Seit den frühen 30er-Jahren wirkten an dem "Institut für Sozialforschung" Vertreter unterschiedlicher Forschungsgebiete wie
zusammen. Daraus entwickelte sich – erst in Frankfurt, dann während der NS-Zeit im amerikanischen Exil – ein fachübergreifender Forschungsansatz für eine umfassende Gesellschaftskritik. Seine Bezeichnung als „Kritische Theorie“ geht auf einen programmatischen Aufsatz zurück, den HORKHEIMER 1937 in der dem Institut angeschlossenen „Zeitschrift für Sozialforschung“ (ZfS) veröffentlichte:
So lautet der Titel des erwähnten Aufsatzes, in dem HORKHEIMER die Grundzüge seines Verständnisses wissenschaftlicher Tätigkeit gegen die klassische Theorie-Auffassung seit DESCARTES absetzt. HORKHEIMER kritisiert an der traditionellen Theorie im Wesentlichen:
Daraus ergibt sich nun das Profil, dass für HORKHEIMER die „Kritische Theorie“ charakterisiert:
Deshalb stellt die „Kritische Theorie“ kein starres, abstraktes Theoriegebäude dar, sondern orientiert sich am gesellschaftlichen Wandel, um die darin aufscheinenden Möglichkeiten zur Verwirklichung einer freien Gesellschaft mündiger Individuen zu untersuchen. Mit ihrer Kritik der bestehenden Gesellschaft und der in ihr vorherrschenden Denk- und Handlungsmuster will sie das Bewusstsein dafür schärfen, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern lassen, und auf Tendenzen und Entwicklungen hinweisen, die innerhalb der bestehenden Ordnung solche Veränderungen anzeigen. Allerdings verzichtet die „Kritische Theorie“ auf das Ausmalen einer konkreten Utopie, da sie hierin eine positive Bestimmung des prinzipiell Unbestimmbaren sieht. Den real existierenden Sozialismus attackiert sie als totalitären Vulgärmarxismus. Doch richtet sich ihre Kritik an der traditionellen Theorie vor allem gegen das positivistische Wissenschaftsverständnis, seine vorgebliche Neutralität und Tatsachengläubigkeit. Der Konflikt spitzte sich 1961 auf einer Tagung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ zu und löste den so genannten Positivismusstreit in der deutschen Soziologie aus.
Die wichtigsten in der „Kritischen Theorie“ zusammenfließenden Denkrichtungen entstammen KARL MARX' Kritik der politischen Ökonomie und der Psychoanalyse von SIGMUND FREUD, weshalb sie als auch Freudo-Marxismus bezeichnet wird. Widmete sich das bereits 1923 gegründete „Institut für Sozialforschung“ zunächst einer orthodox marxistischen Gesellschaftsanalyse, so verschob sich unter MAX HORKHEIMER der Forschungsschwerpunkt. Die marxistische Kritik an der kapitalistischen Industriegesellschaft, den darin erkannten Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnissen, sollte mit den Methoden der empirischen Sozialforschung konkretisiert werden. Im Sommer 1932 erschien unter Federführung von LEO LÖWENTHAL erstmals das neue Institutsorgan – die „Zeitschrift für Sozialforschung“. Zu dieser Zeit suchte HORKHEIMER bereits nach einem Exil im Ausland, von wo aus der Institutsbetrieb fortgesetzt werden konnte. HORKHEIMER übersiedelte zunächst nach Genf; ein Jahr darauf (1934) ging er nach New York, wo er das „Institut für Sozialforschung“ an der Columbia University neu aufbaute. Mehrere sozialwissenschaftliche Studien zum Themenkomplex Autorität (in der Familie, bei Studentinnen) wurden in Angriff genommen. Zwischen 1940 und 1942 brachte das Institut als Fortsetzung der ZfS die „Studies in Philosophy and Social Sciences“ heraus. HORKHEIMER, der 1940 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt, zog im selben Jahr nach Kalifornien. Zusammen mit ADORNO arbeitete er dort zwischen 1942 und 1944 an dem Buch „Dialektik der Aufklärung“.
Als diese bedeutende Schrift entstand, waren die Gräueltaten der Nationalsozialisten bereits weitgehend bekannt. Angesichts dessen versuchten HORKHEIMER und ADORNO zu erklären, warum das aufgeklärte Denken, das den Menschen durch ihre eigene Vernunft die Befreiung von Naturgewalten und Aberglauben versprach, in grausame Barbarei umschlagen konnte. Diesen dialektischen Umschlag der Aufklärung in neue Unterwerfung und Abhängigkeit führen sie auf die Vorherrschaft eines Vernunftideals zurück, von dessen Ziel vollständiger technischer Naturbeherrschung auch die menschliche Natur (Bedürfnisse, Leidenschaften) überwältigt werde.
„Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen. Nichts anderes gilt. Rücksichtslos gegen sich selbst hat die Aufklärung noch den letzten Rest ihres eigenen Selbstbewusstseins ausgebrannt. Nur solches Denken ist hart genug, die Mythen zu zerbrechen, das sich selbst Gewalt antut“ (ebd., 10).
Besonders eindrucksvoll schildern sie diese Entwicklung dort, wo sie sich ihrer Ansicht nach bereits anbahnt – in der mythischen Welt von HOMERS Odyssee. Auf seiner Irrfahrt entpuppt sich Odysseus als Vorläufer der bürgerlichen Individualität. Denn laut ADORNO und HORKHEIMER zeichnet er sich durch die Verhaltensweisen (Selbstbehauptung durch Selbstverleugnung, Tausch, List, Entfremdung) aus, die zur rationalen Naturbeherrschung erforderlich sind. Gegen die ihn bedrohenden mythischen Mächte kann sich Odysseus nur behaupten, indem er Verzicht leistet und seine natürlichen Triebe unterdrückt. Den Sirenen, deren betörender Gesang jeden Seemann ins Verderben führt, widersteht er durch die List, sich an den Mast des Schiffes fesseln zu lassen und den Ruderern die Ohren mit Wachs zu verstopfen. Handlungsunfähig, passiv konsumiert er den Gesang als folgenlosen Kunstgenuss, während er ihn seinen Arbeitern vorenthält, damit diese das Schiff – taub für die Verlockungen – an der Insel vorbeisteuern. Diese Szene ist gleich in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich für den kulturkritischen Ansatz von HORKHEIMER und ADORNO.
Ein weiterer wichtiger Aspekt der „Kritischen Theorie“, den sie ebenfalls unter Verweis auf HOMERS Epos entwickeln, betrifft das Tauschprinzip. Hergeleitet aus dem Opfer, bietet es eine erste Möglichkeit, die noch als mythische Gottheiten versinnbildlichten Naturgewalten zu beherrschen. Durch das Opfer, das anstelle des bedrohten eigenen Lebens dargebracht wird, erscheint die Natur berechenbar. Sobald das Opfer nicht mehr auf ein bestimmtes Exemplar festgelegt ist, sondern jedes beliebige Exemplar einer Gattung infrage kommt, löst sich die mythische Verbindung von Name und Ding zugunsten des abstrakten Tausches vergleichbarer Güter auf. Der Tausch macht unvergleichlich Einzelnes vergleichbar (kommensurabel), ebenso wie der Allgemeinbegriff, der – im Unterschied zum Eigennamen – alle konkreten Dinge ähnlicher Beschaffenheit unter sich subsumiert. Die Logik des Tausches und die formale, mathematisch bestimmte Logik stimmen für ADORNO und HORKHEIMER darin überein, dass sie das Einzelne, Singuläre durch allgemeine Maßstäbe vergleich- und austauschbar machen. Aus Sicht dieser Logik gilt die Vernunft nurmehr als subjektives Instrument (instrumentelle Vernunft) für die möglichst effiziente Ausnutzung aller natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen. Weil die Vernunft, obwohl die einstmals bedrohliche Natur mit technischen Mitteln fast vollständig beherrschbar ist, geradezu zwanghaft am Prinzip der Selbsterhaltung durch Naturbeherrschung festhält, schlägt laut ADORNO und HORKHEIMER das aufgeklärte Denken innerhalb unserer rationalen „verwalteten Welt“ in quasi mythische Irrationalität um.
In seiner „Negativen Dialektik“ fasst ADORNO 1966 die philosophische Ausrichtung dieses Denkens nochmals grundsätzlich zusammen. Das dialektische Verhältnis des begrifflichen Denkens zu den Dingen ist aufgrund seiner historischen und gesellschaftlichen Vermittlung niemals absolut (vorher)bestimmbar. Da weder die Dinge in den Begriffen vollständig aufgehen, noch die Begriffe unabhängig von der materiellen, geschichtlich angesammelten Erfahrung gelten, entzieht sich stets ein Rest von Nicht-Identität der begrifflich-instrumentellen Beherrschung. Dieses Nicht-Identische widerstreitet der Totalisierung der Vernunft, die HEGEL als Prinzip und Endpunkt der Geschichte unterstellt hat. Statt die geschichtliche Entwicklung als Verwirklichung der Vernunft aufzufassen, zielt die negative Dialektik auf die Vermittlung des Denkens mit dem, was sich gerade nicht durch allgemeine Begriffe identifizieren lässt. Ebendeshalb ist sie negativ, entwirft keine vernünftige, alles umfassende Ordnung, sondern spürt – vor allem in der Kunst – den Erfahrungen nach, in denen Natur und Praxis vom Identitätszwang der Erkenntnis abweichen.
