Die geistesgeschichtlichen Wurzeln liberaler Ideen liegen in der neuzeitlichen Naturrechtsphilosophie, im Humanismus und in der europäischen Aufklärung. Der Liberalismus entstand Mitte/Ende des 18. Jahrhunderts in Europa und entfaltete sich im 19. Jahrhundert als breite politische Strömung.
In liberalen Gedanken kamen die Interessen des aufstrebenden Bürgertums zum Ausdruck, das sich aus den Beschränkungen des feudalen Ständestaates und der absolutistischen Herrschaft zu befreien begann. Angesichts einer sich ausbreitenden kapitalistischen Marktwirtschaft zielten die Bürger auf die Abschaffung ständischer Vorrechte und die Errichtung einer bürgerlichen Gesellschaft: Sie forderten freie wirtschaftliche Betätigung (Handelsfreiheit, Eigentumserwerb), kulturelle Entfaltung (Bildung) und politische Mitwirkungsrechte.
Der Liberalismus war untrennbar mit der Herausbildung des modernen Welt- und Menschenbildes in der Neuzeit verbunden: Mit dem Bedeutungsverlust der christlichen Religion erschien die Welt nicht mehr als statische, religiös fundierte Ordnung, sondern als Objekt, das der Mensch mit Hilfe der Wissenschaften erklären und verändern kann. Liberale Ideen basieren auf den Erkenntnissen der Aufklärung, die das Prinzip der Vernunft ins Zentrum stellte und das Individuum „entdeckte“: Postuliert wurde, dass der Mensch durch seine Vernunftbegabung zu Autonomie, Kritik, Freiheit und Selbstbestimmung fähig ist, wenn er sich aus den Fesseln äußerer Abhängigkeiten und Bevormundungen befreit.
Der Kern dieses bürgerlichen Emanzipationsprogramms zu individueller Autonomie wurde von IMMANUEL KANT (1724–1804, Bild 1) in einen Appell gefasst: Der Mensch solle den Mut haben, sich seines „eigenen Verstandes zu bedienen“, um ein Leben in Freiheit und Verantwortung zu führen.
Zum historischen Durchbruch kam der Liberalismus mit den Revolutionen in Europa und Amerika im 18. Jahrhundert und der damit verbundenen politischen Formulierung von Menschen und Bürgerrechten in Grundrechtskatalogen, die in den Verfassungen der westlichen Demokratien garantiert wurden.
Der Liberalismus ist eine breite politische Strömung, die eine große Vielfalt an Ansätzen und Ideen versammelt. Die Grundidee liberaler Konzepte ist, dass die Freiheit des Einzelnen als Grundwert des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Zentrum steht. Freiheit umfasst die Freiheit der privaten Lebensgestaltung und wirtschaftlichen Betätigung sowie politische Freiheiten des Bürgers (i. S. von Meinungs-, Rede-, Versammlungsfreiheit). Grundvorstellung ist, dass die freie Entfaltung des Individuums nach seinen persönlichen Interessen und Fähigkeiten zugleich Wohlstand und Fortschritt für die Gesamtgesellschaft bringt und dadurch ein optimaler Zustand gesellschaftlicher Harmonie erreicht werden kann. Die individuelle Freiheit soll prinzipiell so umfassend sein, wie es die Rechte anderer Individuen und die Belange der Allgemeinheit zulassen.
Liberale Konzepte beruhen auf dem Gedanken der Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz, das den notwendigen und verbindlichen Rahmen für die freie Entfaltung des Einzelnen bildet. Ziel ist nicht die faktische (soziale und politische) Gleichheit aller Menschen, sondern rechtliche Gleichbehandlung und gleiche Ausgangsbedingungen der Bürger (Chancengleichheit).
