- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 2 Demokratie in Deutschland
- 2.2 Staatsaufbau
- 2.2.2 Bund und Länder
- Föderalismusreform
Der deutsche Föderalismus ist durch die Tendenz gekennzeichnet, einheitliche Regelungen (Unitarisierung) mit dem entsprechenden inneren Zwang zum Konsens zu beschließen. Kennzeichnend ist zweitens die starke Verflechtung der Politik über die Ebenen der Kommunen, der Länder und des Bundes. Die Nachteile dieses stabilen föderalen Systems werden in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krisen als politischer Immobilismus erkennbar. Strittig ist, ob der Immobilismus bereits mit der Wirtschaftskrise der 1970er-Jahre beginnt, jedenfalls befindet sich das föderale System der Gegenwart in „bedrohlicher Schieflage“ (Bundestagspräsident WOLFGANG THIERSE).
Ansätze zur Reform des bundesdeutschen Föderalismus zielen darauf ab, die Zuständigkeiten von Bund und Ländern deutlicher voneinander zu trennen. In immer mehr Politikbereichen ist eine klare Aufgabenteilung zwischen Bund und Ländern heute nicht mehr gegeben. Vielmehr sind in den meisten Bereichen der Gesetzgebung Bund und Länder gemeinsam zuständig. Diese Zusammenarbeit wird auch kooperativer Föderalismus genannt.
Der kooperative Föderalismus führt immer häufiger dazu, dass sich Bund und Länder gegenseitig blockieren. So können die Landesregierungen und Landesparlamente in ihrem jeweiligen Bundesland kaum noch etwas ohne den Einfluss des Bundes gestalten. Grund hierfür ist die so genannte konkurrierende Gesetzgebung, die in Artikel 72 des Grundgesetzes festgelegt ist. Danach kann der Bund unter bestimmten Bedingungen Gesetzgebungsbefugnisse an sich ziehen. Abgesehen von der Schul- und Hochschulpolitik oder dem Polizeibereich ist der Bund mittlerweile in nahezu allen Bereichen zuständig. Vor allem die Finanzreform von 1969 hat zu dieser Entwicklung beigetragen. Im Rahmen dieser Verfassungsänderung wurden wichtige Kompetenzen von Länderseite auf den Bund übertragen. Andererseits aber wurden die Mitwirkungsmöglichkeiten der Länder an der Bundesgesetzgebung erhöht. Etwa 60 % aller Bundesgesetze bedürfen daher mittlerweile der Zustimmung durch den Bundesrat (Bild 1).
Begünstigt wurde die Politikverflechtung auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Danach müssen die Länder einem Bundesgesetz schon dann zustimmen, wenn auch nur eine einzige Vorschrift dieses Gesetzes zustimmungspflichtig ist. Dem Verlust an Gestaltungsmöglichkeiten in den Bundesländern steht also ein Zugewinn an Einfluss auf die Bundesgesetzgebung gegenüber.
Diese Verschränkung der Kompetenzen zwischen Bund und Ländern hat zur Bildung zahlreicher Bund-/Ländergremien geführt, die die Politiken zwischen Zentralstaat und den Gliedstaaten abstimmen. Darüber hinaus sind auch die Bundesländer untereinander in einer Vielzahl von Gremien organisiert. Ein markantes Beispiel hierfür ist die Kultusministerkonferenz der Länder, in der häufig entscheidende Beschlüsse zur Bildungspolitik der Länder gefasst werden. Die enge Verzahnung zwischen Bund und Ländern sowie der Bundesländer untereinander wird auch mit dem Begriff der Politikverflechtung umschrieben.
Auch das im Grundgesetz verankerte Ziel, in allen Regionen der Bundesrepublik gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen, hat zur Politikverflechtung beigetragen. Grund hierfür sind die erheblichen Unterschiede zwischen den Bundesländern hinsichtlich ihrer Finanz- und Wirtschaftskraft. Das Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse erfordert dabei immer mehr Bundeskompetenzen. Vor allem kleinere Bundesländer, die aus eigener Kraft wirtschaftlich kaum überlebensfähig sind, werden durch den Bund finanziell unterstützt. Zugleich erhalten sie über den so genannten Länderfinanzausgleich auch finanzielle Hilfen der finanzstarken Länder.
