Hermeneutik

Hermeneutik

„Hermeneutik“ bezeichnet eine Methode der empirischen Sozialforschung, die im Rahmen qualitativer Untersuchungen zur sinnverstehenden Auslegung von Reden, schriftlichen Texten, aber auch von Bildern und anderen Kunstwerken aus Geschichte und Gegenwart herangezogen wird.

Ursprünge der Hermeneutik

Das Wort „Hermeneutik“ entstammt dem Griechischen und bezeichnet allgemein die Kunst der Auslegung oder Deutung (aus griech. hermeneutike „Kunst der Auslegung, der Deutung“; zu hermeneus, hermeneutes „jemand, der über etwas Auskunft gibt: Ausleger, Deuter, Dolmetscher“).
Die Ursprünge der Hermeneutik reichen zurück bis in die griechische Mythologie: Hier übersetzte schon Götterbote Hermes den Willen der Götter in menschliche Sprache, damit die Sterblichen diesen Willen auch zu verstehen vermochten und ihn nicht missverstanden. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Kunst des Auslegens und Verstehens vor allem für solche Gegenstände und Bereiche von Bedeutung ist, von denen erwartet wird, dass sie eine wichtige Erkenntnis beinhalten, welche allerdings nur schwer zu verstehen ist beziehungsweise leicht missverstanden werden kann. Die Hermeneutik spielte daher auch in der jüdischen und christlichen Theologie für die Auslegung und das Verständnis der Überlieferungen der Heiligen Schriften eine wichtige Rolle.
In der frühen Neuzeit entwickelten sich aus diesen Ursprüngen weitere sprach- und religionswissenschaftliche hermeneutische Kunstlehren sowie (im Zusammenhang mit der Auslegung des römischen Rechts) eine juristische Hermeneutik. In diesen Teilbereichen bezog sich die Hermeneutik vor allem auf die Auslegung historischer Texte, deren Inhalte und Sinn auf die aktuelle Situation übertragen werden sollte. Mit der Aufklärung folgten aber zunehmende Tendenzen, die Hermeneutik von solchen normativen Vorgaben zu lösen. Vor allem FRIEDRICH SCHLEIERMACHER bemühte sich im 19. Jahrhundert, die Hermeneutik zu einer möglichst allgemein formulierten Kunstlehre der Interpretation zu machen.

Hermeneutik in den Sozialwissenschaften

JÜRGEN HABERMAS trug wesentlich dazu bei, die Hermeneutik für die sozialwissenschaftliche Methodologie bedeutsam werden zu lassen. Im Zentrum seiner Überlegungen stehen erkenntnistheoretische Probleme, die vor allem an die Gedanken HANS-GEORG GADAMERs philosophischer Hermeneutik anknüpfen.
Reflektiert werden in letzterer

  • nicht nur sprachphilosophische Zugänge zur Interpretation von Texten,
     
  • sondern unter anderem auch die Strukturen, die es uns ermöglichen oder es uns aber auch unmöglich machen, unseren eigenen Erfahrungsbereich zu verstehen.

Wenn sozialwissenschaftliche Interpretationen nämlich genauso abhängig von dem sie umgebenden Kontext und dem persönlichen Vorverständnis wären wie Alltagsinterpretationen, dann seien sie kaum in der Lage, objektive Deutungen zu erzielen beziehungsweise die eigenen Interpretations-Methoden kritisch zu hinterfragen. Schließlich unterläge man zwangsläufig genau jenen Regeln der Interpretation und Reflexion, die man eigentlich herausarbeiten wolle, wenn man versuche, eine objektive Methodenforschung zu entwickeln. Gerade dadurch sei diese dann aber eben nicht mehr objektiv und allgemein gültig.
Im Unterschied zur traditionellen philosophischen Hermeneutik hält JÜRGEN HABERMAS es für möglich, diesen „hermeneutischen Zirkel“ zu durchbrechen: Er schlägt in diesem Zusammenhang die Einrichtung von Diskursen vor, in denen nichts anderes als das bessere Argument zählen solle und entwickelt hieran seine Theorie des kommunikativen Handelns. Der Diskurs wird darin

„zu einem Instrument der herrschaftsfreien und vernünftigen Verständigung (...), mit dem wir uns selbst aufklären und unser Selbstverständnis durch die Auseinandersetzung mit der Überlieferung fremden und vergangenen Sinnes kritisch reflektieren“ (WEIHE 1989, 328).