Die Geschichte hat verschiedene Ausprägungen des Liberalismus hervorgebracht:
Klassischer politischer Liberalismus stellt vor allem die Rechte des Individuums und ihre Absicherung durch den Staat in den Mittelpunkt. JOHN LOCKE (1632–1704) der „Urvater des Liberalismus“, ging davon aus, dass jedem Menschen von Natur aus unveräußerliche Rechte zukommen (Freiheit, Leben, Eigentum). Um sozialen Frieden zu garantieren und dem Individuum Schutz und Sicherheit zu gewähren, bedürfe es der politischen Gewalt des Staates, der über Gesetze die gewünschte Ordnung auch erzwingen kann (staatliches Gewaltmonopol).
„Das große Ziel der Menschen, die in eine Gemeinschaft eintreten, ist der Genuss ihres Eigentums in Freiheit und Sicherheit, und das große Instrument und die Mittel dazu sind die Gesetze, die in dieser Gesellschaft erlassen werden.“ (JOHN LOCKE, 1690)
Um staatliche Machtkonzentration und Machtmissbrauch zu verhindern, schlug LOCKE die Trennung der Staatsgewalt in gesetzgebende Gewalt (Parlament) und ausführende Gewalt (Regierung) vor.
BARON CHARLES DE MONTESQUIEU (1689–1755) ergänzte das Konzept um die Notwendigkeit einer unabhängigen richterlichen Gewalt (Gerichte). Dieses Prinzip der Gewaltenteilung zielte auf die Berechenbarkeit staatlicher Gewalt und die gegenseitige Kontrolle voneinander unabhängiger staatlicher Institutionen. Der Staat darf die Freiheitsrechte eines Individuums nur dann (legitim) einschränken, wenn der Einzelne gegen Gesetze verstößt oder anderen Individuen bzw. der Gemeinschaft Schaden zufügt. Während das private Leben dem staatlichem Zugriff entzogen ist, muss das gesellschaftliche, öffentliche Leben vom Staat politisch geregelt werden, um das größtmögliche Glück für die größte Zahl von Menschen zu verwirklichen (Utilitarismus). Aus liberaler Sicht bedarf die bürgerliche Gesellschaft unbedingt der religiösen, politischen und gesellschaftlichen Toleranz, die als unverzichtbare Bürgertugend für ein friedliches Miteinander betrachtet wird.
Ein wesentliches Ziel des Liberalismus war die Errichtung eines Rechts- und Verfassungsstaates. Für KANT war eine schriftliche Verfassung das beste Mittel, um die Rechte und Freiheiten der Bürger zu schützen und damit Rechtssicherheit herzustellen: Die Verfassung soll durch Gesetze das gesellschaftliche Zusammenleben nach den Prinzipien der Vernunft regeln, während die individuelle Lebensführung der Bürger nur der (bürgerlichen) Moral verpflichtet ist. Liberales Denken der Aufklärung beinhaltet unverzichtbar das Prinzip einer freien, demokratischen Öffentlichkeit: Aufklärung vollzieht sich erst durch den Austausch vernünftiger Argumente autonom urteilender Bürger, nämlich durch den öffentlichen Gebrauch der Vernunft (daher: Forderung nach Pressefreiheit).
Liberale Denker des 18. und 19. Jhs. forderten keine soziale Gleichheit, sondern die Gleichberechtigung vernunftbegabter Bürger. Allerdings knüpften sie anfangs das Recht auf politische Mitwirkung an Geschlecht, Privateigentum und Bildung. Dadurch waren Frauen, Lohnabhängige und die Unterschichten faktisch von allen politischen Rechten ausgeschlossen: Hauptargument war, dass diese gesellschaftlichen Gruppen nicht über die erforderliche Unabhängigkeit und politische Urteilsfähigkeit verfügen würden, um am politischen Gemeinwesen teilzuhaben; über die richtige Erziehung sollten sie allmählich zu „mündigen“, gleichberechtigten Staatsbürgern werden. Entscheidend war jedoch die Machtfrage: Die Ablehnung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts hing mit der Furcht der liberalen Bürger zusammen, ihre gerade gewonnene Machtposition durch den politischen Einfluss des Volkes (mit anderen Interessen und Zielen) wieder zu verlieren.