Die zunehmende Verflechtung von Bund und Ländern führt zu einer Reihe von erheblichen Problemen, die die Handlungsfähigkeit des Staates und die demokratische Legitimation von politischen Entscheidungen berühren.
Zum einen hat der große Einfluss, den der Bundesrat bei der Bundesgesetzgebung mittlerweile besitzt, in der Geschichte der Bundesrepublik in zahlreichen Fällen zu einer Parteipolitisierung des Bundesrates geführt. Häufig sind die Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat unterschiedlich: Die Parteien, die die Bundesregierung stellen, sehen sich im Bundesrat einer parteipolitisch gegensätzlichen Mehrheit von Landesregierungen gegenüber. Die Mehrheit im Bundesrat kann Gesetzesinitiativen der Bundesregierung ablehnen. Im Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat wird dann über Kompromisslösungen verhandelt. Das führt in vielen Fällen zu einer Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners, denn über strittige Punkte wird oft so lange verhandelt, bis alle Seiten zustimmen können. Das Verhandlungsergebnis ist dann häufig so verwässert, dass es nicht mehr zur Lösung der anstehenden Probleme beitragen kann. Der Zwang zum Konsens verhindert so oftmals effektive Lösungen. Damit ist die Handlungsfähigkeit des Staates beeinträchtigt.
Problematisch am System des kooperativen Föderalismus ist darüber hinaus, dass die Bürger nicht mehr nachvollziehen können, wer für eine politische Entscheidung verantwortlich ist. Die gemeinsame Zuständigkeit von Bund und Ländern für weite Bereiche der Politik hat zur Bildung einer großen Zahl von regelmäßig stattfindenden Konferenzen auf Minister- und Expertenebene geführt. So existieren zur Zeit etwa 300 verschiedene Gremien, in denen die Regierungen von Bund und Ländern ihre Politiken koordinieren. Daneben arbeiten auch die Länder untereinander in insgesamt 900 Gremien zusammen, die nicht öffentlich tagen. Entscheidungen werden also verstärkt in Gremien getroffen, die sich dem kritischen Blick der Öffentlichkeit entziehen. Das macht den politischen Prozess für den Bürger immer undurchschaubarer. Wenn politische Entscheidungen nicht mehr einer Partei oder maßgeblichen politischen Akteuren zugeordnet werden können, beeinträchtigt das auch die Wahlentscheidung des Bürgers.
Daneben hat das Aushandeln von politischen Kompromissen in den zahlreichen Gremien des kooperativen Föderalismus auch einen zunehmenden Bedeutungsverlust der Landesparlamente zur Folge. Haben die Bund-/Ländergremien oder die Ministerkonferenzen der Länder erst einmal einen Kompromiss erzielt, stehen die Landesparlamente häufig nur noch vor der Wahl, dem Kompromiss zuzustimmen oder ihn abzulehnen. In der Praxis bleibt den Landtagen häufig nur noch die Möglichkeit der Zustimmung. Einfluss auf einzelne Aspekte des ausgehandelten Kompromisses haben sie nicht mehr. Politische Entscheidungen werden also immer häufiger nicht von den gewählten Abgeordneten getroffen, sondern von demokratisch nicht legitimierten Gremien des kooperativen Föderalismus. Hinzu kommt, dass es die Landesregierungen sind, die über den Bundesrat die Gesetzgebung mitgestalten. Die Mitwirkungsrechte der gewählten Landtags-Abgeordneten hingegen gehen immer weiter zurück. Aufgrund dieser Dominanz der Exekutive spricht man hier auch von einer Entwicklung hin zum Exekutivföderalismus.
Umstritten ist die Kritik, die sich auf den Länderfinanzausgleich bezieht. Der Länderfinanzausgleich, so die Kritiker, verhindere, dass die finanzschwachen Länder alle Anstrengungen unternehmen, um ihre finanzielle Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Dazu seien sie nicht gezwungen, da die reichen Bundesländer regelmäßig mit beträchtlichen Finanzhilfen aushelfen. Die Bundesländer hätten damit keinen Anreiz mehr, durch eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik selbst für höhere Steuereinnahmen und mehr Arbeitsplätze zu sorgen. Erfolgreiche Bundesländer wiederum würden durch den Länderfinanzausgleich bestraft: Mehreinnahmen, die ein Bundesland durch eine erfolgreiche Politik erzielt, würden zumindest teilweise in den Länderfinanzausgleich fließen und kämen so Ländern zugute, die selbst keine größeren Anstrengungen unternehmen müssten.
