- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 5 Internationale Politik und Friedenssicherung
- 5.4 Organisationen und Instrumente umfassender Sicherheit
- 5.4.4 NATO und Bundeswehr
- „Out of area“-Einsätze der Bundeswehr
Durch die Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR im Jahre 1990 hatte Deutschland international stark an Bedeutung gewonnen. Es wurde nicht nur schon im September 1990 im Zwei-plus-Vier-Vertrag seine volle völkerrechtliche Souveränität wiederhergestellt, die bis dahin in wenigen Bereichen durch Vorbehalte der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs noch eingeschränkt gewesen war. Deutschland war nun zudem gemessen an Bevölkerungszahl (Russland hier einmal ausgenommen) und Wirtschaftskraft die gewichtigste Nation Europas.
International hatte das aber durchaus seine zwei Seiten:
Aber auch innenpolitisch war die Lage oftmals nicht weniger widersprüchlich.
Besondere Brisanz erhielten diese Bedenken dadurch, dass ein damals akutes Gebiet solcher Kriseneinsätze, das gerade zerfallende Jugoslawien nämlich, fürchterlich unter der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 gelitten hatte.
Vorbehalte speisten sich zudem aus einer in über 40 Jahren in weiten Teilen der Gesellschaft und der Politik gewachsenen Haltung, die in einer Mischung aus Antikriegsposition (Nie wieder Krieg!) und einer eher psychologischen „ohne-uns“-Stimmung bestand.
Zusammenfassend waren also international wie national militärische Einsätze deutscher Soldaten seit 1945 außer zum Zwecke der Landesverteidigung sowie im Rahmen ziviler Hilfsleistungen (z. B. in der Katastrophenhilfe) schwer vorstellbar und mit vielen Vorbehalten belastet.
Einen Ausdruck hatte das schon im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und in den dort gegebenen verfassungsrechtlichen Grundlagen deutscher Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefunden.
Hieraus ergab sich, so die allgemeine Interpretation, zunächst der Auftrag zur NATO-Bündnisverteidigung, also der Verteidigung angegriffener Allianzpartner, wie er in der gegenseitigen Beistandsverpflichtung (Art. 5 des Nordatlantikvertrags) zum Ausdruck kommt.
Diese Bestimmung des Art. 24 sollte dann 1994 aber auch Bedeutung für eine militärische Beteiligung Deutschlands an internationalen Kriseneinsätzen erhalten (siehe unten).
Zunächst aber wurde vielfach gefragt: Lassen die genannten verfassungsrechtlichen Bestimmungen überhaupt Einsätze deutscher Streitkräfte außerhalb des NATO-Gebietes, für die auch hierzulande häufig die englische Bezeichnung „out of area“ verwandt wird, zu?
Diese Frage drängte zu Anfang der 1990er-Jahre immer nachhaltiger auf die Tagesordnung der innenpolitischen Debatte in Deutschland.
Im Ergebnis gab es dann damals schnell erste kleinere Bundeswehreinsätze. In Kambodscha nahmen 1992/93 gut 150 deutsche Sanitätssoldaten an einer Blauhelmmission der UNO teil. Im zerfallenden Somalia übernahmen deutsche Soldaten 1993/94 im Rahmen einer UN-Truppe zur Befriedung eines gewalttätigen Konfliktes Versorgungs-, Unterstützungs- und Transportaufgaben für beteiligte Einheiten anderer Nationen und für die Bevölkerung vor Ort.
Ebenfalls seit 1992 bzw. 1993 beteiligte sich Deutschland im Zusammenhang mit den Bürgerkriegen auf dem Balkan an der Überwachung der Durchsetzung eines UN-Embargos gegen Rest-Jugoslawien in der Adria sowie an der Kontrolle eines Flugverbots über Bosnien-Herzegowina.
Die letztgenannte Entscheidung der damaligen Bundesregierung nahmen die Bundestagsfraktionen der SPD und der FDP zum Anlass für eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Auch die damalige CDU/CSU/FDP-Bundesregierung begrüßte das Verfahren im Sinne einer verfassungsrechtlichen Klarstellung.
Am 12. Juli 1994 sprach das Gericht sein Urteil zu „out of area“-Einsätzen. Es entschied, dass militärische Einsätze der Bundeswehr innerhalb von Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit zulässig sind. Damit gemeint sind internationale Organisationen wie
(die Aufgaben der WEU sind heute im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – GASP – und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – ESVP – im wesentlichen auf die der Europäische Union – EU – übertragen worden). Allerdings bedürfe die Entsendung bewaffneter Einheiten, so das Gericht, der vorherigen Zustimmung des Bundestags.
Da diese Entscheidung sehr grundlegend war, soll hier eine längere Passage zitiert werden.
- „Die Ermächtigung des Art. 24 Abs. 2 GG berechtigt den Bund nicht nur zum Eintritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit und zur Einwilligung in damit verbundene Beschränkungen seiner Hoheitsrechte. Sie bietet vielmehr auch die verfassungsrechtliche Grundlage für die Übernahme der mit der Zugehörigkeit zu einem System typischerweise verbundenen Aufgaben und damit auch für eine Verwendung der Bundeswehr zu Einsätzen, die im Rahmen und nach den Regeln dieses Systems stattfinden.
- Art. 87a GG steht der Anwendung des Art. 24 Abs. 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Rahmen eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit nicht entgegen.