Im Liberalismus wurden die großen materiellen und sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft nicht in Frage gestellt und auch nicht in ihren Zusammenhängen und Ursachen analysiert. Die liberale Weltanschauung enthielt demokratische Prinzipien, zielte aber nicht auf möglichst umfassende politische Teilhabe des gesamten Volkes, sondern vorrangig auf die Begrenzung und Kontrolle staatlicher Herrschaft (Gewaltenteilung, Wahlen), die Sicherung der individuellen Grundrechte und die Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz.
Das liberale Denken ist mit dem Prinzip der politischen Repräsentation verbunden, das heißt der stellvertretenden Wahrnehmung politischer Interessen durch gewählte Repräsentanten (Basis für die moderne repräsentative Demokratie). Ein wichtiger Grund war, dass die Bürger des 19. Jahrhunderts vor allem an wirtschaftlicher Entfaltung und privater Freiheit interessiert waren; für ihre politischen Interessen sollten sich fähige Vertreter an ihrer Stelle einsetzen.
ALEXIS DE TOCQUEVILLE (1805–1859) kritisierte eine bürgerliche Lebensweise des Individualismus, die ökonomisches Gewinnstreben mit einem Rückzug ins Private verbindet, ohne sich um die Belange der Allgemeinheit zu kümmern. Notwendig sei Bürgersinn als aktive Beteiligung der Bürger in öffentlichen Angelegenheiten aus gemeinsamer Verantwortung (res publica). Freiheit entstehe erst im handelnden Miteinander der Menschen, weshalb private und ökonomische Freiheit durch politische Freiheit und Mitwirkung ergänzt werden müsse.
In Theorien des Wirtschaftsliberalismus fand der klassische Liberalismus besonderen Ausdruck; hier entstanden ökonomische Gegenmodelle zum Merkantilismus – einem Wirtschaftssystem, in dem der Staat mit der Erhebung von Zöllen und Steuern massiv in das Wirtschaftsleben eingreift.
Dagegen stellen wirtschaftsliberale Konzepte die freie Marktwirtschaft und ihre Gesetze ins Zentrum: Die Prinzipien von Angebot und Nachfrage, Konkurrenz und Preisbildung sollten das gesamte gesellschaftliche Leben steuern. Basis der ökonomischen Beziehungen sind das Privateigentum (privater Besitz an Kapital und Produktionsmitteln) und der freie Wettbewerb. Direkte staatliche Eingriffe in den Markt (z. B. durch Zölle, Subventionen) wurden abgelehnt. Grundidee war, dass optimales Wirtschaftswachstum und steigender Wohlstand nur dann entsteht, wenn der Einzelne sich maximal um Erfolg bemüht und sein (ökonomisches) Eigeninteresse ungehindert verfolgen kann.
Dahinter stand die Vorstellung eines sich selbst regulierenden Marktes, wie von ADAM SMITH (1723–1790) formuliert: Wenn sich der freie Marktwettbewerb ohne staatliche Einschränkungen in einem rechtlichen Ordnungsrahmen ungehindert entfalten kann, stellt sich gesellschaftlicher Fortschritt und Gemeinwohl – wie von einer „unsichtbaren Hand“ geleitet – automatisch ein (individueller Eigennutz bringt Wohlfahrt für alle).
„Nicht von der Wohltätigkeit des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unser Nachtmahl, sondern von deren Bedacht auf ihre eigenen Interessen. Wir wenden uns nicht an ihre Mitmenschlichkeit, sondern an ihre Eigenliebe.“ (ADAM SMITH)
Allerdings kann sich diese natürliche Marktharmonie nach SMITH nur einstellen, wenn die Gesetze des Marktes mit einer Moral der gegenseitigen Anerkennung und Wertschätzung der Bürger verbunden werden.
