Bei der Kontroverse zwischen JÜRGEN HABERMAS und NIKLAS LUHMANN handelt es sich um eine höchst theoretische Auseinandersetzung zweier Soziologen auf der Grundlage ihrer jeweiligen Gesellschaftstheorien.
HABERMAS wie LUHMANN beanspruchen, eine Theorie der Gesellschaft insgesamt zu liefern, d. h.
- eine Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse,
- ihrer Organisationsweise und Entwicklungsmöglichkeiten
- und des sie bestimmenden sozialen Handelns.
Erschwert wird eine kurze Darstellung der Kontroverse nicht nur durch das von beiden gewählte Abstraktionsniveau, sondern ebenso aufgrund der vorauszusetzenden Kenntnisse ihrer jeweiligen Positionen. Was an dieser Stelle versucht wird, ist daher nur eine oberflächliche Kommentierung einzelner Kritikpunkte, an denen sich die theoretischen Streitfragen darstellen lassen:
Soziales Handeln in Systemen
Ein Haupteinwand HABERMAS' gegen die Systemtheorie von NIKLAS LUHMANN besagt, dass diese eine bestimmte Art sozialen Handelns – nämlich das funktional-instrumentelle Handeln – bevorzuge. Um diesen Einwand verständlich zu machen, sollen zunächst einige Aspekte der luhmannschen Systemtheorie vorgestellt werden:
Die Systemtheorie – aus der Biologie entwickelt – beurteilt Systeme in Abgrenzung von ihrer Umwelt aus Sicht ihrer Selbsterhaltung. Als System verstanden, grenzt sich ein biologischer Organismus von seiner Umwelt ab und filtert aus ihr nur das heraus, was für seinen Fortbestand und seiner Reproduktion nützlich ist.
- Soziale Systeme leisten dies laut LUHMANN, indem sie Sinngrenzen errichten, die festlegen, was innerhalb des Systems von Bedeutung ist.
- Jedes System funktioniert also deshalb, weil es sich – angesichts der unerschöpflichen Komplexität der Welt – nur auf einen begrenzten Ausschnitt der Welt (seinen „Gegenstandsbereich“ = Umwelt) bezieht und daraus auswählt, was es intern verarbeiten kann.
- Unter der Voraussetzung, dass die Welt als ganze immer viel komplexer ist als jedes System – wobei Komplexität bedeutet, dass alles Mögliche möglich ist –, bilden Systeme somit ihrerseits komplexe Auswahl- und Ordnungsverfahren heraus, um die unüberschaubare Vielfalt der Möglichkeiten einzuschränken.
- Systemisches Handeln wird daher immer als Reduktion (Verringerung) von Weltkomplexität gedacht. Um dies zu erreichen, müssen die Systeme selbst allerdings immer komplexer werden: Mit der paradoxen Folge, dass Komplexitätsreduktion nur durch Komplexitätssteigerung gelingt.
Dieser systembedingte Zuwachs an Komplexität führt LUHMANN dazu, die soziale Evolution (Gesellschaftsentwicklung) als eine zunehmende funktionale Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilbereiche zu beschreiben. Gemeint ist, dass im Gegensatz zu früheren Ordnungen, in modernen Gesellschaften Recht, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst, Politik, Religion usw. auseinander fallen und als Teilsysteme mit jeweils eigenen Verfahrensweisen (selbstreferentiell = selbstbezüglich) unabhängig voneinander funktionieren. Jedes dieser sozialen Systeme erfasst und verarbeitet Informationen entsprechend seiner eigenen Leitdifferenz, z. B.
- das politische System:
- Macht/Nicht-Macht bzw. Regierung/Opposition;
- Wissenschaft:
- wahr/falsch;
- Kunst:
- schön/hässlich usw.
Es ist daher, wie LUHMANN sagt, operativ geschlossen. Zugleich erneuert und verzweigt sich das System im Prozess seiner internen Informationsverarbeitung. Dies nennt LUHMANN Autopoiesis (etwa: Selbsterzeugung).
Gegen dieses von der Systemtheorie entworfene Bild der Gesellschaft erhebt HABERMAS folgende Einwände:
- Gesellschaftliches Handeln reduziert sich aus Sicht der Systeme auf den Abbau einer unkritisch vorausgesetzten Weltkomplexität. Aber nur wenn die Welt als viel zu komplex angesehen wird, um Handlungen zu bestimmen, braucht es Systeme, die durch Abgrenzung und Einschränkungen (Komplexitätsreduktion) Handlungsmöglichkeiten schaffen.
