- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 4 Gesellschaft im Wandel
- 4.2 Gesellschaftsstrukturen und Sozialisation
- 4.2.3 Sozialisation
- Kinder und Jugendliche als soziale Gruppe
In Deutschland lebten 2009 19,5 Mio. Kinder und Jugendliche in Privathaushalten; 13,3 Mio. davon waren minderjährig. 30% der Minderjährigen war zwischen 6 und 14 Jahre alt, 19% 15 Jahre und älter. Wann die Kindheit endet und die Jugend beginnt, unterscheidet sich von Kind zu Kind und Gruppe zu Gruppe – die Bevölkerungsstatistik dokumentiert nur allgemeine Zäsuren und Trends. Kinder und Jugendliche sind junge Menschen, die Kompetenzen erwerben und Persönlichkeiten bilden.
Die Formung der Kompetenz, ihrer Inhalte und schulischen Aneignung, hat sich im Laufe der Geschichte verändert. Bildung, noch im 17. Jh. unter kirchlicher Aufsicht, setzte sich für breitere Kreise erst im 18. Jh. durch. So wurde in Preußen die allgemeine Schulpflicht 1717 eingeführt. Sie wurde aber solange nicht Realität, wie Kinder durch Arbeit zum Familieneinkommen beitragen mussten. Ein erster gesetzlicher Kinderschutz regelte 1839 die Arbeit von Kindern unter neun Jahren in Fabriken und Bergwerken; 1903 wurde der Kinderschutz auf alle gewerblichen Betriebe ausgedehnt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die im Deutschen Reich seit 1883 eingeführten Sozialversicherungen einen grundlegenden Wandel der Familienstruktur erleichtert. An die Stelle der Solidargemeinschaft Familie trat zunehmend als Garant für die Altersversorgung die Solidargemeinschaft Staat (Sozialstaat).
Familien wandelten sich von Großfamilien zu Zwei-Kind-Familien, ein Trend, der sich innerhalb dreier Jahrzehnte deutlich ausprägte und heute fortgesetzt wird mit 1,36 Kindern pro Frau. Die Kleinfamilie ist in einem historischen Prozess entstanden, in dessen Verlauf sich Kindheit stark geändert hat. Zur traditionellen Familie kommen durch starke Zunahme von Scheidungen und Wiederverheiratung neue Familienformen (Patchworkfamilien). 72% der minderjährigen Kinder wurde 2009 bei einem Ehepaar groß, 19% bei einem allein erziehenden Elternteil und annähernd 9% in einer Lebensgemeinschaft. Anders stellt sich die Situation der Kinder mit Migrationshintergrund dar. Sie wachsen regelhaft in traditionellen Familienformen auf (81%) mit einer Mutter ohne Berufsausübung und haben häufiger als die deutschen Kinder zwei und mehr Geschwister.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen sinkt in Deutschland seit Jahren kontinuierlich und lässt Kinder zur raren Ressource werden. Von 1991 bis 2008 betrug der Geburtenrückgang in Deutschland 18%. 2009 sank die Zahl der neu eingeschulten Kinder gegenüber dem Vorjahr um 2%. Da zugleich das Durchschnittslebensalter in Deutschland steigt, ist inzwischen aus der Bevölkerungspyramide eine „zerzauste Wettertanne“ geworden. In Zukunft werden relativ wenige junge und arbeitsfähige Menschen für die materielle Sicherung relativ vieler alter Menschen Sorge tragen müssen. Die Politik trägt ihrerseits dieser Situation insofern Rechnung, als für Frauen Anreize geschaffen werden müssen, mehr Kinder zu gebären. Da Frauen heute aber nur noch in der Minderzahl (29%) auf die Ausübung eines Berufes verzichten können oder wollen, wurde der Rechtsanspruch auf einen Tagesbetreuungsplatz außerhalb der Familie erweitert und soll nun nicht mehr nur für Kinder ab drei Jahren, sondern schon früher gelten. 2009 wurden 23% der unter Dreijährigen in Tageseinrichtungen oder durch Tagespflegepersonen betreut. Hinsichtlich der seit langem geforderten Ganztagsschulen, die Frauen die Möglichkeit zur Familiengründung bei gleichzeitiger Berufsausübung erleichtern würde, wie es in anderen Ländern, zum Beispiel Frankreich, seit Jahrzehnten praktiziert wird, ist eine Veränderung das traditionellen Familienbildes nur sehr zögerlich zu erreichen, 2009 besuchte lediglich ein Viertel aller Schulkinder eine Ganztagsschule.
Alleinerziehende Mütter, getrennt lebende Eltern mit gemeinsamem Sorgerecht, Halbgeschwister, gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern öffnen einen sozialen Raum, in dem Kinder Toleranz und Anpassungsfähigkeit sowie hohe soziale Kompetenzen entwickeln. Wenn auch die traditionelle Familienstruktur nach wie vor die vorherrschende ist, so muss ihrer zunehmenden Aufweichung auch staatlicherseits begegnet werden. Schon 1979 wurde im Sorgerechtsgesetz der Terminus „elterliche Gewalt“ durch „elterliche Sorge“ ersetzt. Heute führt die intensive und juristisch abgesicherte Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an Entscheidungen zu Familienangelegenheiten dazu, dass die Familie auf dem Wege zu einer „Verhandlungsfamilie“ ist, in der Kinder und Jugendliche Debatten und Entscheidungen mitgestalten und mittragen.