Auch DAVID RICARDO (1772–1823) wandte sich vehement gegen sozialpolitische Eingriffe des Staates: Die Lohnhöhe der Arbeiter sollte nicht staatlich geregelt, sondern dem freien Wettbewerb des Marktes überlassen bleiben. RICARDO entwickelte auch ein theoretisches Konzept für den Freihandel als vollkommene Handelsfreiheit in internationalen Wirtschaftsbeziehungen ohne staatliche Regulierung und Kontrolle.
Eine extreme Ausformung des Wirtschaftsliberalismus ist der so genannte Manchester-Liberalismus im England des frühen 19. Jahrhunderts um den Unternehmer RICHARD COBDEN (1804–1865):
Hier wurde ungehemmter Freihandel und schrankenlose Wirtschaftsfreiheit („Laissezfaire“-Kapitalismus) gefordert. Der Staat sollte als ‚Nachtwächterstaat' nur das Eigentum des Einzelnen schützen und den freien Wettbewerb im Innern des Landes und zwischen den Staaten ermöglichen. Staatliche Eingriffe in wirtschaftliche Prozesse wurden grundsätzlich abgelehnt, allgemeiner Wohlstand und demokratische Politik waren keine Ziele mehr.
Angesichts der strukturellen Folgen einer frei entfalteten, kapitalistischen Marktwirtschaft (Verarmung des Proletariats, fehlende Chancengleichheit) entstand bereits im 19. Jahrhundert ein sozialer Liberalismus: Der Staat sollte zugunsten der sozial Schwachen und Benachteiligten eingreifen, um gesellschaftliche Ungleichheiten abzumildern (Tendenz zum Wohlfahrtstaat).
Ein wichtiger Vordenker dieser Richtung war JOHN STUART MILL (1806–1873). Für ihn war das Gesamtglück einer Gesellschaft abhängig vom richtigen Zusammenspiel von individueller Freiheit und sozialer Gleichheit:
„Wir betrachten als das größte soziale Problem, das es zu lösen gelte, die Frage, wie man die größtmögliche individuelle Freiheit mit dem gemeinsamen Besitz der Ressourcen dieses Globus und der gleichen Teilhabe an den Früchten der Arbeitsteilung vereinigen könnte.“ (JOHN STUART MILL, 1859)
MILL verband liberale, demokratische und soziale Ideen zum Konzept einer modernen repräsentativen Demokratie, in der alle Bürger des Gemeinwesens (auch die Frauen) politische Teilhaberechte haben sollten. Auch er lehnte eine Bevormundung des Staates in wirtschaftlichen Fragen ab, befürwortete aber eine staatliche Regulierungspolitik zur gerechteren Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.
FRIEDRICH NAUMANN (1860–1919) schloss an die sozialliberale Richtung an und verband liberale, sozialdemokratische und nationale Ideen mit einer protestantischen Ethik. Durch die sozialen Auswirkungen der modernen Industriegesellschaft („soziale Frage“) schien es ihm unerlässlich, dass die Freiheiten und Rechte des Bürgers mit sozialer Verantwortung und Gerechtigkeit für das Volk kombiniert werden. Der Staat sollte durch wohlfahrtsstaatliche Daseinsvorsorge aktiv in die Verteilung materieller Lebenschancen eingreifen (z. B. umfangreiches Sozialversicherungssystem mit Arbeitslosigkeits- und Krankenversicherung). NAUMANN vertrat im deutschen Liberalismus als erster eine moderne Sozialpolitik.
Das 19. Jahrhundert gilt als Zeitalter des klassischen Liberalismus, da er diese Zeit prägte wie keine andere Denkströmung. Um 1870 hatte die liberale Strömung den Höhepunkt ihrer Bedeutung erreicht. Die neu entstehenden Massenbewegungen (Arbeiterbewegung, Sozialdemokratie, Gewerkschaften) verdrängten den Liberalismus Ende des 19. Jahrhunderts als breite soziale Bewegung.
Im 20. Jahrhundert wurde der klassische Liberalismus kritisch weiterentwickelt (erneuerter politischer Liberalismus). Im Zentrum stand nach wie vor die Idee, dass jedes Individuum im gesellschaftlichen Zusammenleben möglichst große persönliche, politische und wirtschaftliche Freiheit und Entfaltungsmöglichkeiten haben soll.
