Mit der Einrichtung der Sozialversicherungssysteme unter OTTO VON BISMARCK am Ende des 19. Jahrhunderts wurden die Grundlagen des Sozialstaats in Deutschland gelegt.
Am 1. Dezember 1884 trat das Krankenversicherungsgesetz in Kraft. Damit wurde ein großer Teil der gewerblichen Arbeitnehmer versicherungspflichtig. Der Versicherungsbeitrag wurde zu zwei Dritteln vom Arbeiter und zu einem Drittel vom Unternehmer gezahlt. Die Versicherten erhielten im Krankheitsfall für 13 Wochen 50 % des Arbeitslohns, medizinische Behandlung und Medikamente waren kostenfrei.
Als nächstes Gesetz folgte am 1. Oktober 1885 das Unfallversicherungsgesetz für Arbeitsunfälle in der Industrie. Die Beiträge zahlten die Unternehmer. Schließlich trat am 1. Januar 1891 das Gesetz über die Invaliditäts- und Altersversicherung in Kraft. Die Beiträge für diese Versicherung wurden je zur Hälfte vom Arbeitnehmer und vom Unternehmer gezahlt. Das Eintrittsalter für die Altersrente betrug für Frauen und Männer 70 Jahre. Die Höhe der Altersrente – nach 30 Jahren Wartezeit – lag zwischen 106 und 190 Mark jährlich. Die Wartezeit für die Invalidenrente betrug 5 Jahre und hatte eine Höhe von 115 bis 140 Mark jährlich. Zunächst war die Sozialversicherung (Kranken-, Alters-, Unfall-, Invaliditätsversicherung) nur auf Arbeiter begrenzt. 1911 wurde sie auf Angestellte ausgeweitet. In der Weimarer Republik wurde 1927 die Arbeitslosenversicherung eingeführt.
In den letzten Jahrzehnten wurde insbesondere die Altersversicherung auf Handwerker, Landwirte, Selbstständige und Hausfrauen ausgedehnt und 1995 die Pflegeversicherung für alle pflegebedürftigen Bürger geschaffen.
Auf dieser Basis hat sich in der Bundesrepublik Deutschland ein sozialstaatliches System etabliert, das durch grundsätzliche Akzeptanz von großen Teilen der Gesellschaft getragen wurde und auch noch – mit gewissen Einschränkungen – wird.
Im Artikel 20 GG ist formuliert:
(1) Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.
Und der Artikel 28 GG lautet:
(1) Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes entsprechen. ...
Diese grundgesetzlichen Festschreibungen bestimmen die Bundesrepublik als Sozialstaat, der sich in rechtsstaatlichen Formen realisiert. Das Sozialstaatsprinzip verpflichtet den Staat, für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen und die soziale Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Ein menschenwürdiges Leben sicherndes Existenzminimum ist die Grundlage der sozialen Sicherheit. Dabei haben sich die Aufgaben des Staates vom Schützen und Bewahren hin zum Lenken und Verteilen ausgeweitet. Durch das Sozialstaatsprinzip wird das Ziel festgelegt, nicht aber die Mittel und Methoden. Hier hat die Politik ihren entsprechenden Handlungsspielraum. Aus den grundgesetzlichen Festschreibungen können aber in der Regel keine individuellen Ansprüche abgeleitet werden.
Das soziale Netz in der Bundesrepublik wird über Institutionen wirksam, die nach dem
arbeiten und organisiert sind. Dabei werden direkte und indirekte Leistungen gewährt.
Die Absicherung von Lebensrisiken erfolgt:
Eine rein private Risikovorsorge reicht aus mehreren Gründen nicht aus: Manche Bürger können sich nicht privat versichern (finanzielle Lage), andere Bürger wollen sich nicht privat versichern (fehlendes Risikobewusstsein). Schließlich gibt es Risiken, die für private Versicherungen kaum kalkulierbar sind – z. B. Arbeitslosigkeit.
