Humanitäre Intervention

Humanitäre Intervention – neuer Begriff im Völkerrecht

Die Resolution 688 des Sicherheitsrates von 1991 ist in Bezug auf humanitäre Interventionen völkerrechtliches Neuland: Der Irak wird darin von der UNO u. a. aufgefordert, die Unterdrückung der irakischen, kurdischen Zivilbevölkerung sofort zu beenden. Der Sicherheitsrat zog unter Hinweis auf die in dieser Unterdrückung liegenden Friedensbedrohung erstmals die Verantwortung für die inneren Angelegenheiten eines Staates (nach Art. 2.7 der UN-Charta eigentlich geschützt) an sich.

Die humanitäre Intervention formuliert den weltweiten Anspruch der internationalen Gemeinschaft gegen schwere Menschenrechtsverletzungen und Menschheitsverbrechen mit militärischen Mitteln einzuschreiten und kollektive Weltgüter zu schützen.
Zugleich gilt die humanitäre Intervention als ein umstrittener Rechtfertigungsgrund für militärisches Eingreifen.

Historischer Hintergrund

Der Interventionsbegriff datiert aus der Zeit der Ausformung des Nationalstaatensystems und der Begründung der nationalstaatlichen Souveränität im 19. Jahrhundert. Intervention bedeutet Einmischung von Staaten oder internationalen Organisationen in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates unter Anwendung oder Androhung von Gewalt sowie die Verletzung der staatlichen Souveränität. Der Begriff der Intervention ist im Völkerrecht umstritten, da aufgrund der nichtexistierenden einheitlichen Auslegung des Völkerrechts keine allgemeingültige Definition anerkannt wird.

Als fundamentale Prinzipien zwischenstaatlicher Beziehungen in der Jahrhunderte langen völkerrechtlichen Entwicklung haben sich herausgebildet:

  • das Souveränitätsprinzip,
  • die territoriale Unverletzlichkeit,
  • die Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Mittel in den internationalen Beziehungen und,
  • im Falle kriegerischer Auseinandersetzungen, die Einhaltung des Kriegsvölkerrechts (Haager Landkriegsordnung u. a.).

Organisation der Vereinten Nationen und Menschenrechtsfrage

Die Gründung der Vereinten Nationen 1945 war nach dem Scheitern des Völkerbundes der zweite Versuch, eine weltweite Organisation zur Bewahrung von Frieden und Sicherheit zu schaffen.
In der Charta und im System der UNO wurden als Hauptfunktionen verankert:

  • die Sicherung des Weltfriedens,
  • die weltweite wirtschaftliche und soziale Entwicklung als vorbeugende Maßnahme zur Vermeidung von Kriegen (Erkenntnis aus der Weltwirtschaftskrise),
  • die Achtung und Verwirklichung der Menschenrechte und individuellen Grundfreiheiten (Erkenntnis aus der systematischen Verletzung der Menschenrechte vor allem Nazi-Deutschlands).

Der Grundsatz der nationalen Souveränität und Gleichheit setzt die Rahmenbedingungen für die Funktionsfähigkeit der UNO, die von der Kooperationsbereitschaft ihrer souveränen Mitgliedstaaten abhängig ist.

Die Menschenrechtsfrage war schon sehr früh Gegenstand der Arbeit der Vereinten Nationen, z. B. in der UNO-Menschenrechtskonvention 1948 und in zahlreichen Genfer Zusatzprotokollen.
Nach klassischem Verständnis waren nur die souveränen Staaten Subjekte des Völkerrechts. Heute gilt das Individuum als Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten. Mit der UNO-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords (Völkermordkonvention) von 1948 haben die Unterzeichnerstaaten anerkannt, dass Völkermord

„ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten“.

Seit ihrem Bestehen haben die Vereinten Nationen eine Reihe von Resolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen verfasst, so z. B. gegen

  • das Pinochet-Regime in Chile oder
  • Südafrika wegen seiner Apartheid-Politik 1977.

Andererseits wurden die zahlreichen Bürgerkriege und bewaffneten Konflikte innerhalb von Staaten lange Zeit als innere Angelegenheiten der Länder betrachtet.