Vor dem Erfahrungshintergrund der totalitären Diktaturen in der Sowjetunion und im nationalsozialistischen Deutschland und der damit verbundenen Unterdrückung der Freiheit gewann der politische Liberalismus neue Bedeutung, der die Freiheit des Menschen als wichtigstes Ziel betonte.
KARL R. POPPER (1902–1994) entwarf seine liberale Gesellschaftstheorie als Ideal eines pluralistischen, freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates: Die „offene Gesellschaft“ beruht auf der Vielfalt individueller Interessen; gesellschaftliche Weiterentwicklung findet schrittweise über öffentliche Kritik und Reformen statt. Im gesellschaftlichen Zusammenleben braucht der einzelne zur Wahrung seiner Rechte den Schutz des Staates.
„Der Staat ist ein notwendiges Übel. Seine Machtbefugnisse sollten nicht über das notwendige Maß vermehrt werden. (...) Denn der Grundsatz des Liberalismus verlangt, dass jene Einschränkungen der individuellen Freiheit, die durch das Zusammenleben unvermeidlich werden, nach Möglichkeit gleich verteilt werden (Kant) und nach Möglichkeit reduziert werden.“ (KARL R. POPPER, 1956)
Auch für den Soziologen RALF DAHRENDORF (1929-2009) ist die Freiheit oberster Wert der Politik und Leitidee des gesellschaftlichen Fortschritts. In der Tradition des sozialen Liberalismus sah er den Staat aber in der Pflicht, für alle Bürger gleiche Ausgangsbedingungen in der Gesellschaft zu schaffen, damit sie ihre Rechte gleichermaßen wahrnehmen können (Chancengleichheit).
„Freiheit darf kein Privileg werden, und das heißt, dass es ein Gebot der Politik der Freiheit ist, mehr Menschen, prinzipiell allen Menschen die Anrechte und das Angebot zu verschaffen, die wir selbst schon genießen.“
(RALF DAHRENDORF, 2003)
Nach DAHRENDORF braucht ein stabiles, freiheitliches Gemeinwesen drei Säulen:
Bürgergesellschaft bedeutet, dass die Freiheitsrechte von den Bürgern selbst wahrgenommen werden müssen im Sinne eines aktiven Engagements für ihren Staat (Bürgersinn) und durch die Bildung von gesellschaftlichen Assoziationen mit anderen Bürgern. DAHRENDORF betonte auch den Wert von politischen Bürgertugenden wie Eigeninitiative und Zivilcourage.
Auch JOHN RAWLS (1921–2002) gehörte zu den Erneuerern des politischen Liberalismus. In seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ (1971) entwarf er das Modell eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, indem er die liberale Grundidee individueller Freiheit mit sozialer und politischer Gerechtigkeit kombinierte („Gerechtigkeit als Fairness“): Demnach müssen individuelle Rechte, Freiheiten und Chancen gleich verteilt sein (Sicherung der „Grundgüter“). Materielle Güter und soziale Positionen können ungleich verteilt sein (z. B. aufgrund unterschiedlicher Leistungsmöglichkeiten), wenn alle Bürger die gleichen Chancen haben, sie zu erlangen und durch die Ungleichverteilung Vorteile für alle entstehen. RAWLS ging auch der Frage nach, wie angesichts der großen Vielfalt verschiedener Meinungen und Interessen in pluralistischen Gesellschaften eine Einigung der Bürger über gemeinsame (moralische) Werte erreicht werden kann: Anknüpfend an die Ideen der Aufklärung sollen die Staatsbürger „von ihrer Vernunft öffentlich Gebrauch machen“ (KANT), indem sie in Debatten vernünftige Argumente austauschen, um eine Einigung in Fragen des öffentlichen Wohls zu erzielen.