In Deutschland sind etwa 90 Prozent der Bevölkerung in der Sozialversicherung pflicht- oder freiwillig versichert. Abhängig von ihrem jährlichen Bruttolohneinkommen besteht für Arbeitnehmer in der Bundesrepublik eine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Sozialversicherung (Ausnahme: geringfügig Beschäftigte) in fünf Bereichen:
Die Beiträge in der Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung wurden von Arbeitgebern und Arbeitnehmern jeweils zur Hälfte gezahlt.
In der Rentenversicherung gilt weiterhin die paritätische Beitragsfinanzierung (Ausnahme: geringfügig Beschäftigte). Der Rentenversicherungsbeitrag ist einheitlich gesetzlich festgelegt und wird als Prozentsatz vom Bruttolohneinkommen erhoben. Er beträgt seit dem 1. Januar 2007 19,9 %.
In der Krankenversicherung existieren z. Z. noch mehr als 200 Krankenkassen. Sie legen ihre Beitragssätze selbstständig fest. Diese betragen 2008 etwa 12,3–16,3 % des sozialversicherungspflichtigen Bruttolohneinkommens. Seit dem 1. Juli 2005 werden in der gesetzlichen Krankenversicherung 0,9 % des beitragspflichtigen Einkommens allein vom Mitglied als „gesetzlicher Sonderbeitrag“ geleistet. Die Arbeitgeber erhielten dadurch eine Entlastung von 0,45 %.
In der Pflegeversicherung entrichten Arbeitgeber und Arbeitnehmer jeweils den gleichen Beitragsanteil von 0,85 % (Ausnahme: Arbeitnehmer im Freistaat Sachsen 1,35 %).
Die Unfallversicherung wird voll vom Arbeitgeber getragen. Die Beiträge zu den Versicherungen werden nach dem Prinzip der persönlichen Leistungsfähigkeit ermittelt, d. h. die Berechnung erfolgt nach dem Bruttoverdienst bis zur so genannten Beitragsbemessungsgrenze.
Neben der gesetzlichen Sozialversicherung umfasst die staatlich organisierte Risikovorsorge Transferleistungen für Anspruchsberechtigte in Form von
„Die Sozialpolitik blieb nicht nur auf eine Verbesserung des Arbeitsschutzes, eine zunehmende Sicherung vor Gefahren und Nöten der abhängig Beschäftigten bestimmter Gruppen (Jugendliche, Schwerbehinderte, werdende Mütter) vor Benachteiligung sowie auf größere Unabhängigkeit der Arbeitnehmer durch Arbeitsvertrags- und Kündigungsschutz begrenzt. Sie hat sich ausgeweitet auf Mitbestimmung, Vermögensbildung, Arbeitsförderung, Umschulung und Fortbildung der Arbeitnehmer sowie auf Maßnahmen zur Wiedereingliederung in den Arbeits- und Produktionsprozess (Mobilitätshilfen). Die Sozialpolitik ist heute zu einem wichtigen Pfeiler unserer gesellschaftlichen Grundordnung bzw. unserer Arbeits- und Wirtschaftsverfassung geworden. Das Sozialstaatsprinzip, die Sozialbindung der Marktwirtschaft und die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers verpflichten zu Maßnahmen einer grundlegenden sozialen Sicherung des Arbeitnehmers bzw. aller Erwerbstätigen.
Über die gesetzlichen Grundlagen des Arbeitsschutzes und der sozialen Sicherung hinaus tragen tarifvertragliche Vereinbarungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern (Urlaubsregelung, Arbeitszeit, vermögenswirksame Leistungen, Freistellung für berufliche Fort- und Weiterbildung, Rationalisierungsschutz, Verdienstabsicherung bei Abgruppierung aufgrund technischen Fortschritts usw.) zu einer weiteren Verbesserung der Arbeitssituation des Arbeitnehmers bei“ (KEIM, HELMUT/STEFFENS, HEIKO: Wirtschaft Deutschland. – Köln 2000, S. 172f.).