Anders als HABERMAS setzt ULRICH OEVERMANN nicht in erster Linie bei erkenntnistheoretischen Problemen, sondern bei Erfahrungen aus der Forschungspraxis an. Er entwickelt die objektive Hermeneutik, eine empirische Verfahrensweise, bei der im Unterschied zur konventionellen Hermeneutik nicht nur das psychisch unbewusste, sondern vor allem das sozial Unbewusste in Sprache herausgearbeitet werden soll. Die Rede ist hierbei von „latenten sozialen Sinnstrukturen“. Bei der objektiv-hermeneutischen Interpretation wird das Besondere an einem Text oder einem Tonband-Interview erarbeitet, indem der Interpretierende vergleicht, inwieweit seine eigenen, auf alltäglichen Kommunikationsstrukturen beruhenden Erwartungen an eine sprachliche Interaktion eintreffen beziehungsweise von ihr abweichen. Auf diese Weise können – unabhängig von den subjektiven, inhaltlichen Intentionen der am Gespräch beteiligten Personen – allgemeine Interaktionsstrukturen aufgedeckt werden, die von der Normalität, also den „naiven“ Erwartungen des Interpreten, abweichen und somit eine Besonderheit des Textes darstellen: Schließlich muss es besondere Ursachen dafür geben, dass von all den verschiedenen, in der Alltagskommunikation als normal empfundenen Möglichkeiten von Äußerungen und Reaktionen, eine bestimmte ausgewählt beziehungsweise andere nicht gewählt werden.

Veranschaulichung der Methode

Zur Veranschaulichung der Methode werden im Folgenden die konkreten Prinzipien und Vorgehensweisen objektiv hermeneutischer Interpretationen kurz zusammengefasst und abschließend an einem Beispiel angewendet. Zuvor sei jedoch noch auf einen problematischen Aspekt der objektiv hermeneutischen Interpretationstechnik hingewiesen, der unter anderem von FISCHER und KOHLI kritisiert wurde; nämlich die Frage danach, inwieweit es tatsächlich universal geltende Regeln der Kommunikation gibt, die es rechtfertigen, dass der Interpret seine persönlichen „naiven“ Erwartungen zum objektiven Maßstab für die Auslegung des Textes macht: Die Formulierung objektiver Möglichkeiten im Rahmen von Kommunikation basiere

„auf Annahmen über ‚allgemeingültige Regeln', deren Geltung problematisch ist, da sie sich letztenendes auf die eigene Sozialkompetenz des Forschers, sein Regelwissen und die ihm bekannten Sprachgebrauchskonventionen stützen muss“ (FISCHER/ KOHLI 1987, 45).

Prinzipien der objektiven Hermeneutik

Die objektiv-hermeneutische Textinterpretation folgt fünf Prinzipien, die zugleich zur methodologischen Begründung sowie zu den konkreten Regeln für die Anwendung des Verfahrens gehören:

  1. Kontextfreiheit meint, dass der zu interpretierende Text unabhängig von dem Zusammenhang untersucht werden soll, in dem er entstand. Der Interpretierende entwickelt selbst eine Vorstellung von dem Kontext, in dem die protokollierte Handlung stattgefunden haben könnte und vergleicht sie dann erst im Nachhinein mit dem tatsächlichen Handlungszusammenhang.
     
  2. Wörtlichkeit verpflichtet den Interpretierenden, sich akkurat an nichts anderem als an dem ihm vorliegenden Text zu orientieren. Es dürfen also zunächst keine eigenen Urteile darüber gefällt werden, was der Sprechende/ Schreibende vielleicht zwar gemeint aber nicht ausgedrückt hat. Das kann beispielsweise bei „Versprechern“ von großer Bedeutung sein (z. B.: „Etwas kommt zum Vorschwein“, vgl. WERNET 2000, 90).
     
  3. Sequenzialität bedeutet, dass das Textprotokoll chronologisch, d. h. Schritt für Schritt analysiert werden muss. Interpretationen dürfen also nicht willkürlich durch Sprünge im Text vorgenommen werden. Außerdem besagt das Prinzip, dass bei der Analyse einer Textsequenz die unmittelbar vorangehende Sequenz zunächst nicht beachtet werden darf.
     
  4. Extensivität meint, dass alle vorliegenden Textelemente einer Sequenz gleichermaßen berücksichtigt, alle erdenklichen Kontexte vollständig ausgelotet und alle Lesarten (vgl. unten) berücksichtigt werden müssen.
     
  5. Sparsamkeit verlangt vom Interpretierenden, nur Lesarten zu bilden, die der Text erzwingt und dementsprechend auch nur solche Fallstruktur-Hypothesen (vgl. unten) zuzulassen, die anhand des Textes überprüfbar sind.

Vorgehen der objektiven Hermeneutik

Grundsätzlich erfolgen hermeneutische Deutungen mittels eines Dreischritts:

  1. dem Verstehen,
  2. dem Auslegen,
  3. dem Beurteilen.