Wirtschaftlicher Neoliberalismus im 20. Jahrhundert entstand als Reaktion auf die historischen Erfahrungen und negativen Folgen der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung in modernen Industriegesellschaften des 19. Jahrhunderts (Wirtschaftskrisen, Kapitalkonzentration, „soziale Frage“).
Der marktsteuernde Wirtschaftsliberalismus baut auf der Annahme auf, dass die krisenhaften Erscheinungen der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung und die daraus entstehenden Ungleichheiten eine logische Folge des nur sich selbst überlassenen freien Marktes sind. Der Staat soll deshalb eine aktive Gestaltungsaufgabe übernehmen (Herstellung von gleichen Wettbewerbsbedingungen und Chancengleichheit, Verhinderung von Monopolen).
ALEXANDER RÜSTOW (1885–1963) entwickelte das Grundkonzept dieser Denkrichtung, das zur Basis für die deutsche Variante des Ordoliberalismus wurde, den WALTER EUCKEN (1891–1950) und ALFRED MÜLLER-ARMACK (1901–1978) begründeten:
Demnach wird die Freiheit des Einzelnen nicht nur durch staatliche Willkür, sondern auch durch wirtschaftliche Ungleichheit bedroht. Eine liberale Wirtschaftspolitik (Markt-Kapitalismus) wurde deshalb mit starker staatlicher Gestaltung kombiniert: Der Staat hat durch straffe Ordnungspolitik das Funktionieren einer freiheitlichen Wirtschaft (Wettbewerb/Konkurrenz) sicherzustellen und Marktmonopole zu verhindern; zudem soll er wirtschaftliche Konjunkturschwankungen ausgleichen und soziale Sicherheit gewährleisten (Sozialstaat, „soziale Marktwirtschaft“).
Im Unterschied dazu führt der marktradikale Neoliberalismus die wirtschaftlichen Krisenerscheinungen des Kapitalismus auf (falsche oder zu viel) staatliche Eingriffe in Marktprozesse und daraus resultierende Marktungleichheiten zurück. Propagiert wird das Vertrauen in die Selbststeuerungskräfte des Marktes im freien Wettbewerb („Laissezfaire“-Liberalismus). Der Staat soll lediglich die allgemeinen Rahmenbedingungen für den freien Markt und individuelle Rechtssicherheit gewährleisten (keine sozialstaatliche Politik).
Ein Vordenker dieser radikal-liberalen Richtung war FRIEDRICH AUGUST VON HAYEK (1899–1992), der sich offen zu einer antisozialen Weltanschauung bekannte: Er könne gar nicht sozial denken, da er gar nicht wisse, was das sei. HAYEK bekämpfte in seinen Schriften den Wohlfahrtsstaat und die Gewerkschaften.
Die einflussreichste Theorie des markt-radikalen Neoliberalismus wurde von MILTON FRIEDMAN (1912–2006) und seiner ihm folgenden „Chicagoer Schule“ entwickelt. Staatliche Gestaltung wird prinzipiell als Gefahr für die Freiheit betrachtet deshalb wird radikale Entstaatlichung, Privatisierung und Deregulierung gefordert: Der Staat soll sich aus der aktiven Gestaltung wirtschaftlicher Prozesse völlig zurückziehen, damit sich die Kräfte des Marktes und der Privatinitiative ungehindert entfalten können. Auch das Sozialversicherungssystem sowie das staatliche Gesundheits- und Bildungswesen soll der marktwirtschaftlichen Selbststeuerung überlassen werden. Lediglich die im Umlauf befindliche Geldmenge muss staatlich gesteuert werden (Monetarismus). Mit dem Konzept von der Akzeptanz einer „natürlichen Arbeitslosigkeit“ stieß FRIEDMAN auf massive Kritik.
In der öffentlichen Debatte wird der Begriff Neoliberalismus zumeist in der markt-radikalen Bedeutung verwendet, häufig in kritischer Absicht, um darauf hinzuweisen, dass das ungehinderte, „freie Spiel der Kräfte“ des Marktes zu Lasten der gesellschaftlich und wirtschaftlich Schwächeren geht.
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