Hannah Arendt – die Freiheit des Handelns

Die Politologin HANNAH ARENDT wird am 14. Oktober 1906 als Tochter des Ingenieurs PAUL ARENDT und dessen Frau MARTHA (geb. COHN) in Linden (bei Hannover) geboren. Sie wächst in einem jüdisch-assimilierten Elternhaus auf, das politisch der Sozialdemokratie nahe steht. Als der Vater 1910 erkrankt, zieht die Familie nach Königsberg (das heutige Kaliningrad) um, wo PAUL ARENDT 1913 stirbt. Ihre Schulzeit verläuft für HANNAH nicht problemlos. Sie wird von der Schule verwiesen, absolviert mehrere Schuljahre in Berlin und macht schließlich 1924 ihr Abitur als Externe in Königsberg. Danach beginnt sie, in Marburg Philosophie, Theologie und Klassische Philologie bei RUDOLF BULTMANN und MARTIN HEIDEGGER zu studieren. HEIDEGGER, zu diesem Zeitpunkt junger außerordentlicher Professor, übt auf ARENDT einen nachdrücklichen Einfluss aus. Nicht nur, dass beide über Jahre hinaus eine geheime Liebesbeziehung unterhalten. Es ist insbesondere HEIDEGGERs frühe Philosophie, die ARENDT entscheidende Impulse für ihr politisches Denken gibt.

Auf der Flucht – doch in der Welt

Zunächst beendet HANNAH ARENDT ihr Studium in Freiburg (bei EDMUND HUSSERL, dem Lehrer HEIDEGGERs) und Heidelberg, wo ihre Doktorarbeit über den „Liebesbegriff bei Augustin“ von KARL JASPERS (einem engen Freund HEIDEGGERs) betreut wird. Mit JASPERS wird sie eine lebenslange Freundschaft verbinden. 1929 nach Berlin übergesiedelt, heiratet ARENDT den Philosophen GÜNTHER STERN (bekannt unter seinem späteren Namen GÜNTHER ANDERS). ARENDT beginnt mit Forschungen zur deutschen Romantik, die durch ein Stipendium der „Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft“ gefördert werden. Ihre Studien sind 1933 in wesentlichen Teilen beendet, erscheinen aber erst 1959 unter dem Titel „Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik“. In dieser für sie selbst wichtigen Auseinandersetzung mit den Bedingungen der gesellschaftlichen Assimilation von Juden versucht sie erstmals, das jüdische Dasein existenzphilosophisch zu erfassen.

Wegen ihres Engagements für politisch Verfolgte wird HANNAH ARENDT 1933 von der „Geheimen Staatspolizei“ (Gestapo) kurzzeitig inhaftiert und flieht daraufhin nach Paris. 1935 unternimmt sie eine erste Reise nach Palästina. In Paris arbeitet sie zwischen 1935 und 1938 als Leiterin der Zweigstelle der „Jugend-Aliyah“, die jüdische Emigrantenkinder auf ein Leben in Palästina vorbereitet. 1937 lässt sie sich von ihrem Mann scheiden. Von 1938 bis 1939 ist sie für die „Jewish Agency“ in Paris tätig. Im folgenden Jahr heiratet sie HEINRICH BLÜCHER. Nach einer mehrwöchigen Internierung im berüchtigten Auffanglager Gurs emigriert ARENDT mit ihrem Ehemann und ihrer Mutter in die USA. Im Gepäck hat sie unter anderem WALTER BENJAMINs „Geschichtsphilosophische Thesen“, die sie dem nach New York exilierten „Institut für Sozialforschung“ überbringt.

In den USA

In den USA schreibt sie politische Kolumnen für die deutsch-jüdische Wochenzeitschrift „Aufbau“. Bis 1943 ist sie Mitglied der „World Zionist Organization“. Zwischen 1944 und 1952 übernimmt sie leitende Funktionen in weiteren jüdischen Organisationen und ist für vier Jahre Cheflektorin im „Salman Schocken Verlag“. Erstmals nach ihrer Emigration reist sie 1949 als Direktorin der „Jewish Cultural Reconstruction Organization“, die zur Rettung des jüdischen Kulturguts gegründet wurde, wieder nach Deutschland. 1951 nimmt sie nach 18-jähriger Staatenlosigkeit die amerikanische Staatsbürgerschaft an. Sie beginnt mit ihrer Arbeit am 1955 erscheinenden Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ („The Origins of Totalitarianism“) und erhält 1953 eine Professur am „Brooklyn College“ in New York.

