stattfindet.“
Bislang wurde das Instrument der Volksentscheide über eine Neugliederung des Bundesgebietes bzw. einzelner Bundesländer allerdings selten genutzt:
In allen Bundesländern findet sich in den jeweiligen Landesverfassungen die Möglichkeit zur Volksgesetzgebung auf Länderebene. Mittlerweile ist in einigen Landesverfassungen darüber hinaus das Instrument der Volksinitiative, das die Parlamente zur Befassung mit bestimmten Fragen zwingt, vorgesehen. Solche Volksinitiativen können in Volksbegehren oder Volksentscheiden münden.
In der Praxis variiert die Ausgestaltung des zweistufigen Verfahrens – erst das Volksbegehren, dann der Volksentscheid – erheblich. So sind die Beteiligungsquoren für Volksbegehren zu einfachen Gesetzesvorlagen, d. h. ohne verfassungsändernde Wirkung, mit einer Spanne von 4 bis 20 % der Wahlberechtigten in den Bundesländern unterschiedlich hoch (Berlin 10 %). Diese Quoren werden ergänzt durch eine zeitliche Frist, in der die notwendigen Unterschriften zu sammeln sind. Sie liegt in den verschiedenen Ländern zwischen zwei Wochen und sechs Monaten (Berlin vier Monate).
Beim anschließenden Volksentscheid treten in den meisten Ländern neben der notwendigen einfachen Mehrheit der abgegebenen Stimmen noch Zustimmungsquoren, die zwischen 25 und 50 % – in Berlin bei einem Drittel – aller Wahlberechtigten liegen, hinzu. Bei verfassungsändernden Vorlagen, zu denen in Berlin keine Volksbegehren bzw. -entscheide möglich sind, sind die zu erreichenden Quoren noch höher.
Bestimmte Themen sind der Volksgesetzgebung auf Länderebene nicht zugänglich: Zum einen, weil der Bund viele Materien selbstständig regeln kann, zum anderen, weil wegen des Budgetrechts der Legislative alle finanziell wirksamen Entscheidungen allein den Länderparlamenten obliegen (Finanzvorbehalt oder auch „Finanztabu“). In Berlin bestimmt Art. 62 Abs. 5 der Verfassung beispielsweise eindeutig:
„Volksbegehren zur Verfassung, zum Landeshaushalt, zu Dienst- und Versorgungsbezügen, Abgaben, Tarifen der öffentlichen Unternehmen sowie Personalentscheidungen sind unzulässig.“
Auf kommunaler Ebene sind die partizipativen Elemente als wichtige Ergänzung des herkömmlichen Kommunalwahlrechts am weitesten entwickelt: Im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung sind in den Gemeindeordnungen – z. T. auch Kommunalverfassungen genannt – aller 16 Bundesländer Bürgerbegehren und Bürgerentscheide als Beteiligungsrechte fest verankert. Seit ihrer schrittweisen Einführung in den 1990er-Jahren gab es bereits über 1 200 Bürgerbegehren oder Bürgerentscheide.
Für den Stadtstaat Berlin, dessen Bezirke kein echtes Selbstverwaltungsrecht besitzen, gilt allerdings eine Ausnahme: Zwar wurde hier das Bürgerbegehren auf Bezirksebene bereits 1978 eingeführt, es stellt jedoch nur eine formalisierte Massenpetition an die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) dar. Lehnt die BVV das Begehren ab, endet das Verfahren. Ein Bürgerentscheid ist nicht möglich.
Allgemein gleicht das Prozedere der kommunalen Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in den verschiedenen Gemeindeordnungen den in den übergeordneten Länderverfassungen festgelegten Regeln für Volksbegehren und Volksentscheide:
Obwohl die Anwendung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheid, die auch vom Gemeinderat selbst initiiert werden (Ratsreferendum), die kommunale Bürgerkultur belebt hat, fällt die Bilanz aus Sicht eines Befürworters beider Instrumente gespalten aus:
„Hohe Quoren für Antrag, Begehren und Entscheid, die Beschränkung auf ‚wichtige Angelegenheiten‘, lange Negativkataloge von Themen, für die Bürgerentscheide ausgeschlossen bzw. exklusiv dem Rat bzw. dem Bürgermeister vorbehalten sind (…), kennzeichnen die Verankerung der Bürgerentscheide in den meisten Kommunalverfassungen und machen sie schon deshalb zu Ausnahmeverfahren“
(ROTH, ROLAND: Die Kommune als Ort der Bürgerbeteiligung, in: KLEIN, ANSGAR/ SCHMALZ-BRUNS, RAINER (Hrsg.): Politische Beteiligung und Bürgerengagement in Deutschland. Möglichkeiten und Grenzen, Bonn 1997, S. 431).
Vor allem in den Kommunen, aber auch in den Bundesländern, sind Volks- und Bürgerbegehren durchaus etabliert. Offen bleibt, ob es in Zukunft auch auf Bundesebene eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie durch solche Instrumente geben wird. Pro und Kontra:
Für die Einführung partizipativ-plebiszitärer Elemente – also der direkten Demokratie durch Volksbegehren oder Volksentscheide – sprechen einige Argumente:
Allerdings lassen sich auch gewichtige Argumente gegen die Ausweitung solcher Elemente auf Bundesebene finden:
Je nach Gewichtung der genannten Argumente werden plebiszitäre Elemente sowohl als Bereicherung als auch als Gefährdung der deutschen Politik gesehen. Plebiszitäre und repräsentative Demokratie sind dabei keineswegs als Alternativen zueinander zu verstehen, sondern als gegenseitige Ergänzungen. Die Parlamente bleiben als Volksvertretung auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene die Basis des deutschen Staatswesens, doch das Gewicht plebiszitärer Elemente innerhalb des grundsätzlich repräsentativ ausgestalteten Systems der Bundesrepublik könnte künftig neu definiert werden.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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