Das bedeutet, es wird zunächst untersucht, welche Absicht der Urheber eines Textes (oder der Maler eines Bildes) beim Erstellen des zu interpretierenden Werkes hatte (Verstehen). Anschließend wird dieses Verständnis dann in Relation zu einem größeren Bedeutungszusammenhang (beispielsweise zu einer politischen Theorie) gesetzt (Auslegen) und kann dann auf dieser Grundlage bewertet werden (Beurteilen).
Auch die objektiv-hermeneutische Textinterpretation erfolgt in solch einem hermeneutischen Dreischritt:

  1. Es werden Geschichten entwickelt, in denen die zu interpretierende Textstelle geäußert worden sein könnte.
     
  2. Diese Geschichten werden auf ihre Gemeinsamkeiten hin untersucht: Sie werden „typologisch gruppiert“ (WERNET 2000, 92) und somit die Lesarten des Textes formuliert. Eine Lesart erklärt die mögliche Bedeutung der Textstelle: Sie ist die „Bedeutungsexplikation“.
     
  3. Die Bedeutungsexplikation wird mit dem tatsächlichen Kontext und der Intention der Äußerung konfrontiert. Dadurch können Besonderheiten der vorliegenden Fallstruktur herausgearbeitet werden.

Das folgende Beispiel einer objektiv-hermeneutischen Textinterpretation soll dieses Vorgehen (Geschichten – Lesarten – Fallstruktur) konkret verdeutlichen. Das Beispiel entstammt WERNETs „Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik“ (2000, 40–43). Die zitierte Textpassage wurde für den vorliegenden Zweck allerdings leicht geändert und stark gekürzt:

Beispiel: Möchst dein Brot selbst machen...
Ich entnehme dieses Interpretationsbeispiel dem schon mehrfach zitierten Protokoll einer familialen Interaktion. Zur Erinnerung: Ein Kind fragt: „Mutti, wann krieg ich endlich mal was zu essen. Ich hab so Hunger.“ Wir wollen die Antwort der Mutter interpretieren und lassen dabei zunächst die vorangegangene Frage des Kindes unberücksichtigt.

M: Möchtest du dein Brot selbst machen oder soll ich dir's schmieren?

  1. Geschichten
    a) Eltern-Kind-Interaktion: Ein Kind, das schon dazu in der Lage ist, sein Brot selbst zu schmieren, dies aber noch nicht so recht beherrscht, wird zu Beginn des Essens von Vater oder Mutter gefragt: „Möchtest du dein Brot selbst machen oder soll ich dir's schmieren?“
    b) Gatten-Interaktion: Die Frau muss früh zur Arbeit und gerät morgens in Zeitnot. Während sie noch damit beschäftigt ist, alle notwendigen Unterlagen und Utensilien zusammenzusuchen, hat der Mann das Frühstück zubereitet und fragt: „Möchtest du dein Brot selbst machen oder soll ich dir's schmieren?“
    c) Zwei Freunde sitzen während eines gemeinsamen Ski-Urlaubs am Frühstückstisch. Sie haben beschlossen, sich zum Skifahren Proviant mitzunehmen. Während A noch frühstückt, ist B schon fertig und hat sich ein Brot geschmiert. Nun fragt er A: „Möchtest du dein Brot selbst machen oder soll ich dir's schmieren?“
     
  2. Lesarten
    Allen Geschichten gemeinsam ist die Unterstellung, dass die Person, an die die Frage gerichtet ist, sich prinzipiell das Brot selbst schmiert bzw. schmieren kann. Gleichzeitig muss aber angenommen werden, dass besondere Umstände vorliegen, die die Möglichkeit, das Brot nicht selbst zu schmieren, überhaupt erst eröffnen. [...]
     
  3. Fallstruktur-Hypothese
    Die Frage ist dem uns schon bekannten Interaktionsprotokoll entnommen. Ich erinnere kurz an die bisherige Interpretation. Der Frage der Mutter ging die Frage des Kindes voran: „Mutti, wann krieg ich endlich mal was zu essen. Ich hab so Hunger.“ OEVERMANNs Interpretation dieser Äußerung habe ich oben schon zitiert: „Behandele mich doch wie ein kleines Kind“ (OEVERMANN 1981, 17).
    Die Antwort der Mutter, die wir soeben interpretiert haben, habe ich oben folgendermaßen gedeutet: Sie erklärt die Bitte des Kindes für nicht existent. Nach unserer Interpretation kann diese Deutung präzisiert werden. Nun haben wir nämlich gesehen, dass die Frage der Mutter vorgibt, eine Unterstützungshandlung zu sein. Sie unterläuft mit ihrer Frage also nicht nur den Wunsch des Kindes. Dieses Unterlaufen gibt zugleich vor, sich gesteigert in den Dienst des Kindes zu stellen: „Wenn Du nicht willst, dann tue ich es für dich“. Die Ignoranz gegenüber dem Anliegen des Kindes drückt sich also in dem geraden Gegenteil aus, nämlich in einer besondere Fürsorglichkeit in Anspruch nehmenden „Taubheit“ (aus: WERNET, S. 40–43).
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