Die wichtigsten weiteren Werke von HANNAH ARENDT sind: ·

  • Vita activa oder vom tätigen Leben, 1960;
  • Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen, 1963;
  • Macht und Gewalt, 1970;
  • Über die Revolution, 1974;
  • Vom Leben des Geistes, 2 Bände, postum, 1979.

Hinzu kommen eine Reihe von Aufsätzen und Essays und der aufschlussreiche Briefwechsel mit KARL JASPERS.

Einfluss HEIDEGGERs

In ihren politischen Schriften ist – neben der Anknüpfung an ARISTOTELES – der Einfluss HEIDEGGERs und der Existenzphilosophie deutlich spürbar. Am Denken des frühen HEIDEGGER faszinierte ARENDT die Auszeichnung des praktischen Weltbezugs des Menschen gegenüber einer bloß theoretisch-subjektiven Erkenntnis. Für HEIDEGGER gehört zu den Grundbestimmungen des Menschen (oder wie er sagt: des Daseins) dessen In-der-Welt-sein. In die Welt geworfen (Geburt) muss sich der Mensch selbst erst entwerfen, um seiner grundlosen, endlichen Existenz Sinn zu geben. Er wird sozusagen erst zu dem, was er ist, indem er sich auf seine zukünftigen Möglichkeiten hin entwirft.

Während aber HEIDEGGER diesen Weltbezug als einen je eigenen (je-meinigen) versteht, wird ihn HANNAH ARENDT zur Grundlage der sozialen Interaktion umdeuten. Entspringt laut HEIDEGGER der Kontingenz des Geworfenseins (Geburt) die verpflichtende Last, sein Leben selbst gestalten zu müssen, so steht für ARENDT die Geburt (Natalität) für die menschliche Fähigkeit, neu anfangen zu können. Der natürlichen Geburt folgt eine zweite – nämlich der Eintritt in die soziale Welt durch das eigene Handeln. Die Welt stellt das „Zwischen“ dar, das die Menschen gleichermaßen verbindet wie trennt. Die verbindenden Bezüge werden durch das öffentliche Handeln geschaffen, mit dem jeder Einzelne in die Welt des Sozialen (des Politischen) eintritt – und hierbei zugleich seine ganz eigene Perspektive oder Weltsicht einbringt, die ihn von allen anderen unterscheidet (Pluralismus). Doch droht, wie HANNAH ARENDT selbst durch ihre erzwungene Flucht und den nationalsozialistischen Terror erfahren musste, gerade diese Welt des freien gesellschaftlichen Handelns zu schwinden.

Totalitarismus

In ihrem Buch über die „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ beschreibt ARENDT den vom Totalitarismus (nationalsozialistischer, faschistischer oder stalinistischer Prägung) bewirkten Weltverlust durch Terror. Anders als in den klassischen Tyranneien, deren gesetzlose Willkürherrschaft über Furcht und Schrecken die Bürger vereinzeln, privatisieren (Privation = Beraubung) und ihm so die Möglichkeit des öffentlich-politischen Handelns verschließen, ergreift die totale Herrschaft alle Gesellschaftsmitglieder. Laut ARENDT handelt es sich um „Bewegungsdiktaturen“, in denen die Massen fortwährend mobilisiert werden, um zu bloßen Funktionsträgern und Erfüllungsgehilfen einer Ideologie (Gesetz der Geschichte oder Recht der Natur) herabgesetzt zu werden.

Ein frappierendes Beispiel dafür bietet sich HANNAH ARENDT, als sie zwischen 1961 und 1962 für die amerikanische Zeitschrift „New Yorker“ über den Eichmann-Prozess in Jerusalem berichtet. ADOLF EICHMANN, der den Transport europäischer Juden in die Vernichtungslager organisierte, personifiziert für sie die „Banalität des Bösen“. Er stellt sich als ordentlichen Beamten dar, der seine Aufgaben pflicht- und weisungsgemäß erfüllt habe – ohne das geringste Bewusstsein der Eigenverantwortlichkeit für sein Handeln zu zeigen. Doch auch die Judenräte und jüdischen Organisationen im NS-Regime klagt ARENDT an, der Maschinerie des Terrors gefolgt zu sein, so dass sich die Juden wie Lämmer zur Schlachtbank hätten führen lassen. Ihr Angriff auf das Verhalten der Deportierten ruft bei vielen Überlebenden der Shoah und jüdischen Intellektuellen empörten Widerspruch hervor.