Gewaltverbot und Gewaltmonopol durch die UNO

Die UNO, geschaffen als ein Bündnis aller „friedliebenden Staaten“ gegen einen potentiellen „Aggressor“, sollte jede den Frieden bedrohende Gewaltanwendung untersagen. Nach Art. 2 der Charta verpflichteten sich alle Mitglieder, auf jede Anwendung oder Androhung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen zu verzichten und die UN bei Sanktionsmaßnahmen (Art. 39–51), bis hin zur militärischen Intervention, aktiv zu unterstützen.
Die UN-Charta lässt von dem umfassenden Gewaltverbot folgende Ausnahmen zu:

  • das Recht eines Staates zur individuellen und kollektiven Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe (Art. 51),
  • das Recht des Sicherheitsrates, militärische Mittel zur Wahrung oder Wiederherstellung des Weltfriedens einzusetzen (Art. 42).

Militärischen Zwangsmaßnahmen muss die Feststellung der Bedrohung oder des Bruchs des Friedens durch den Sicherheitsrat vorausgehen (Art. 39). Der Sicherheitsrat kann Regionalorganisationen mit der Durchführung der militärischen Zwangsmaßnahmen beauftragen (Art. 53); die NATO und die OSZE sind beispielsweise Regionalorganisationen.
Mit Ausnahme des Selbstverteidigungsrechts, liegt das Gewaltmonopol, das internationale Recht auf friedenerzwingende Maßnahmen, bei den Vereinten Nationen. Die UNO ist jedoch an der Durchsetzung ihrer satzungsmäßigen Aufgabe als kollektives Sicherheitssystem (Kap. VII) gehindert:

  • Die UNO verfügt über keinen eigenen Machtapparat; sie ist auf die Militärapparate ihrer Mitglieder angewiesen.
  • Mit dem Vetorecht der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates kann das Gewaltmonopol gebrochen werden.
  • Das Gleichheitsprinzip der Nationen ist im Sicherheitsrat durch die Hegemonie der Großmächte, als ständige Mitglieder, nicht realisiert.
  • Die Generalversammlung, UN-Vollversammlung, mit gegenwärtig 189 Mitgliedstaaten, ist in Entscheidungsprozesse über Interventionsmaßnahmen ungenügend eingebunden.

Angesichts der Tatsache, dass die UNO ihr Gewaltmonopol nicht effektiv durchsetzen kann, werden international strukturelle und institutionelle Reformen der UNO angemahnt und diskutiert.

Es wird gefordert, den Weltsicherheitsrat zum zentralen Instrument von Konfliktverhütung und -lösung zu machen. Seine Erweiterung auf 21–25 Mitglieder und eine geographisch gerechtere Verteilung ist vorgeschlagen. Als ständige Mitglieder sind

  • Deutschland,
  • Japan und
  • je ein Staat aus Afrika, Asien und Lateinamerika

vorgesehen.

Internationale Verantwortung für die Durchsetzung humanitärer Rechte

Die Gefährdungen der Menschheit durch Krieg, Unterentwicklung und Hunger, Terrorismus, Umweltzerstörungen, Katastrophen und Menschenrechtsverletzungen wirken sich global aus und sind vom einzelnen Nationalstaat nicht mehr zu verhüten und zu bekämpfen.
Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ist seit 1990 eine steigende Anzahl kriegerischer Auseinandersetzungen zu verzeichnen.

Daher rückt die gemeinsame Verantwortung der Staatengemeinschaft zur Bewältigung humanitärer Katastrophen immer stärker ins Blickfeld der internationalen Politik.

Die Legitimität und das Recht humanitärer Interventionen wird von gegensätzlichen Standpunkten aus diskutiert.

  • Befürworter der humanitären Intervention auch ohne UNO-Mandat verweisen auf das übergesetzliche Recht der Nothilfe, um den Opfern beistehen zu können.
    Zum Beispiel führte mit diesem Argument 1999 die NATO den Luftkrieg gegen das ehemalige Jugoslawien zum Schutz der Kosovo-Albaner ohne UN-Mandat.
  • Kritiker verweisen auf das durchzusetzende Gewaltmonopol der UNO und die Verhältnismäßigkeit der anzuwendenden Mittel bei humanitären Interventionen.
    Ethnisch, religiös oder rassisch motivierte Konflikte sind nicht durch militärische Mittel zu lösen. Das Militär und der Einsatz von Waffen sind zu betrachten als Teil des Gewaltkonflikts und nicht als Ausgangspunkt zu seiner Lösung. Opfer militärischer Kampfhandlungen ist zumeist die unschuldige Zivilbevölkerung.

Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch kritisieren die ungleiche Behandlung von Menschenrechtsverletzungen. Während gegen Jugoslawien, Afghanistan und den Irak mit militärischer Gewalt vorgegangen wurde, sind Menschenrechtsverletzungen z. B. in China, oder der Genozid in Kambodscha und Ruanda von der internationalen Gemeinschaft zugelassen worden.