„Die Utopie der Erkenntnis wäre, das Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“ (21).
Ein dritter, wichtiger Denker aus dem Kreis der „Frankfurter Schule“ war HERBERT MARCUSE. Seine Schriften
beeinflussten maßgeblich den Protest der Studentenbewegung gegen Konsumgesellschaft und Konformismus. Im „eindimensionalen Menschen“ (1964) zeichnet MARCUSE ein höchst kritisches Bild der westlichen Industriegesellschaften, deren auf Kosten unterentwickelter Länder erworbener materieller Wohlstand zum alternativlosen Ideal der Gesellschaft erhoben werde. Das durch Werbung, Freizeit- und Kulturindustrie geprägte Bewusstsein spiegelt in seinen (falschen) Bedürfnissen die Interessen der kapitalistischen Wirtschaftsordnung wider, die den gesellschaftlichen Beitrag der Menschen auf Arbeit und Konsum reduziert. Dadurch verschleifen sich die konfliktträchtigen Unterschiede zwischen den gesellschaftlichen Klassen. MARCUSE kritisiert, was in der Soziologie als „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ bezeichnet wurde: Die Einebnung der sozialen Differenzen durch vermehrten Wohlstand und Wirtschaftswachstum. Zugleich attackiert er das liberale Ideal der Toleranz als repressiv, weil es die Konformität und Anpassung an die herrschende Mehrheitsmeinung begünstige.
„Die Unterbindung sozialen Wandels ist vielleicht die hervorstechendste Leistung der fortgeschrittenen Industriegesellschaft; die allgemeine Hinnahme des ‚nationalen Anliegens‘, das Zwei-Parteien-System, der Niedergang des Pluralismus, das betrügerische Einverständnis von Kapitalismus und organisierter Arbeiterschaft in einem starken Staat bezeugen die Integration der Gegensätze, die das Ergebnis wie die Vorbedingung dieser Leistung ist“ (14).
Einen Ausweg aus dieser umfassenden (totalitären) Angleichung sieht MARCUSE in den Randgruppen, die Bedürfnisse und Ansprüche zum Ausdruck bringen, die sich innerhalb der bestehenden Gesellschaft nicht verwirklichen lassen.
Der prominenteste Schüler und Nachfolger der „Frankfurter Schule“ ist der Sozialphilosoph JÜRGEN HABERMAS. Er übernimmt zwar die Kritik am instrumentell verkürzten, auf die Naturbeherrschung ausgerichteten Vernunftbegriff. Doch er stellt diesem Vernunftbegriff einen anderen, grundlegenderen Typus von Rationalität gegenüber, der im sprachlichen Austausch zum Ausdruck kommt. Für HABERMAS ist die Sprache kein bloßes Werkzeug zur Durchsetzung eigener Interessen, sondern primär verständigungsorientiert. Jeder Sprecher vertritt mit seinen Äußerungen Geltungsansprüche, die im kommunikativen Handeln von den Gesprächspartnern anerkannt werden sollen. Auf der Grundlage dieser intersubjektiven Anerkennung können sich die einzelnen Akteure über strittige Fragen verständigen und einen vernünftigen gesellschaftlichen Konsens erzielen.
Ohne zu übertreiben, lässt sich sagen, dass die „Frankfurter Schule“ einen entscheidenden Beitrag zur Kritik moderner Massengesellschaften geleistet hat. Indem sie die marxistische Analyse des Kapitalismus aufgegriffen und mit den psychoanalytischen Einsichten FREUDS kombiniert hat, entwarf sie eine Sozialphilosophie, die das Ideal einer freien Gesellschaft emanzipierter Individuen zum kritischen Maßstab erhob. Auf diese Weise blieb sie der Aufklärung verpflichtet, deren befreiendes Potential durch die Vorherrschaft eines instrumentell (oder: zweckrational) verkürzten Vernunftbegriffs noch nicht eingelöst worden sei.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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