- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 4 Gesellschaft im Wandel
- 4.1 Soziologische Grundbegriffe und Leitlinien
- 4.1.2 Gesellschaftsmodelle
- Erlebnisgesellschaft in der Diskussion
1992 veröffentlichte der Soziologe GERHARD SCHULZE (* 1944) erstmals seine Studie „Die Erlebnisgesellschaft, Kultursoziologie der Gegenwart“, mit der er in der soziologischen Fachwelt große Beachtung fand. In ihr wird die westdeutsche Gesellschaft der 1980er-Jahre als „Erlebnisgesellschaft“ beschrieben. Materialbasis der Studie ist die repräsentative Befragung von 1 014 Personen im Gebiet der Stadt Nürnberg. Teil der Befragung waren jeweils ein Interview, ein Testbogen für die Befragten und ein Fragebogen für die Interviewer. Die Studie ist seitdem in mehrfacher Überarbeitung neu aufgelegt worden und deshalb auch für die deutsche Gesellschaft nach der Wiedervereinigung aufschlussreich.
SCHULZE sieht die Erlebnisgesellschaft im Wesentlichen aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt:
Als „Erlebnisorientierung“ definiert SCHULZE die unmittelbarste Form der Suche nach Glück. Erlebnisse haben einen aktiven Charakter, sie werden nicht passiv „empfangen“, sondern müssen aktiv „erworben“ werden, d. h. erst durch das innere Verarbeiten wird ein äußerer Anstoß zum Erlebnis. Erlebnisse sind also Vorgänge selbstständiger seelischer Verarbeitung. Das erklärt, warum z. B. der Besuch eines bestimmten Konzerts für den einen ein Erlebnis darstellt, für den anderen aber nicht.
Der „Erlebnismarkt“ bietet seine „Waren“, d. h. die Erlebnisse, überall dort an, wo sich Käufer oder Konsumenten finden, die bereit sind, den Gebrauchswert einer Sache dem Erlebniswert unterzuordnen. Der Erlebnismarkt macht demnach Angebote, deren Nutzen nicht primär im tatsächlichen Gebrauch einer Sache liegt, sondern in ästhetischen Begriffen zum Ausdruck kommt wie „schön“, „spannend“, „gemütlich“, „stilvoll“, „interessant“ usw. Die Gebrauchsbedeutung macht der Erlebnisbedeutung zunehmend Platz. Sachen wie z. B. Möbel, Haushaltsgeräte, Nahrungsmittel, Bekleidungsartikel und Fahrzeuge werden mehr und mehr wegen ihres Designs gekauft oder weil sie gerade „in“ sind. Diese Entwicklung beschreibt SCHULZE mit den Worten:
„Das Leben schlechthin ist zum Erlebnisprojekt geworden. Zunehmend ist das alltägliche Wählen zwischen Möglichkeiten durch den bloßen Erlebniswert der gewählten Alternative motiviert: Konsumartikel, Eßgewohnheiten, Figuren des politischen Lebens, Berufe, Partner, Wohnsituationen, Kind oder Kinderlosigkeit. Der Begriff des Erlebnisses ist mehr als ein Terminus der Freizeitsoziologie. Er macht die moderne Art zu leben insgesamt zum Thema.“ (S. 13/14. Die Seitenangaben beziehen sich auf die 2. Auflage der Studie, Campus-Verlag, Frankfurt/M, 2005.)
Der Gegenwert auf dem „Erlebnismarkt“ ist aber nicht nur Geld, sondern auch Zeit, d. h. Aufmerksamkeit und Anerkennung. Schwimmbäder werden zu Erlebnisbädern, der Tierpark zum Erlebnispark, aus dem Supermarkt wird das Erlebniseinkaufszentrum, neben den Erholungsurlaub tritt der Erlebnisurlaub. Ausstellungen gelten dann als gelungen, wenn möglichst viele Menschen sie besucht haben. Konzerterfolge werden daran gemessen, wie viele Karten verkauft wurden. Der Erlebnisnachfrager zahlt nicht für das eigentliche Produkt, sondern für das mit ihm verbundene Erlebnis. Aber das Erlebnis ist nur von kurzer Dauer. Die Befriedigung hält nicht lange vor, sodass das Bedürfnis nach Erlebnisangeboten immer schneller wiederkehrt. Die Erlebnisangebote weiten sich deshalb ständig aus.
