Politik als Unterrichtsfach

Politikunterricht

Ziel politischer Bildung ist der mündige Bürger. In der schulischen politischen Bildung sollen Schüler deshalb eine Vorstellung von der komplexen Wirklichkeit und den prägenden Elementen von Politik erhalten. Neben

  • der Vermittlung von Fähigkeiten und Instrumenten zur selbstständigen Analyse und Beurteilung politischer Sachverhalte soll der Politikunterricht ihr
  • Interesse an Politik wecken und sie
  • zur aktiven Beteiligung ermuntern.

Des Weiteren sollen sich die Schüler mit den demokratischen Grundwerten identifizieren.

Politikunterricht als Schulfach verfügt über keine bundesweit einheitliche Fachbezeichnung. Je nach Bundesland wird es

  • Sozialkunde,
  • Gemeinschaftskunde,
  • Gesellschaftskunde,
  • Politik,
  • Politische Bildung,
  • Politische Weltkunde,
  • Sozialwissenschaften

o. ä. genannt. Diese Bezeichnungsvielfalt liegt in der Entwicklung des Unterrichtsfaches nach 1945.
Die vier Siegermächte verfolgten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unterschiedliche Ansätze bezüglich der Neugestaltung des Schulwesens. Insbesondere die US-Amerikaner wollten mittels Re-Education (Um- oder Neuerziehung) den Grundstein für eine demokratische politische Kultur in Deutschland legen. Deshalb wurde 1946 in den Ländern Berlin, Schleswig-Holstein und Hessen, 1949 auch in Württemberg-Hohenzollern, ein politisch angelegtes Unterrichtsfach eingeführt, jeweils mit unterschiedlichen Bezeichnungen.

Politikunterricht in der Bundesrepublik Deutschland (1949–1989)

Anfang der 1950er-Jahre begann in Deutschland eine breite öffentliche Diskussion über die politische Bildung in Schulen. Bildungspolitisch bestand die Frage, ob politische Bildung ein eigenständiges Fach oder ein fächerübergreifendes Ziel darstellen soll. Die Kultusministerkonferenz (KMK) beschloss 1950 Grundsätze zur politischen Bildung an den Schulen. Ihrer Meinung nach stellte politische Bildung ein Unterrichtsprinzip für alle Schularten und Fächer dar. Des Weiteren empfahl sie die Einführung besonderer Fachstunden ab der 7. Klasse – ob im Rahmen bereits bestehender Fächer wie Geschichte oder als eigenständiges Unterrichtsfach blieb dabei ebenso wie die mögliche Bezeichnung des Faches freigestellt. Dieser Vorschlag wurde nur langsam umgesetzt. Erst nach der großen Bildungsdebatte 1965–1975 wurde politische Bildung bundesweit in allen Schulformen in den Fächerkanon integriert. Die dabei verwendeten unterschiedlichen Bezeichnungen weisen auf ein entscheidendes Problem hin: Je nach Bundesland variieren die Ziel- und Inhaltsangaben für das Fach.

In den 1950er-Jahren propagierte THEODOR LITT eine Anknüpfung an die Staatsbürgerkunde der wilhelminischen Kaiserzeit und der Weimarer Republik; FRIEDRICH OETINGER hingegen sprach sich für einen Neuanfang der politischen Bildung als Partnerschaftspädagogik aus. Beide Ansätze prägten das Selbstverständnis der politischen Bildung. Die Diskussionen blieben allerdings sehr stark allgemeinpädagogisch ausgerichtet. Erst mit der Etablierung der Politikdidaktik als eigenständiger Wissenschaft in den 1960er-Jahren konzentrierte man sich auf die Auswahl von Lerninhalten und Begründung von Zielen.

In den folgenden zwei Jahrzehnten wurden eine Vielzahl von zum Teil konkurrierenden Konzeptionen der schulischen politischen Bildung ausgearbeitet. In dieser Zeit setzte sich die Meinung durch, das Ziel politischer Bildung bestünde in der Erziehung zur Mündigkeit; die Lernenden sollten selbstständig politisch urteilen und handeln können. Dies beinhaltet auch eine kritische Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen – eine bedeutsame Abkehr von der traditionellen Aufgabe politischen Unterrichts als Legitimierung eben dieser Zustände.

