Der Vorrang der Gemeinschaft vor dem Individuum findet sich auch im Denken des sinischen Kulturkreises: Der sinische Kulturkreis ist (neben dem Buddhismus) stark von der moralisch-religiösen Philosophie des Konfuzianismus bestimmt. Diese praktisch orientierte Lehre des chinesischen Philosophen KONFUZIUS (551–479 v. Chr.) war über Jahrhunderte (bis zum Ende des Kaisertums 1912) verbindliche Staatsdoktrin in China und prägt das gesellschaftliche Zusammenleben bis heute. Vorbild und Ziel des Konfuzianismus ist der „edle Mensch“, der konfuzianische Tugenden (v. a. Güte, Gehorsam, Ehrlichkeit, Ehrfurcht, Harmonie) mit einem großen Maß an Engagement für Familie und Staat verbindet (Bindung an die Familie, Hingabe an den Staat, Leben in der Gemeinschaft).
Die Familie hat als „Grundstein der Gesellschaft“ zentrale Bedeutung: Die gesellschaftlichen Beziehungen orientieren sich am hierarchischen Modell der patriarchalischen Familie, in der die Pflichten der Untergeordneten gegenüber dem Übergeordneten genau festgelegt sind (z. B. sind Frau und Kinder dem Mann als Familienoberhaupt untergeordnet, der wiederum zu lebenslanger Fürsorge für seine Eltern verpflichtet ist).
Auch die Staatsvorstellung folgt einem traditionell-hierarchischen Herrschaftskonzept, in dem Herrschaft von moralisch gesinnten, „edlen Menschen“ ausgeübt wird und auf dem Prinzip wechselseitiger Verpflichtungen beruht (persönliche Integrität, Fürsorge und Gerechtigkeit des „guten“ Herrschers; entsprechend Loyalität, Gehorsam und Dankbarkeit des Untertans).
Im konfuzianischen Denken sind soziale Beziehungen existenziell und vor allem unverzichtbar, um ein moralisches Leben zu führen. Im gesellschaftlichen Zusammenleben hat sich der Einzelne in ein hierarchisch organisiertes, soziales Beziehungsgefüge einzufügen und jeweils verschiedene Rollen zu übernehmen (z. B. Sohn, Bruder, Untertan), die mit bestimmten Verhaltenserwartungen verknüpft sind; individuelle Rechte treten hinter vielfältige Pflichten zurück, die jeder zu erfüllen hat. Im Mittelpunkt stehen die Tugenden der Menschenliebe, Gerechtigkeit und vor allem der Pietät („Ehrfurcht, Achtung“). Das Prinzip der Pietät bildet im Konfuzianismus die moralische Grundlage für Familienleben, Gesellschaft und Staat und verpflichtet die Untergeordneten dazu, dem Übergeordneten Ehrerbietung und Respekt unter strikter Einhaltung der überlieferten Sitten und Gebräuche (z. B. über Riten) entgegenzubringen. Zentrales Anliegen menschlichen Handelns ist Harmonie (nicht der Widerstreit verschiedener Interessen oder das offene Austragen unterschiedlicher Meinungen): Lebensglück entsteht nicht durch die Selbstverwirklichung des Individuums, sondern durch seine harmonische Einbindung in eine soziale Ordnung.
Aktuelle Entwicklungen im politischen Denken der verschiedenen Kulturkreise
Das traditionelle politische Denken steht der modernen Vorstellung der Entfaltung von Individualität bzw. individueller Emanzipation entgegen und widerspricht politischen Werten, wie Demokratie, Pluralismus, Freiheit und Gleichheit. Im Zuge von Modernisierung und Industrialisierung gewinnt aber auch im Denken des östlichen Kulturkreises Individualität zunehmend an Bedeutung.
Im westlichen Denken werden andererseits wieder gemeinschaftsbezogene Vorstellungen wichtiger, da die vielfältigen Krisenerscheinungen in modernen Industriegesellschaften auch als Folge des tiefgreifenden Individualisierungs- und Pluralisierungsprozesses interpretiert werden (Vereinzelung und Vereinsamung, Verlust moralischer Werte und sozialer Bindungen).
So wenden sich Konzepte des Kommunitarismus (engl.: community = Gemeinschaft) gegen Tendenzen eines schrankenlosen, egozentrischen Individualismus, der das Allgemeinwohl zerstöre und zu einer Entsolidarisierung des Zusammenlebens führe (Fragmentierung und Atomisierung der Gesellschaft). Im Zentrum steht die Kritik an Theorien des Liberalismus, die individuellen Rechten den Vorrang gegenüber gemeinschaftlichen Zielen einräumen. Kommunitaristische Denker plädieren für eine Aktivierung des Gemeinschaftssinnes: Das Individuum soll sich wieder an den Werten konkreter Gemeinschaften orientieren (Familie, Kommune, Staat) und soziale Verantwortung übernehmen, um das Wohl der Gesellschaft zu erreichen. Die Gesellschaft soll über gemeinsame Werte integriert werden, die Vorrang vor individuellen Rechten haben sollen. Die kommunitaristische Denkrichtung vereint verschiedene politische Richtungen: konservative und patriotische Strömungen finden sich hier ebenso wie sozialistisch orientierte Tendenzen. Wichtige Vertreter des Kommunitarismus sind z. B.:
- die Philosophen ALASDAIR MacINTYRE (* 1929) und CHARLES TAYLOR (* 1931),
- die Politikwissenschaftler MICHAEL WALZER (* 1935),
- BENJAMIN BARBER (* 1939) und AMITAI ETZIONI (* 1929).