Das Prinzip permanenter Bewegung trifft für ARENDT jedoch nicht nur auf den totalitären Terror des Nationalsozialismus zu. Es kennzeichnet auch die moderne Industriegesellschaft, die sich wesentlich über Arbeit und Konsum bestimmt, während politisches Engagement zur Privatangelegenheit verkümmert. Ständig werden neue Bedürfnisse erfunden und geweckt, um die Produktion und den Absatz von Gütern anzukurbeln. Auf Arbeit und Konsum lässt sich die gesellschaftliche Praxis laut ARENDT aber deshalb nicht gründen, weil damit nur Privatinteressen zur Befriedigung der natürlichen Notwendigkeiten verfolgt werden. Doch der Mensch ist mehr als ein animal laborans – ein arbeitendes Lebewesen, dessen einziger Zweck in seiner Selbsterhaltung liegt.

Die Freiheit des Handelns (vita activa)

Im Sinne von ARISTOTELES unterscheidet ARENDT deshalb einerseits zwischen oikos und polis. Der oikos (das Haus oder die Hauswirtschaft, Ökonomie) dient dem Lebensunterhalt. Die polis hingegen stellt den öffentlichen Raum freier politischer Aktivität dar. Zum zweiten muss zwischen dem herstellenden Tun (techne), der theoretischen Erkenntnis (theoria) und dem Handeln (praxis) unterschieden werden. Letzteres übersteigt den Rahmen der Naturzwänge, sofern es als freies Handeln unter Gleichen eine soziale Welt erschafft und erhält. Der Mensch ist kein bloßes Lebewesen (zoon), sondern – wie ARISTOTELES sagte – ein zoon politikon, ein gesellschaftliches Wesen, das seine Handlungsfähigkeit nur in Interaktion mit anderen in einer ihnen gemeinsamen Welt erproben und erweitern kann.

„Handeln, im Unterschied zum Denken und Herstellen, kann man nur mit der Hilfe der anderen und in der Welt. In dem Zusammenhandeln, dem ‚acting in concert’, wie Burke zu sagen pflegte, realisiert sich die Freiheit des Anfangenkönnens als ein Freisein“ (HANNAH ARENDT, Freiheit und Politik, 692).

Der traditionellen Philosophie wirft ARENDT vor, das Handeln auf ein instrumentelles Verhältnis zur Natur, ihre technische und rationale Beherrschung reduziert zu haben. Davon ist ihrer Ansicht nach auch das Verständnis des Politischen betroffen. Vertragsmodelle, in denen sich – wie bei THOMAS HOBBES – die Einzelnen aus Furcht vor übermächtigen Anderen einem absoluten Regenten unterwerfen, spiegeln ein falsches Verständnis politischer Macht wider. Sie verwechseln Macht mit Gewalt, Herrschaft und Unterwerfung (Souveränität). Unterordnungsverhältnisse haben für ARENDT nichts mit politischer Macht zu tun. Denn Macht versteht sie wesentlich als Fähigkeit zu handeln, die gemeinsame Welt so zu gestalten, dass in ihr die Menschen als Handelnde erscheinen und ihr gesellschaftliches Zusammenleben gestalten können. Die Politik darf daher nicht Parteiorganisationen und Interessenvertretungen überlassen, sondern muss als Sphäre freien öffentlichen Handelns zurückgewonnen werden. Entscheidend ist deshalb, wie die Verfassung eines Staates von der Verfasstheit ihrer Bürger getragen und belebt wird. ARENDT – selbst lange Zeit staatenlos – gibt zu bedenken, dass allgemeine Menschen- und liberale Freiheitsrechte nur dann wirksam sind, wenn politische Beteiliungsrechte hinzukommen, die jedem Bürger die aktive Partizipation am gesellschaftlichen Leben ermöglichen.

Ihre politische Theorie hat vor allem in der Totalitarismus-Forschung Widerhall gefunden. In Dresden ist das sich diesem Themenkomplex widmende Institut nach ihr benannt. Als Vizepräsidentin des „Institute for Arts and Letters“ und später als Vorstandsmitglied des amerikanischen „PEN-Zentrums“ bekleidet sie wichtige Ämter in amerikanischen Kulturorganisationen. Die Stadt Hamburg verleiht ihr 1959 den Lessing-Preis. Weitere Ehrungen folgen. HANNAH ARENDT stirbt am 4. Dezember 1975 im Alter von 69 Jahren in New York.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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