- a) Das Grundgesetz verpflichtet die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Deutschen Bundestages einzuholen.
b) Es ist Sache des Gesetzgebers, jenseits der im Urteil dargelegten Mindestanforderungen und Grenzen des Parlamentsvorbehalts für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte die Form und das Ausmaß der parlamentarischen Mitwirkung näher auszugestalten.
- Zur Friedenswahrung darf die Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 24 Abs. 2 GG in eine „Beschränkung“ ihrer Hoheitsrechte einwilligen, indem sie sich an Entscheidungen einer internationalen Organisation bindet, ohne dieser damit schon im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG Hoheitsrechte zu übertragen.
- a) Ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG ist dadurch gekennzeichnet, dass es durch ein friedenssicherndes Regelwerk und den Aufbau einer eigenen Organisation für jedes Mitglied einen Status völkerrechtlicher Gebundenheit begründet, der wechselseitig zur Wahrung des Friedens verpflichtet und Sicherheit gewährt. Ob das System dabei ausschließlich oder vornehmlich unter den Mitgliedstaaten Frieden garantieren oder bei Angriffen von außen zum kollektiven Beistand verpflichten soll, ist unerheblich.
b) Auch Bündnisse kollektiver Selbstverteidigung können Systeme gegenseitiger kollektiver Sicherheit im Sinne des Art. 24 Abs. 2 GG sein, wenn und soweit sie strikt auf die Friedenswahrung verpflichtet sind.
- Hat der Gesetzgeber der Einordnung in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit zugestimmt, so ergreift diese Zustimmung auch die Eingliederung von Streitkräften in integrierte Verbände des Systems oder eine Beteiligung von Soldaten an militärischen Aktionen des Systems unter dessen militärischem Kommando, soweit Eingliederung oder Beteiligung in Gründungsvertrag oder Satzung, die der Zustimmung unterlegen haben, bereits angelegt sind. Die darin liegende Einwilligung in die Beschränkung von Hoheitsrechten umfasst auch die Beteiligung deutscher Soldaten an militärischen Unternehmungen auf der Grundlage des Zusammenwirkens von Sicherheitssystemen in deren jeweiligen Rahmen, wenn sich Deutschland mit gesetzlicher Zustimmung diesen Systemen eingeordnet hat.“
WINFRIED NACHTWEI (MdB) zur Bundeswehr
Mit diesem „out of area-Urteil“ räumte das Gericht letzte Bedenken über die Verfassungsmäßigkeit deutscher Einsätze im Rahmen von Einsätzen des internationalen Krisenmanagements aus dem Weg.
Zugleich endete damit auch ein Stück der politischen Selbstbeschränkung der Bundesrepublik infolge des Zweiten Weltkrieges, ohne dass dadurch aber nationale Alleingänge forciert worden wären. Denn hinsichtlich der Legitimität solcher internationalen Einsätze wird von Deutschland nicht erst seither auf eine entscheidende Rolle der UNO gedrängt.
In der Folge beteiligte sich Deutschland vielfach auch militärisch an Einsätzen zur Krisenprävention und Krisenbewältigung.
Sie umfassen ein weitgefächertes Aufgabenspektrum, von dem hier nur einige Punkte genannt werden können:
Schon kurz nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts gab der Bundestag am 22. Juli 1994 seine Zustimmung zu den Bundeswehreinsätzen in der Adria und über Bosnien-Herzegowina (Luftraumüberwachung).
Viele weitere Einsätze mit unterschiedlichsten Aufgabenschwerpunkten folgten bis heute. Einige wichtige waren:
Insgesamt waren Mitte 2011 knapp 7 000 deutsche Soldatinnen und Soldaten in diesen und ähnlichen Auslandseinsätzen engagiert.
Alles in allem waren es schon mehr als 200 000. Mit diesen out of area-Einsätzen ist die internationale Krisenbewältigung als neuer Auftrag der Bundeswehr heute auch praktisch zur Realität geworden.
Trotz dieser Normalität sind solche Einsätze aber auch immer wieder Gegenstand innenpolitischer und internationaler Debatten. Große Teile der deutschen Bevölkerung stehen ihnen zuweilen eher skeptisch bis kritisch gegenüber. Das trifft besonders dann zu, wenn Soldaten der Bundeswehr nicht etwa nur in der Absicherung eines Friedensabkommens oder eines Wiederaufbaus eingesetzt werden, sondern auch – direkt oder indirekt – in Kampfhandlungen verwickelt werden können.
Von den Bündnispartnern wird dagegen manchmal eine zu enge, Kampfeinsätze tendenziell ausschließende Beschränkung des Mandats für deutsche Einsätze kritisiert. So gab es etwa Anfang 2008 in der NATO eine Debatte darüber, ob nicht auch deutsche Soldaten zu Einsätzen in den wesentlich gefährlicheren Süden Afghanistans gehen sollten, in dem einige andere NATO-Partner in teils verlustreiche Auseinandersetzungen involviert sind.
Auf der 41. Kommandeurtagung der Bundeswehr im März 2008 stellte der Generalinspekteur der Bundeswehr, SCHNEIDERHAN, zusammenfassend fest, dass sich die Armee von einer Verteidigungsarmee zu einer Armee im Einsatz gewandelt habe. Viele seiner Kollegen aus der Bundeswehrführung forderten auf dieser Tagung dementsprechend eine stärkere Ausrichtung auf diese gewandelte Realität, z. B. hinsichtlich der Ausbildung, der Mittelausstattung oder auch einer deutlicheren Bereitschaft zu Kampfeinsätzen, etwa im Süden Afghanistans.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
Ein Angebot von