- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 5 Internationale Politik und Friedenssicherung
- 5.2 Europäische Union
- 5.2.2 Entscheidungsverfahren und Organe der EU
- Supranationale Politik und Verfahren
Supranationale Politik wird als eine überstaatlich integrierte Politik- und Rechtsausübung verstanden. Es handelt sich um eine Politik, bei der eine Organisation die Macht besitzt, über die Autorität von Nationalstaaten hinweg verbindliches Recht zu setzen. Die Nationalstaaten treten einer supranationalen Organisation bei und legitimieren sie dazu, für sie politisch tätig zu werden. So kann eine supranationale Organisation in die Souveränität eines Staates eingreifen und im Namen der Nationalstaaten Entscheidungen treffen. Diese Entscheidungen können dabei auch gegen den Willen von Nationalstaaten zu Stande kommen. Daher definiert der Wissenschaftler IPSEN
„Supranationalität als verfassungsrechtliche Durchsetzbarkeit öffentlicher Gemeinschaftsgewalt gegen Staatsgewalt“ (HANS PETER IPSEN).
Supranationale Organisationen stellen eine spezielle Untergruppe der internationalen Organisationen dar. Internationale Organisationen können als ein Ausdruck für die zunehmende Verflechtung der Staaten verstanden werden. Vor dem Hintergrund des Ersten und des Zweiten Weltkrieges kam es zur Bildung von internationalen Organisationen, die sich, mit einer gewissen Sanktionsmacht ausgestattet, für die Ächtung von Gewalt einsetzten (Völkerbund, 1919; Gründung der Vereinten Nationen, 1945). Zunehmend wurden internationale Organisationen zur institutionellen Koordination des wirtschaftlichen und technologischen Wandelns gegründet. Die Gewährleistung von Wohlfahrtsrechten, Menschenrechten oder auch Kulturpolitik waren weitere bedeutsame Arbeitsbereiche von Internationalen Organisationen. Mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, die auch als Montanunion bezeichnet wird, kam es am 18. April 1951 zur Gründung der ersten supranationalen Organisation. Diese unterschied sich in den Zielen zunächst nicht von den anderen internationalen Organisationen. Lediglich ihre Qualität und die Form der Durchsetzung von bestimmten politischen Zielen spiegelte sich u. a. in einem verstärkten Souveränitätstransfer der Mitgliedstaaten auf die supranationale Organisation wider. Während internationale Organisationen nämlich nur dann verbindlich für alle Teilnehmer Entscheidungen treffen können, wenn alle dem Beschluss zustimmen (Konsensprinzip), kann eine supranationale Organisation Entscheidungen auch ohne das Einverständnis aller Mitgliedstaaten treffen.
Momentan kann lediglich das System der Europäischen Union als eine supranationale Organisation bezeichnet werden. Bei dieser haben die Mitgliedsstaaten einen Teil ihrer nationalen Hoheitsrechte, d. h. ihrer Souveränität, auf die supranationale Organisation übertragen. Im Grundgesetz wird dieser Souveränitätstransfer in Art. 23 GG, dem so genannten Europaartikel, festgeschrieben. Die Mitglieder der EU vertrauen der Organisation in bestimmten Bereichen Hoheitsrechte an, wodurch die Union auf supranationaler Ebene Politik gestalten kann. Durch die Übertragung von Souveränitätsrechten bestimmt die EU die Politik, im Gegensatz zu den anderen internationalen Organisationen (z. B. der UNO), somit eigenständig. Der Bereich, in dem die EU autonom Entscheidungen treffen und Recht setzen darf, ist aber begrenzt. So kann die EU im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft in der vertraglich geregelten Binnenmarktpolitik, supranational tätig werden. In der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und Zusammenarbeit in der Innen- und Rechtspolitik hat die EU bislang jedoch keine Befugnisse, um supranational tätig werden. Hier gestalten die Mitgliedstaaten die Politik der EU. Dies liegt daran, dass die Mitgliedstaaten bislang nicht bereit sind, in diesen Politikfeldern Kompetenzen an die supranationale Organisation abzugeben. So wollen die Mitgliedstaaten beispielsweise, dass die Frage, ob sie sich an einem Krieg beteiligen oder dies ablehnen, nicht in Brüssel sondern in den Hauptstädten Europas entschieden wird. Des Weiteren wird mit Hilfe des Prinzips der Subsidiarität die Entscheidungsbefugnis der EU gemindert. Nach diesem soll die EU nur solche Aufgaben übernehmen, die in den Mitgliedsländern nicht angemessen umgesetzt werden können. Das supranationale Handeln der EU wird insofern begrenzt.