Der Bedeutungszuwachs, den Kinder und Jugendliche heute erfahren, spiegelt sich ebenfalls in ihrer Rolle als Konsumenten wider. Besonders auch durch den sogenannten Taschengeldparagraph (§110 BGB) haben sie große Handlungsfreiheit erlangt. Kindern über sieben Jahren wird zugestanden, ohne ausdrückliche Zustimmung der Eltern die Dinge zu kaufen, die keinem Verbot unterliegen. Sie dürfen also keinen Alkohol oder Zigaretten kaufen, sie dürfen nichts kaufen, was an einen schriftlichen Vertrag gebunden ist und sie dürfen nichts kaufen, was so teuer ist, dass es mit dem normalen Taschengeld nicht bezahlt werden kann. Einer Hochrechnung des Marktforschungsinstituts Iconkids& Youth zufolge gaben Kinder und Jugendliche von sechs bis 19 Jahren 2010 in Deutschland 18,91 Milliarden Euro aus. Der größte Anteil entfiel dabei auf Bekleidung, Mode und Schmuck.
Institutionelle und rechtliche Aspekte des gesellschaftlichen Zusammenlebens erfordern Einteilungen in Unreife, Teilreife, Vollreife zur Lizenzerteilung und Pflichtzuschreibung. Obligatorisches Schulalter, Deliktfähigkeit, Berufsreife, Ehereife, Volljährigkeit, aktives und passives Wahlrecht, Wehrpflicht, Geschäftsfähigkeit sind Etappen auf dem Weg von Kindern und Jugendlichen.
Sozialwissenschaftler und Mediziner bestätigen die Veränderung der Lebensphasen. Nach herkömmlicher Unterteilung beginnt die mit der geschlechtlichen Reife (Pubertät). Sie endet mit der sozialen Reife (Eintritt in Beruf und Ehe). Durch gesündere Ernährung, Verbot von Kinderarbeit, durch Gen-Mutation und geringere Sterblichkeit wird die Phase der Kindheit zugunsten einer verlängerten Jugendzeit verkürzt. Auch Zwölfjährige können schon zu den Jugendlichen zählen. Mit der Vorverlagerung körperlicher Reife hält die seelische Entwicklung Schritt, die Gesamtpersönlichkeit entfaltet sich beschleunigt. Generell findet eine nun ein bis zwei Jahre vorgezogene Reifung von Mädchen gegenüber Jungen statt.
Vorverlagerte Jugendlichkeit, der Ausbau des Bildungswesens und die berufliche Ausbildung führen dazu, dass die meisten Jahre der Jugendzeit zugleich Schulzeit sind. Diejenigen Jugendlichen, die nach zehnjähriger Schulpflicht als 16-jährige eine berufliche Ausbildung beginnen, bleiben über die Berufsschule in einen Schulzusammenhang eingebunden, der für die Schüler der Oberstufe ohnehin bis zum 19. Lebensjahr andauert und von Studierenden bis ins 25. Lebensjahr hinein verlängert wird. Die Mehrheit der Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 25 Jahren besucht noch eine allgemeinbildende Schule, weniger als 20 % sind in beruflicher Ausbildung. Stark angewachsen ist die Zahl der Studierenden, sie stieg 2009 gegenüber dem Vorjahr um knapp 7%; die Studienanfängerquote liegt nun bei gut 43% eines Jahrgangs. Auf der anderen Seite beträgt die Arbeitslosenquote bei jungen Menschen zwischen 15 und 24 Jahren 10,5%. Dieser Wert wird noch einmal verschlechtert, berücksichtigt man die Tatsache, dass junge Menschen in starkem Ausmaß im Niedriglohnsektor arbeiten, also in Mini- und Teilzeitjobs bei – auch im europäischen Vergleich – extrem niedrigen Stundenlöhnen. Entsprechend ist die Zahl der regulären Arbeitsverträge massiv abgesunken, und zwar, innerhalb der letzten zehn Jahre vor rund 1,2 Mio. auf 400 000 (ILO Genf, Stat. Bundesamt Wiesbaden).
Die Notwendigkeit, jungen Menschen zu guter Schulbildung und guter Ausbildung zu verhelfen, damit sie schließlich in gute Berufe gelangen, ist heute größer denn je, für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Quer dazu liegt die Tatsache, dass die Ausgaben für Bildung in Deutschland unter dem OECD-Durchschnitt liegen. Inzwischen wird die Bereitstellung von Kindergärten, Schulen, von Bildung und Ausbildung nicht mehr alleine dem Staat anvertraut. Die Zahl privater allgemeinbildender und beruflicher Schulen steigt ständig (9% im Jahr 2010) und führt zur Deregulierung des Ausbildungswesens mit zahlreichen neuen Abschlüssen bei größerer Unübersichtlichkeit.
Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Veränderungen auf Jugendliche hat die 16. Shell-Studie untersucht. Während vor acht Jahren die Befunde noch ganz überwiegend positiv klangen, zeigen sich nun Verschiebungen. Jugendliche 2010 verzagen nicht angesichts gestiegener Leistungserwartungen und ungesicherter Berufs- und Zukunftsperspektiven. Die große Mehrheit von ihnen erkennt die Herausforderungen und begegnet ihnen mit verstärkten eigenen Investitionen in Bildung und Ausbildung. Der Wunsch nach höheren Abschlüssen zeigt sich in gestiegenen Studierendenzahlen. Das geht einher mit verändertem Verhalten. Aus der „no-future“-Generation oder der „Null-Bock“-Generation vergangener Jahre ist eine disziplinierte Generation geworden, eine Generation, die der Schule und der Ausbildung Priorität vor anderen Bereichen einräumt, die dem starken gesellschaftlichen Erwartungsdruck selbstbewusst und krisenfest begegnet. Voraussetzung dafür allerdings ist im Regelfall die finanzielle und mentale Solidarität der Eltern.
Die Shell-Studie unterscheidet mit Blick auf die Herkunftsfamilien in drei Jugendwelten: Zwei davon, die der Jugendlichen aus oberer und mittlerer sozialer Herkunftsfamilie, können dank guter Ressourcen dem massiv gestiegenen Druck standhalten. In der mittleren Gruppe wird der Wunsch nach sozialem Aufstieg nicht selten ersetzt durch den Wunsch, den status quo beibehalten zu können, sich also möglichst gegenüber der Lage des Elternhauses nicht zu verschlechtern. Für die dritte Gruppe, diejenigen aus bildungsfernen oder sozial schwachen Familien, gilt dieser Optimismus nicht. Nach wie vor entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft über Schulwahl und spätere Ausbildungsmöglichkeiten. Dauerhaft erzielt etwa ein Fünftel der Jugendlichen, zumal aus bildungsfernen Elternhäusern, keine oder schlechte Schulabschlüsse und nimmt den Weg in Niedriglohnberufe oder Arbeitslosigkeit. Wo das Elternhaus keine oder kaum Ressourcen bereithält, ist der Blick in die eigene Zukunft deutlich pessimistischer. Dennoch ist es auch hier nur eine Minderheit, die sich nicht an die Regeln hält und Zukunftsängste mit Aggressionen beantwortet. Resignation und Desorientierung bestimmen das Bild. Auch die angesprochene Deregulierung des Ausbildungswesens, seine Entstrukturierung und die damit erhöhte Wahlfreiheit und -notwendigkeit kann Problemlösungskompetenzen steigern, aber auch zum Versagen beitragen.
Für die dritte Gruppe ist auffällig, dass bei familiär-schlechten Startvoraussetzungen jungen Frauen der Sprung nach oben weitaus besser gelingt. Anders als die jungen Männer aus dieser sogenannten dritten Jugendwelt erfahren junge Frauen ihre Herkunft, den Ressourcenmangel nicht zwingend als unüberwindliche Barriere. Soweit sie es in eigenen Händen haben, motivieren sie sich und sind erfolgreich. Für sie wie für alle anderen gut ausgebildeten jungen Frauen kommt der Bruch erst dann, wenn sie sich aufgrund überkommener gesellschaftlicher Vorstellungen zwischen Kindern und Karriere „entscheiden“ sollen, statt sie zu kombinieren.
Die Anforderungen an junge Menschen sind heute so hoch wie selten. Der Druck ist enorm. Sicherheiten fehlen, leistungsunabhängige Wertschätzungen kommen zu kurz, auch die Jugendzeit als zweckfreie und eigenständige Lebensphase ist auf dem Rückzug. Doch die Möglichkeit, politisch Einfluss auf ihre Situation zu nehmen, lassen Jugendliche weitgehend ungenutzt. Zwar ist ihr bürgerschaftliches Engagement seit Jahren gleichbleibend hoch und liegt mit ca. 36% über dem anderer Altersgruppen. Doch die Wahlbeteiligung junger Menschen ist niedrig. Seit 1987 liegt die Beteiligung junger Wähler konstant 10% unter der Gesamtwahlbeteiligung. Bislang spricht nichts dafür, dass eine weitere Herabsenkung des Wahlalters junge Menschen zu mehr politischer Partizipation und damit zu mehr Einfluss auf die eigene Situation bringen könnte.
Literaturempfehlungen:
Bertelsmann Stiftung (Hrsg.), Kinder- und Jugendbeteiligung in Deutschland. Entwicklungsstand und Handlungsansätze, Gütersloh 2007
Statistisches Bundesamt (Destatis), Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Zentrales Datenmanagement (Hrsg.), Datenreport 2011. Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik Deutschland, Band I und II, Bonn 2011
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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