- Der Sinn solcher Handlungen bestimmt sich dann allein innerhalb der im jeweiligen System herrschenden Verfahrensweise, sodass nur solche Handlungen in Betracht kommen, die für den Fortbestand eines Systems von Bedeutung sind.
- Entwicklungs- und Veränderungspotentiale der Gesellschaft werden rein funktionalistisch betrachtet, nämlich gemessen an den Handlungsmöglichkeiten, die ein soziales System bereitstellt.
- Dies führt dazu, Fragen der Legitimierung und moralischen Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen auszuklammern. Wenn sich ihre Geltung lediglich aus den Verfahrensweisen der Systeme herleitet, fehlt die Möglichkeit einer kritischen Hinterfragung der systemischen Verfahrensweisen selbst.
Instrumentelles und kommunikatives Handeln
Aus diesen Gründen steht LUHMANNS Systemtheorie für HABERMAS unter Ideologieverdacht. Sie laufe auf eine unkritische Rechtfertigung des Bestehenden hinaus, in der auch die eigentlich normativen Ansprüche Fragen nach
- dem guten Leben,
- richtigem Handeln,
- der gerechten Gesellschaft usw.
rein funktionalistisch aufgefasst würden. HABERMAS hält dem entgegen, dass ein funktionalistischer oder instrumenteller Handlungsbegriff zu kurz greift. Soziales Handeln ist nicht vorrangig ein Instrument zur Durchsetzung festgelegter Zwecke (etwa: systemische Bestandserhaltung und Reproduktion), sondern zielt auf die gesellschaftliche Anerkennung der mit ihm verbundenen Ansprüche. Der Unterschied zeigt sich insbesondere am Wahrheitsbegriff. Für LUHMANN übernimmt Wahrheit im wissenschaftlichen System die Funktion, methodisch gesicherte Aussagen allgemein akzeptabel zu machen. Wahrheit ist gewissermaßen ein Etikett, das den nach wissenschaftlichen Standards gewonnenen Erkenntnissen angeheftet wird, um ihre Verbindlichkeit zu gewährleisten. JÜRGEN HABERMAS dagegen versteht unter Wahrheit einen Geltungsanspruch, der von den Akteuren im kommunikativen Handeln erhoben wird.
Hierzu stützt sich HABERMAS' kommunikatives Handeln auf die Sprache als Mittel zur Verständigung. Jeder Sprecher vertritt mit seinen Äußerungen (Sprechakten) Geltungsansprüche (auf Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit), die von den Gesprächspartnern anerkannt werden sollen. Auf der Grundlage dieser intersubjektiven Anerkennung können sich die einzelnen Akteure über strittige Fragen verständigen und einen vernünftigen gesellschaftlichen Konsens erzielen.
Laut HABERMAS ist die Welt, so wie wir sie erfahren, nicht unüberschaubar komplex. Vielmehr stiftet sie als unsere Lebenswelt den zumeist selbstverständlichen Kontext des alltäglichen Handelns und Sprechens. Interessant und problematisch wird es für HABERMAS allerdings dann, wenn diese scheinbar selbstverständlichen lebensweltlichen Rahmenbedingungen des Handelns infrage stehen und die erwartbare Zustimmung anderer ausbleibt. Dann ist laut HABERMAS ein praktischer Diskurs erforderlich, in dem potentiell alle Kommunikationsteilnehmer die von ihnen vertretenen Geltungsansprüche begründen müssen.
Der praktische Diskurs und LUHMANNS Kritik
Ein solcher praktischer Diskurs unterscheidet sich für HABERMAS vom alltäglichen kommunikativen Handeln dadurch, dass
- alle Sprecher oder Teilnehmer von den konkreten, persönlichen Handlungssituationen und -absichten Abstand nehmen,
- indem sie ihre Geltungsansprüche (auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) allein im Hinblick auf eine unterstellte universelle Zustimmung aller vernünftig Handelnden begründen,
- sodass – unbehindert von Eigeninteressen, Herrschaftsverhältnissen oder Statusfragen – nur der „zwanglose Zwang“ des besseren Arguments die gesellschaftliche Einigung (Konsens) darüber herbeiführt, was als wahr, richtig und glaubwürdig gelten soll.