Die große Zunahme der Wahlmöglichkeiten ist in der deutschen Gesellschaft ein junges Phänomen und geht mit einem starken Wandel der Lebensauffassungen einher. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jh. war für das Gros der Bevölkerung die Frage nach Güterversorgung die zentrale Lebensfrage. Überleben stand im Mittelpunkt aller Bestrebungen, nicht schönes Leben. Ausgehend von der Erfahrung von Knappheit an Nahrung, Wohnraum, Geld, Bildung und Gesundheit galten ihre Anstrengungen der Erlangung von lebensnotwendigen Gütern. Demgegenüber blieb die Frage nach dem Sinn des Lebens ein Luxusproblem für wenige Wohlhabende, deren Existenz gesichert war.
In den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der Wohlstand in Westdeutschland allerdings in einer Weise an, dass dies zu einer grundlegenden Veränderung der Lebensstrategien führte. Für Grundnahrungsmittel und unverzichtbare Ausgaben wie für Wohnung, Energie oder Bekleidung sank der Anteil innerhalb der Gesamtausgaben eines Durchschnittshaushalts zwischen 1950 und der Mitte der 1970er-Jahre um die Hälfte, die Ausgaben für freien Bedarf stiegen entsprechend etwa um das Doppelte. Jetzt, wo Wünsche schnell erfüllbar waren, traten Lebensformen in den Hintergrund, die auf dem Handlungsmuster der aufgeschobenen Befriedigung gründeten. Das waren:
Entsagung und Askese verloren ihre ehemals durch den Mangel bedingte Begründung im Leben. Die Veränderungen bezogen sich dabei nicht nur auf den Konsum, sondern weit darüber hinaus auch auf soziale und berufliche Möglichkeiten, d. h. auf die gesamte Existenz. Gegen Ende der 1950er-Jahre zeichnete sich ab, dass das Hineingeborenwerden in einen bestimmten sozialen oder räumlichen Ort für die weitere Lebensgestaltung zunehmend an Bedeutung verlor. Mobilität, Massenkommunikation und Massenkonsum führten zu neuen sozialen Gruppierungen. Die Menschen empfanden ihre Lebenssituation nicht mehr als vom Schicksal oder von Gott bestimmt, sondern erlebten, dass sie selbst es sind, die ihre Existenz gestalten können:
„Beim alten Muster des Aufbaus von Existenzformen wurde den Menschen die Ordnung des Lebens vorgegeben, beim neuen Muster wird sie ihnen als eigene Leistung abverlangt.“ (S. 359)
Seit den 1950er-Jahren erfuhren die Menschen demnach eine Vermehrung ihrer Möglichkeiten. Das bezieht sich auf ihr Konsumverhalten wie auch auf ihre Wahlmöglichkeiten z. B. hinsichtlich ihrer Lebensform, ihres Berufes, ihrer familiären Situation und der Gestaltung ihrer Freizeit. Aufgrund dieser vermehrten Möglichkeiten fand in den späten 1960er-Jahren ein Umschwung statt, eine Verlagerung von der Außenorientierung hin zur Innenorientierung:
„Außenorientiertes Handeln bezieht sich in der Regel auf klar definierbare und messbare Zielzustände. … Kauft man eine Brille als Mittel, um besser zu sehen, ein Auto als fahrbaren Untersatz, Mehl als Lebensmittel usw., so handelt man außenorientiert. Der innenorientierte Konsument sucht eine Brille, mit der er sich schön fühlt, ein Auto, das ihn fasziniert, eine Mehlsorte, mit der er etwas erleben kann: Erlebnismehl.“ (S. 426 f.)