Dieser Wandel vollzog sich jedoch nicht ohne Probleme. Zwischen 1972 und 1975 wurde insbesondere in Hessen und Nordrhein-Westfalen ein erbitterter Streit um die Inhalte von Richtlinien und Schulbüchern geführt. Hierbei handelte es sich nicht um eine innerdidaktische, sondern um eine politisch motivierte Diskussion, deren Polarisierung in der politischen Didaktik tiefe Gräben zog. 1976 veranstaltete die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg eine Fachtagung in Beutelsbach, um herauszufinden, ob nicht trotz aller Kontroversen für die Praxis ein Minimalkonsens gefunden werden könne.

Die im Anschluss als Tagungsrückblick von HANS-GEORG WEHLING formulierten drei Punkte fanden weitestgehend Akzeptanz und sind als formlose Übereinkunft bis heute als Beutelsbacher Konsens anerkannt und gültig:

  1. Überwältigungsverbot. Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der ‚Gewinnung eines selbständigen Urteils' zu hindern (...). Hier genau nämlich verläuft die Grenze zwischen politischer Bildung und Indoktrination. Indoktrination aber ist unvereinbar mit der Rolle des Lehrers in einer demokratischen Gesellschaft und der – rundum akzeptierten – Zielvorstellung von der Mündigkeit des Schülers.
     
  2. Was in Wissenschaft und Politik kontrovers ist, muss auch im Unterricht kontrovers erscheinen. Diese Forderung ist mit der vorgenannten aufs engste verknüpft, denn wenn unterschiedliche Standpunkte unter den Tisch fallen, Optionen unterschlagen werden, Alternativen unerörtert bleiben, ist der Weg zur Indoktrination beschritten (...).
     
  3. Der Schüler muss in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und seine eigene Interessenlage zu analysieren sowie nach Mitteln und Wegen zu suchen, die vorgefundene Lage im Sinne seiner Interessen zu beeinflussen. Eine solche Zielsetzung schließt in sehr starkem Maße die Betonung operationaler Fähigkeiten ein, was aber eine logische Konsequenz aus den beiden vorgenannten Prinzipien ist. (...)“ (WEHLING)

Politikunterricht in der DDR (1949–1989)

In der DDR wurde 1951 Gegenwartskunde und ab 1957 Staatsbürgerkunde als eigenständiges Fach für politisches Lernen eingerichtet. Laut Lehrplan bestand die Aufgabe des Faches darin,

„das Denken und Fühlen und Handeln der Jugend im Geiste der kommunistischen Ideale, des sozialistischen Patriotismus und proletarischen Internationalismus zu entwickeln und politische Standfestigkeit und feste Verbundenheit mit ihrem sozialistischen Vaterland, mit der SED und ihrem revolutionären Kampf auszuprägen.“ (KUHN/MASSING/SKUHR)

Staatsbürgerkunde als Instrument der politischen Erziehung und Disziplinierung wurde unmittelbar durch den Machtapparat der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) kontrolliert.
In den 1980er-Jahren machte sich ein immer stärker wachsender Akzeptanzverlust bemerkbar. Mit dem Fall der Mauer 1989 wurde Staatsbürgerkunde durch ein auf Ethik und Fragen der Lebensgestaltung ausgerichtetes Fach Gesellschaftskunde ersetzt. Nach der Wiedervereinigung wurden – nach Kontroversen zwischen Befürwortern und Gegnern, die nach dem Ende der DDR keine politische Bildung im Auftrag des Staates an Schulen haben wollten – in allen fünf neuen Bundesländern Fächer der politischen Bildung eingeführt.

Politikunterricht in Deutschland (ab 1989)

In den 1990er-Jahren setzte sich die Ausdifferenzierung politikdidaktischer Forschungsfragen fort. Beispiele hierfür sind folgende Themen:

  • geschlechtsspezifische Differenzierung,
  • neue Lehr-/Lernmethoden (insbesondere in Zusammenhang mit den Neuen Medien und dem Internet),
  • Demokratie-Lernen,
  • Werteerziehung und
  • der Umgang mit Rechtsextremismus.

Kontroverse Diskussionen in der Form der 1960er und 1970er-Jahre jedoch sind nicht zu finden. Vielmehr ist von einer „pragmatischen Wende“ die Rede, in der die großen Konzeptionen abgelöst worden seien (POHL 2004).