Völkerrechtler warnen davor, dass der weltweite Anspruch auf humanitäre Intervention aus machtpolitischen, hegemonialen Interessen missbraucht wird. Es wird gefordert, völkerrechtliche Kriterien und Voraussetzungen für humanitäre Interventionen zu formulieren.
Diskutiert werden einschränkende Prämissen für eine humanitäre Intervention:

  • Es muss eine unmittelbar bevorstehende oder bereits stattfindende und noch andauernde, schwerwiegende Verletzung humanitärer Mindeststandards vorliegen. Rechtsgrundlagen könnten sein, ob Straftatbestände, wie sie dem Nürnberger Tribunal zugrunde lagen, aus der Völkermordkonvention oder dem Statut für einen Internationalen Strafgerichtshof verletzt werden.
  • Sämtliche Konfliktlösungsmöglichkeiten unterhalb der Gewaltstufe müssen versucht worden sein. Die diplomatischen Lösungsmöglichkeiten müssen erschöpft sein.
  • Die Durchführung einer institutionalisierten Intervention durch die Vereinten Nationen oder regionale Organisationen muss unmöglich sein.
  • Der Zielstaat muss ultimativ aufgefordert worden sein. Der Sicherheitsrat muss benachrichtigt werden.
  • Die Intervention muss ausschließlich der Erfüllung des humanitären Zwecks dienen. Sie muss auf eine minimale Dauer und auf minimale Gewaltanwendung beschränkt bleiben. Im Sicherheitsrat ist ständig Bericht zu erstatten.
    (BIRGIT LAUBACH 1999)

In Zukunft ist zu fragen, ob es außer den Menschenrechten auch andere kollektive Weltgüter gibt, die der Souveränität eines Landes entzogen werden können. Dabei könnte es sich z. B. um den Aufbau von Nuklearanlagen und chemisch/bakteriologischer Waffenfabriken als Friedensbedrohung handeln. Die Abholzung von Regenwald und seine globalen Auswirkungen im Klimabereich können die gesamte Menschheit betreffen. Konflikte um die natürliche, lebensnotwendige Ressource Wasser können sich friedensbedrohend auswirken. Dazu könnte auch der Schutz des Weltkulturerbes gehören (z. B. Zerstörung der Statuen von Bamian durch afghanische Taliban 2001).

Deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und humanitäre Intervention

Deutschland verfolgt außenpolitisch das Ziel umfassender Sicherheit:

  • durch multilaterale Zusammenarbeit,
  • durch nachhaltige Abrüstung und Entwicklung, mittels Bekämpfung von Gewalt und ihren Ursachen
  • und nötigenfalls auch durch polizeiliche oder militärische Mittel.

Dabei setzt die deutsche Außenpolitik unbedingt auf das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen. Die Bundesrepublik tritt ein

  • für die Herrschaft und die Durchsetzung des Rechts,
  • für Krisenpolitik durch Krisenprävention und
  • für kollektive Konfliktlösungen (Auswärtiges Amt 2004).

Der erste Auslandseinsatz der Bundeswehr diente 1960 der Katastrophenhilfe nach einem Erdbeben in Marokko. Es folgten bis heute humanitäre Missionen bei Flut, Hunger oder Erdbeben auf fast allen Kontinenten.

Deutschland beteiligte sich an internationalen Friedensmissionen mit Versorgungs- und Sanitätseinheiten in Kambodscha (1992–1993), in Somalia (1992–1994), in Ruanda (1994) und seit 2002 mit Bundeswehrsoldaten in der SFOR-Truppe in Bosnien-Herzegowina. Deutsche Marineeinheiten sind im Rahmen des „Kampfes gegen den internationalen Terrorismus“ am Horn von Afrika im Einsatz. Beteiligt ist die Bundeswehr an der vom UN-Sicherheitsrat 2001 beschlossenen multilateralen Friedenstruppe in Afghanistan. Die Bundeswehr hat gegenwärtig mehr Soldaten in den Auslandseinsatz entsandt als je zuvor in ihrer Geschichte.

Mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 sind Auslandseinsätze der Bundeswehr jenseits der Landes- und Bündnisgrenzen möglich, wenn diese Einsätze im Rahmen von Aktionen der NATO und der WEU zur Umsetzung von Beschlüssen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen stehen. Vor der Entsendung der Bundeswehr zu einem Auslandseinsatz ist die einfache Mehrheit des Bundestages erforderlich.

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