- Den im praktischen Diskurs erzielten Konsens begreift HABERMAS als Ausdruck einer ebenso umfassenden wie unabgeschlossenen Rationalität (Vernünftigkeit), die dem verständigungsorientierten Sprechen selbst innewohnt.
LUHMANN kritisiert an diesem Modell kommunikativer Vernunft, dass es auf idealistischen Unterstellungen gründe. Anders als HABERMAS glaubt er nicht, dass sich eine ideale Sprechsituation herrschaftsfreier und von persönlichen Interessen unabhängiger Diskussion durchhalten lässt:
„Die sinnhafte Konstitution [Herausbildung] von Welt im menschlichen Zusammenleben hängt nicht von der Begründung von Geltungsansprüchen des Handelns ab, vielmehr umgekehrt die Begründbarkeit [...] von der intersubjektiven Weltkonstitution.“
Was laut LUHMANN innerhalb der Gesellschaft als allgemein begründbar und daher vernünftig anerkannt wird, ist nicht das Ergebnis freier Diskussion, sondern abhängig von den (in sozialen Systemen verankerten) Regeln und Verfahrensweisen.
Vernunft und System
Versuchen wir zum Abschluss die widerstreitenden Positionen einzuordnen, um die Bedeutung der Kontroverse für unser Verständnis gesellschaftlichen Handelns abzuschätzen:
HABERMAS will den Vernunftbegriff der Aufklärung mit seiner Kommunikationstheorie bereichern und erweitern. Vernunft sei – wie insbesondere die Vertreter der „Frankfurter Schule“ kritisierten – im Zuge der Aufklärung auf die instrumentelle Naturbeherrschung verkürzt worden. Vernünftiges Handeln habe als Fähigkeit des Subjekts gegolten, die objektive Natur nach seinen Zwecken zu bestimmen und zu gestalten. In Form der Arbeit sei dieses instrumentelle Verhältnis auch noch in der marxistischen Theorie erhalten geblieben. Indem HABERMAS gesellschaftliche Tätigkeit von Arbeit auf Kommunikation umstellt (Paradigmenwechsel), beansprucht er, den Spielraum sozialen Handeln für alle Gesellschaftsmitglieder zu vergrößern.
Als soziale Wesen verhalten wir uns nicht allein und vorrangig zweckorientiert, sondern wollen uns mit den anderen darüber verständigen, wie die Gesellschaft und unser Zusammenleben organisiert werden sollen. Dies tun wir in einem praktischen Diskurs, der über das, was als wahr, richtig und wahrhaftig gelten soll, einen für potentiell alle und jeden zustimmungsfähigen, daher vernünftigen Konsens erzielt.
LUHMANNs „soziologische Aufklärung“ lehnt gerade diese Idee einer umfassenden, universellen Vernunft ab. Er verweist darauf, dass angesichts ihrer Komplexität weder die Welt noch die Gesellschaft als ganze zu beurteilen sind. Kommunikation oder soziales Handeln lassen sich vielmehr nur im Rahmen von Systemen bestimmen, deren Verfahrensweisen und Strukturen überhaupt erst konkrete Handlungsmöglichkeiten schaffen. Freiräume sozialen Handelns ergeben sich daher für ihn nicht aus der sprachlichen Verständigung vernünftiger Sprecher (Subjekte) über die von ihnen erhobenen Geltungsansprüche. Sie entstehen aufgrund des Problemdrucks wachsender Komplexität, die von keinem System – und sei es noch so komplex – gemeistert werden kann.
Eine wichtige Konsequenz des Luhmannschen Gesellschaftsentwurfs betrifft das Verhältnis von Einzelnem und Gesellschaft. Verstanden als Vielzahl sozialer Systeme, ist die Gesellschaft nicht mehr der Ort eines solidarischen, gemeinschaftlichen Handelns der Individuen. Was der Einzelne will, denkt, begehrt, erhofft oder glaubt, spielt innerhalb der unterschiedlichen sozialen Systeme eine immer nur auf deren Funktionen bezogene Rolle. Er ist selbst kein Teil sozialer Systeme, sondern gehört zu deren Umwelt. Die Gesellschaft wird so von der Aufgabe entlastet, die Emanzipation ihrer Mitglieder dadurch voranzutreiben, dass sie Bedingungen freier, gleichberechtigter Interaktion schafft. Ebendeshalb wirft HABERMAS der Systemtheorie vor, die sozialkritischen Ansprüche der Gesellschaftstheorie preiszugeben.