Damit die EU überhaupt supranational tätig werden kann, sehen die EU-Verträge bestimmte Instrumente und Verfahren vor. So regelt das Gemeinschaftsrecht, dass die EU beispielsweise im Bereich der Europäschen Gemeinschaft im Namen ihrer Mitglieder
kann. Zur Bewältigung der vielfältigen Aufgaben verfügt die EU des Weiteren über Organe, deren Aufgaben und Ziele ebenfalls in den Verträgen festgeschrieben werden: So haben
bestimmte Befugnisse, um supranational tätig zu werden. Beispielsweise kann der Agrarministerrat der Europäischen Union mit Mehrheitsbeschluss Preise für bestimmte Agrarprodukte verbindlich festlegen. Diese supranational getroffene Entscheidung muss dann in allen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union umgesetzt werden.
Die Übertragung von Entscheidungspotenzialen von Nationalstaaten auf eine supranationale Organisation wie die EU ist aber nicht unproblematisch. Bei der Debatte über die Supranationalität werden vor allem immer zwei Probleme angeführt.
Die Geschichte der internationalen und somit auch der supranationalen Organisationen im Speziellen ist in der Politikwissenschaft relativ jung. Dementsprechend gibt es auch für diesen Teilbereich der Politikwissenschaft keine allgemein verbindliche Theorie. Vielmehr bestimmt die jeweils zu Grunde liegende theoretische Denkschule der internationalen Politik die Bedeutung und Rollenzuschreibung für die jeweilige internationale Organisation. Die zentralen Kontroversen in der Theoriediskussion über supranationale Politik kreisen um die Frage, ob eine supranationale Organisation wie die EU neben den Nationalstaaten als ein eigenständiger Akteur der internationalen Politik bezeichnet werden darf. Zunächst wurde die Europa-Forschung von der funktionalistischen Schule dominiert und von den so genannten Neofunktionalisten fortgeführt. Nach Meinung der Neofunktionalisten bildet die wirtschaftliche Integration den Kern der europäischen Neuordnung. Durch die Erfolge auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Integration kommt es dann langfristig zu einem „spill-over"-Effekt, d. h. dass auf die Integration im wirtschaftlichen Bereich auf Grund der dort gemachten positiven Erfahrungen eine Zusammenarbeit im politischen Bereich folgt. Zielvorstellung der Neofunktionalisten ist ein europäischer föderaler Staat, in dem die EU in allen drei Säulen der Gemeinschaft supranational tätig wird. Eine zweite Denkschule, die realistische Denkschule, erklärt die Entstehung von supranationalen Organisationen als Ergebnis von zwischenstaatlichem Handeln. Die nationalen Interessen der einzelnen Staaten verhindern aber die vollständige politische Integration, so dass das supranationale Handeln der EU auf bestimmte Bereiche begrenzt bleibt. Zu einem „spill-over-Effekt“ kommt es laut dieser Theorie somit nicht. Der liberale Neo-Institutionalismus versucht schließlich beide Ansätze zu verbinden. Die Theoretiker erklären den Integrationsschub in der Europäischen Gemeinschaft Ende der achtziger Jahre als strategische Entscheidung zentraler europäischer Akteure, die ihre nationalen wirtschaftlichen Interessen vorteilhafter im institutionellen Kontext der Gemeinschaft verwirklicht sehen und daher zum Prozess des Souveränitätstransfers bereit sind.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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