Außenorientierter Konsum orientiert sich also an objektiven Eigenschaften von Produkten, an Qualitätskriterien, während innenorientierter Konsum mit Redewendungen wie: „weil es mir Spaß macht“, „weil es mir gefällt“ usw. begründet wird. Voran getragen von der Generation der „Achtundsechziger“ verbreitete sich damit mehr und mehr eine Lebensauffassung, in deren Zentrum der Lebensgenuss steht, während die Mittelbeschaffung zur Nebensache wird. Zwar koexistierten wie eh und je unterschiedliche Lebensauffassungen, doch wird aus dem ehemaligen Luxusproblem der Erlebnisorientierung für wenige immer mehr ein alltägliches Problem für alle. Mit der Ausweitung der Wahlmöglichkeiten, mit der Befreiung von Not stellten sich den Menschen neue Probleme:
„Je mehr man haben, machen, sein kann, desto besser scheint es einem zu gehen. Allerdings gibt es viele Anzeichen dafür, dass mit der Vereinfachung des Weges zu immer mehr potentiellen Zielen die Schwierigkeit, ein sinnvolles Leben zu führen, zunimmt. Die Problemperspektive des Lebens verlagert sich . . ., an die Stelle der technischen Frage ‚Wie erreiche ich X’ tritt die philosophische Frage ‚Was will ich eigentlich?’“ (S. 33)
Die Deutungsversuche der Soziologen erklären die Veränderung der objektiven Lebensverhältnisse seit der Mitte der 1960er-Jahre vor allem unter drei Stichworten:
Die Verbesserung der materiellen Lebensweise, die Ablösung von Traditionen und die Zunahme von Individualisierung haben nicht nur verschiedene Milieus der Erlebnisgesellschaft hervorgebracht, sondern auch neue Muster der Milieubildung entstehen lassen. War den Menschen das Muster ihres Lebens und damit ihres Lebensmilieus bislang weitgehend vorgegeben, so können sie nun wählen: Beziehungswahl tritt an die Stelle von Beziehungsvorgabe, d. h. Söhne müssen nicht mehr in die Fußstapfen ihrer Väter treten; Töchter können sich für ein anderes Leben als ihre Mütter entscheiden; Cliquen entstehen, deren Zugehörigkeit man wählt. War früher von gesellschaftlichen „Klassen“ die Rede, so heute von „Milieus“. SCHULZE unterscheidet fünf Milieus mit jeweils charakteristischen Merkmalen:
Niveaumilieu: vorwiegend Ältere (über 40), gebildet, Publikum der Hochkulturszene;
Harmoniemilieu: vorwiegend Ältere (über 40), geringe Bildung;
Integrationsmilieu: vorwiegend Ältere (über 40), mittlere Bildung;
Selbstverwirklichungsmilieu: vorwiegend Jüngere (unter 40), mittlere oder höhere Bildung;
Unterhaltungsmilieu: vorwiegend Jüngere (unter 40), geringe Bildung;
Balkendiagramm zur Verdeutlichung der Mobilitätssteigerung seit den 1950er-Jahren
In den Anfangsjahren der Bundesrepublik wurde die Suche nach Erlebnissen noch als Feierabendvergnügen, als etwas Besonderes empfunden. Entsprechende Wünsche waren leicht zu befriedigen und trugen persönliche Züge: Individualreisen, importierte Möbel, der Besuch von Festspielen, Fotosafaris, Clubmitgliedschaften, Schallplattensammlungen waren weit von Massenhaftigkeit entfernt. Auch die Kunst befand sich in großer Distanz zum Alltag. Staatliche Kulturpolitik hatte im Wesentlichen Denkmalspflege und ästhetische Bildung zum Ziel und vor allem das kulturelle Erbe des Abendlandes zu bewahren. Kulturträger waren in erster Linie die Angehörigen des Niveaumilieus.
Mit der Vermehrung der Möglichkeiten kam es in den 1960er-Jahren zum Kulturkonflikt, in dessen Folge ein neues Milieu entstand, das Selbstverwirklichungsmilieu. Seine Stichworte waren Chancengleichheit, Stilfragen, Ansichtssachen, Lebensphilosophien, Autonomie, Kreativität, kulturelle Eigendynamik, Kommunikation. Hatte die Hochkultur die pädagogische Idee des gebildeten Menschen vertreten, stand nun die pädagogische Idee des autonomen, sich selbst verwirklichenden Menschen im Vordergrund. Die Trennung von Kultur und Alltag sollte aufgehoben werden. Es entstand ein kritisches Bewusstsein gegenüber einer „Kulturindustrie“, die ohne Kommerz und Konsum nicht auskam.