Auf eine interessante Debatte sei hier exemplarisch verwiesen. 1995 verabschiedeten die Fachwissenschaftler und -didaktiker den Darmstädter Appell, der das Ziel politischer Bildung als Befähigung der Schüler zur Wahrnehmung ihrer Bürgerrolle in der Demokratie definiert. Über die Ausgestaltung der Bürgerrolle gibt es seit Jahrzehnten unterschiedliche Vorschläge. Viele Fachdidaktiker gehen dabei seit Mitte der 1990er-Jahre nicht mehr von einem geschlossenen Leitbild, sondern von differenzierten Bürgerbildern aus. Diese Abkehr von dem Ideal des kompetenten aktiven Bürgers entspricht ihrer Meinung nach dem Überwältigungsverbot des Beutelsbacher Konsenses. Es sei die freie Entscheidung eines jeden, wie er seine Rolle in der Demokratie versteht.

Einer gängige Klassifizierung liegen vier Leitbilder des Bürgers zugrunde:

  1. Der politisch desinteressierte Bürger nimmt für sich das Recht in Anspruch, kein oder nur ein geringes Interesse an Politik zu haben. Er ist nur wenig oder oberflächlich über die aktuelle Problemlage informiert und beteiligt sich selten und unregelmäßig an Wahlen und Abstimmungen. Oft hegt er Vorurteile gegen das politische System und zeigt sich zum Teil auch anfällig für populistische Positionen.
     
  2. Der informierte und urteilsfähige Bürger interessiert sich für Politik und verfügt über genügend Wissen und Verständnis von Politik, so dass er in der Lage ist, ein eigenes, begründetes Urteil zu fällen. Außerhalb von Wahlen und Abstimmungen wird er jedoch selten aktiv.
     
  3. Der interventionsfähige Bürger besitzt über die Fähigkeiten und das Wissen des informierten und urteilsfähigen Bürgers hinaus Kenntnisse über seine tatsächlich vorhandenen Beteiligungsmöglichkeiten und Einflusschancen auf den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess und nimmt sie periodisch wahr, um seine Interessen und Wertvorstellungen zu vertreten.
     
  4. Der Aktivbürger sieht seine Beteiligung am politischen Geschehen in Form von Mitarbeit und Mitgliedschaft in Parteien, Interessengruppen, Bürgerinitiativen u. Ä. als selbstverständlich an und beteiligt sich kontinuierlich am politischen Willensbildungsprozess. Dabei orientiert er sich nicht ausschließlich an seinen persönlichen Interessen, sondern behält auch das Gemeinwohl im Auge.

Für den Politikunterricht stellt der informierte und urteilsfähige Bürger das Minimalziel dar. Anspruchsvoller, aber immer noch realistisch, ist der interventionsfähige Bürger. Der Aktivbürger ist ein sehr optimistisches Leitbild, das für die Unterrichtspraxis eine erhebliche Herausforderung darstellt. Zu beachten bleibt, dass die Bereitschaft zu politischer Aktivität auf unterschiedliche Einflussquellen zurückzuführen ist; ein gelungener Politikunterricht kann hier allenfalls unterstützend oder anregend wirken. Der desinteressierte Bürger bleibt eine ständige Herausforderung für die politische Bildung.
Hierüber herrscht jedoch kein Konsens. Unter den Fachdidaktikern ist umstritten, ob und welches Bürgerbild Ziel des Politikunterrichts darstellen soll.

Aktueller Stand und Ausblick

Ausgelöst durch das relativ mäßige Abschneiden Deutschlands bei den internationalen PISA-Studien (2000, 2003, 2006) begann in Deutschland auf breiter Ebene eine öffentliche Bildungsdiskussion.
Die KMK empfahl zunächst – in Anlehnung an Länder wie den USA oder Schweden – die Einführung nationaler Bildungsstandards. Diese sollen festlegen, über welche Kompetenzen Schüler einer bestimmten Jahrgangsstufe in den jeweiligen Fächern verfügen sollten. Im Rahmen der Bildungsstandarddiskussion hat die Mitgliederversammlung der Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) 2003 der KMK und den Kultusministern der einzelnen Länder einen Entwurf für nationale Bildungsstandards überreicht. Hervorzuheben ist dabei die Empfehlung, endlich eine einheitliche Fachbezeichnung umzusetzen. Die GPJE schlug für die Grundschule „Sachunterricht“ und für die Sekundarstufe I und II aller Schulformen sowie für die Berufsbildenden Schulen „Politische Bildung“ vor.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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