Dem wird jedoch entgegen gehalten, dass nicht alle Bundesländer die gleichen Voraussetzungen für wirtschaftliches Wachstum haben. So könne ein eher abgelegenes Bundesland nicht für seine ungünstige geographische Lage verantwortlich gemacht werden. Auch der Niedergang von Schlüsselindustrien in bestimmten Regionen (zum Beispiel im Ruhrgebiet oder im Saarland) im Zuge der Globalisierung könne nicht einer Landesregierung zum Vorwurf gemacht werden. Deshalb müsse der Länderfinanzausgleich beibehalten werden.
Aufgrund der dargestellten Probleme des kooperativen Föderalismus zielen Reformansätze darauf ab, die Zuständigkeiten von Bund und Ländern stärker voneinander zu trennen. Das bedeutet zum einen, dass der Bund Kompetenzen in bestimmten Bereichen an die Länder abgibt. Zum anderen soll die Zahl der Fälle verringert werden, bei denen der Bundesrat Einfluss auf die Bundesgesetzgebung hat. Dazu soll Artikel 84 des Grundgesetzes, der regelt, wann der Bundesrat einem Gesetz zustimmen muss, geändert werden.
Notwendig ist darüber hinaus auch eine Finanzreform. Diejenige Ebene, die ein Gesetz beschließt, soll auch für die finanziellen Folgen zuständig sein. Das allerdings setzt eine stärkere finanzielle Unabhängigkeit der Bundesländer voraus.
In der Diskussion ist darüber hinaus die Zusammenlegung von Bundesländern. So sollen wirtschaftlich stärkere Großregionen gebildet werden, die handlungsfähiger sind als die kleineren und strukturschwachen Länder. Bereits die Gemeinsame Verfassungskommission, die nach der Vereinigung Deutschlands 1991 eingesetzt wurde, hatte den Zusammenschluss von Berlin und Brandenburg empfohlen. Ein entsprechender Staatsvertrag scheiterte 1996 in der Volksabstimmung. Generell sind die Chancen auf eine umfassende Neugliederung des Bundes gering, da die kleineren Bundesländer nicht bereit sind, ihre Eigenständigkeit aufzugeben.
Zur Unterstützung der notwendigen Reformen haben Bundestag und Bundesrat 2003 eine Kommission zur „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ gebildet. Je 16 Mitglieder beider Häuser sowie beratende Vertreter der Bundesregierung, Landtage, kommunalen Spitzenverbänden sowie Sachverständige sollen der Legislative Vorschläge zu drei Themen unterbreiten:
Auch die Hauptstadtfunktion Berlins soll behandelt werden. Ausgeklammert wurde das brisante Thema der territorialen Neugliederung der Länder. Die Kommissionsvorschläge sollen die politische Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit des Bundes und der Länder steigern. Dabei sind die Interessensunterschiede von Bund und Ländern, von Regierung und Opposition und zwischen finanzstarken und -schwachen Ländern zu bedenken. Es geht um eine Grundfrage des Föderalismus:
„Wie viel Freiheit und Wettbewerb ist möglich, wie viel Koordination und Einheitlichkeit ist nötig“ (Ministerpräsident KURT BECK).
Nachdem die Modernisierungs-Kommission von 2003 zunächst im Parteienstreit scheiterte, gelang es der Großen Koalition A. MERKEL / F. MÜNTEFERING 2006, sich mit den Bundesländern auf eine „erste Stufe" der Reform zu einigen.
Kernpunkte der Reform:
Mit der damals noch aufgeschobenen Neuregelung der finanziellen Beziehungen zwischen Bund und Ländern befasste sich seit 2007 eine Kommission, deren Vorschläge 2009 zur „zweiten Stufe“ der Reform führen sollten.
Sie wurde 2009 von Deutschem Bundestag und Bundesrat mit der notwendigen Zweidrittelmehrheit beschlossen (Gesetz vom 29. Juli 2009) und trat am 1. August 2009 in Kraft.
Wichtige Ergebnisse dieser Grundgesetzänderung sind u.a.:
Der Bundesrat tagt seit 2000 im ehemaligen Preußischen Herrenhaus in Berlin,nachdem er zuvor rund 40 Jahre in der umgebauten Aula der Bonner Pädagogischen Akademie zusammenkam.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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