Die staatliche Kulturpolitik geriet in eine doppelte Konfliktstellung gegen die Hochkultur einerseits und den Kommerz andererseits. Die Angehörigen des Selbstverwirklichungsmilieus entwickelten eine Alternativkultur. Einzelne ihrer Elemente wurden im Laufe der Jahre Teil der staatlichen Kulturpolitik. Die Kulturpolitik wuchs immer mehr ins Zentrum der Gesellschaft hinein und suchte ihre Begründungen zunehmend in ökonomischen und strukturpolitischen Zusammenhängen. Heute gehört es zu ihren Aufgaben, der Verödung der Städte entgegenzuwirken, soziale Randgruppen zu integrieren, lokale Milieus aufblühen zu lassen, therapeutisch und pädagogisch aktiv zu sein und zugleich ein Gegengewicht zur Unterhaltungsindustrie zu verkörpern. Kulturpolitik soll nicht kommerzorientiert arbeiten. Allerdings werden ihre Gestaltungsräume denen des Erlebnismarktes immer ähnlicher.
Die staatliche Kulturpolitik muss ihre offizielle Anspruchshaltung deshalb immer mehr aufgeben, um im Kampf um die rare Ressource „Publikum“ nicht abzufallen. Veranstaltungen werden als kulturelle Ereignisse angepriesen, Inhalte treten in den Hintergrund. Starkult, gigantische Produktionen, Schielen auf „das, was läuft“ bestimmen auch immer mehr die Angebote der staatlichen Kulturpolitik. Für das Publikum (den Erlebnisnachfrager) spielt es dagegen keine Rolle, ob die Angebote öffentlich, gemischt öffentlich-privat oder ganz privat produziert sind.
Das Urteil der Fachwelt und mehr noch das der breiten Öffentlichkeit über die Studie SCHULZEs fiel überwiegend positiv aus. Gewürdigt wurde vor allem die Berücksichtigung der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Allerdings wurde auch Kritik laut. Diese findet insbesondere in der Ansicht ihren Ausdruck, die Soziologie habe sich in Zeiten knapper öffentlicher und privater Kassen, gestiegener Arbeitslosigkeit und einer Rückkehr der Not den Problemen des Mangels zu widmen, nicht den Fragen des differenzierten Konsums, der individuellen Lebensgestaltung und Lebensauffassung im sozioökonomischen und soziokulturellen Wandel Westdeutschlands: vor dem Hintergrund realer Armut könne keine Soziologie des schönen Lebens geschrieben werden. SCHULZEs Studie wird damit vor allem mangelnde Aktualität zur Last gelegt.
Die Rechtfertigung SCHULZEs gegenüber diesem Vorwurf ist demgegenüber wie folgt:
„Ob man es zur Kenntnis nehmen will oder nicht, ob man sich über die explizite Feststellung des Sachverhalts entrüstet oder nicht: Es gehört auch zur deutschen Wirklichkeit 2005, dass es noch nie so vielen Menschen so gut gegangen ist. Sie haben aufs Ganze gesehen mehr Zeit, ein höheres Realeinkommen, mehr Wohnraum, höhere Mobilität, mehr Kontaktmöglichkeiten, weniger private Verpflichtungen, geringere staatlich regulierte Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheiten, geringere Umweltbelastungen, schönere Siedlungen und eine höhere Lebenserwartung denn je. Auch in den letzten 15 Jahren, nach dem angeblichen Ende des goldenen Zeitalters, gab es nicht etwa einen Einbruch, ja nicht einmal eine Stagnation auf hohem Niveau. Es gab nur eine Verlangsamung der Steigerung.“ (S. XI)
Fünfzehn Jahre nach der ersten Beschreibung der „Erlebnisgesellschaft“ kommt SCHULZE demnach zu dem Schluss, dass die Chancen jedes Einzelnen, aus seinem Leben etwas persönlich Sinnvolles zu machen, nie besser waren als heute. Allerdings räumt er auch ein, dass die Erlebnisgesellschaft sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt und verfeinert hat. In der öffentlichen Wahrnehmung negativ besetzt worden seien im zurückliegenden Jahrzehnt vor allem triviale Konzepte der Erlebniskultur wie „Fun“, „Spaß“, „Kick“ oder „Event“. Der Faktor „Zeit“ ersetze in der Wertschätzung der Menschen zunehmend den Faktor „Geld“.
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