Der Sozialstaat hat besondere Verpflichtungen für den Schutz sozialer Gruppen, die im Arbeitsprozess der Industrie- und Leistungsgesellschaft benachteiligt sind. Dazu gehören unter anderem:
Mutterschutz (Mutterschutzgesetz von 1952 und novelliertes Mutterschutzgesetz vom 20. Juni 2002): Dieses Gesetz zielt auf den Schutz von Leben und Gesundheit der werdenden oder stillenden Mutter und den Schutz des Kindes ab. Bei der Einrichtung und Unterhaltung des Arbeitsplatzes, einschließlich der Maschinen, Werkzeuge und Geräte, wie bei der Regelung der Beschäftigung hat der Arbeitgeber die erforderlichen Vorkehrungen und Maßnahmen zu treffen. Unter Fortzahlung der Bezüge wird die Mutter im Regelfall sechs Wochen vor und acht Wochen nach der Geburt von der Arbeit freigestellt.
Schwerbehindertenschutz (Schwerbehindertengesetz von 1974, seither mehrfach novelliert und per 1. Oktober 2001 in das Sozialgesetzbuch – 9. Buch – [SGB IX] eingegefügt): Nach dem Schwerbehindertengesetz wird Schwerbehinderten ein umfassender Schutz gewährt. Die Arbeitgeber im privaten und öffentlichen Bereich (ab 20 Beschäftigte) sind verpflichtet, mindestens 5 % der Arbeitsplätze mit körperlich, geistig und seelisch Behinderte zu besetzen oder eine Abgabe zu zahlen.
Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung ist Verena Bentele (* 1982).
Jugendarbeitsschutz(Jugendarbeitsschutzgesetz vom 12. April 1976, seither mehrfach geändert): Jugendliche im Ausbildungs- oder Arbeitsverhältnis unter 18 Jahren genießen besonderen Schutz. Das Jugendarbeitsschutzgesetz regelt die Beschäftigung von Kindern und Jugendlichen. Es besteht ein Verbot der Kinderarbeit (unter 14 Jahren) mit Ausnahme von Arbeit in der Landwirtschaft; ferner ist die Arbeitszeit geregelt (maximal 40 Stunden für unter 16-Jährige und maximal 44 Stunden für über 16-Jährige). Beschäftigungsverbote und -beschränkungen bestehen für Akkord- und Fließbandarbeit.
Die Kosten für die Kranken- und Rentenversicherung machen heute über 50 % des Sozialbudgets aus. Der Staat greift aber auch durch die Vermögensbildungs- und durch die Wohnungspolitik in die Bildung von privatem Vermögen ein. Im weiteren Sinne gehört auch die Bildungspolitik zur staatlichen Sozialpolitik.
Die Sozialkosten als Summe aller gesetzlich geregelten Sozialversicherungsbeiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern sind in den letzten Jahrzehnten explosionsartig angestiegen.
1990–1993: | von 18,7 auf 17,5 % gesunken auf 19,2 % angestiegen auf 18,6 % gesunken auf 20,3 % angestiegen auf 21,0 % angestiegen auf 19,5 % gesunken (durch Einführung der Öko-Steuer) auf 19,1 % gesunken 19,5 % 19,9 % |
Seit der Wirtschaftskrise 1973/74 gibt es auch in Deutschland eine Debatte über die Perspektiven des Sozialstaats. Kern der Diskussion waren (und sind):
Nach der deutschen Einheit hat die Auseinandersetzung um die Zukunft des Sozialstaats einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Finanzierungsprobleme haben sich durch
spürbar verschärft. Die Senkung der Beitragslast für die Arbeitnehmer und damit auch die Senkung der Lohnnebenkosten für die Arbeitgeber sind vorrangiges Ziel der Politik und eine Hauptforderung der Wirtschaft. Diese Entwicklungen verlangen nach grundlegenden Strukturreformen in allen sozialstaatlichen Feldern. Im Zuge der Globalisierung werden die hohen Lohnnebenkosten, die der Sozialstaat bewirkt, zunehmend von der Arbeitgeberseite als Hemmnis für die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft betrachtet. Die politische Diskussion über die Verteilung der Lasten beim Umbau des Sozialsystems in Deutschland wurde und wird von weiteren Kürzungen der Sozialleistungen begleitet.
Aufteilung der Sozialleistungen nach Funktionen (2011)
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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