- Lexikon
- Politik/Wirtschaft
- 5 Internationale Politik und Friedenssicherung
- 5.1 Grundlagen und Akteure internationaler Politik
- 5.1.3 Deutsche Außen- und Europapolitik
- Deutschland im europäischen Integrationsprozess
Mit Ende des Zweiten Weltkrieges und der sich daran anschließenden Teilung Deutschlands gehörte die Integration der Bundesrepublik Deutschland in das westliche Bündnissystem zur entscheidensten Grundlage der westdeutschen Außenpolitik. Mit der Einbindung in westeuropäische Organisationen verfolgte die BRD unter dem damaligen Bundeskanzler KONRAD ADENAUER nicht nur sicherheitspolitische Interessen, sondern sie verband damit ebenfalls die Hoffnung, langfristig als gleichberechtigter Partner innerhalb der westlichen Allianz anerkannt zu werden und auf diese Weise ihre Souveränität wieder zu erlangen. Die anderen Gründungsmitglieder der westeuropäischen Organisationen sahen in der Einbindung der BRD die Möglichkeit, Kontrolle über ihr wirtschaftliches und politisches Potenzial auszuüben und ein erneutes Hegemoniestreben Deutschlands im Keim zu ersticken. Alle am europäischen Integrationsprozess teilhabenden Staaten hatten zum Ziel, auf diese Weise Frieden, Freiheit und Sicherheit in Europa zu gewährleisten.
So äußerte sich beispielsweise der belgische Außenminister PAUL HENRI SPAAK in seinem Memorandum vom 7. Februar 1959 folgendermaßen zu den Chancen und der Bedeutung des europäischen Einigungsprozesses: Die europäische Integration sei
„vor allem die richtige Art und Weise, das deutsche Problem zu lösen. (...) Die europäische Integration gibt Deutschland einen Rahmen, in dem seine Expansion begrenzt bleibt, und schafft eine Interessengemeinschaft, die es absichert und die uns gegen gewisse Versuche und Abenteuer absichert.“
Die Grundlage für den europäischen Integrationsprozess stellte die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 1951 dar, die von
gegründet wurde. Die EGKS war außerdem Ausgangspunkt der deutsch-französischen Aussöhnung, die mit dem Abschluss des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages (Elysée-Vertrag) 1963 ihren vorläufigen Höhepunkt fand und die weitere Rolle Deutschlands und Frankreichs im europäischen Einigungsprozess maßgeblich bestimmte. Mit den Römischen Verträgen von 1957 erfolgte u. a. die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), von der die BRD als exportorientierte Industrie durch die Öffnung der Märkte der Nachbarstaaten profitierte.
Im weiteren Verlauf des Integrationsprozesses beteiligte sich Deutschland aktiv an der europäischen Einigung. Zusammen mit Frankreich etablierte sich Deutschland als Motor der europäischen Integration. So gab das deutsch-französische Tandem unter dem französischen Staatspräsidenten VALÉRY GISCARD D'ESTAING und dem deutschen Bundeskanzler HELMUT SCHMIDT den Anstoß
Auch ihre Nachfolger übten großen Einfluss auf den Integrationsprozess aus.
Die Einbindung Deutschlands in die Europäische Gemeinschaft bedeutete einerseits Souveränitätsverzicht durch die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen auf die gemeinschaftliche Ebene, andererseits hatte sie die Anerkennung als gleichberechtigter Partner im westlichen Bündnissystem und einen Zugewinn an ökonomischer Sicherheit zur Folge.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die damit verbundene Möglichkeit einer Überwindung der Teilung Deutschlands war seitens der anderen EG-Mitgliedstaaten von Befürchtungen begleitet: Erstens äußerten sich die Mitgliedstaaten besorgt darüber, dass ein vereintes Deutschland sein Interesse an der Europäischen Gemeinschaft und dem europäischen Integrationsprozess verringern und sich stattdessen eher Mittel- und Osteuropa zuwenden könnte. Zweitens befürchteten sie dessen Dominanz innerhalb der Gemeinschaft aufgrund der durch die Einheit veränderten Größenordnung Deutschlands. Drittens waren die Mitgliedstaaten beunruhigt wegen der durch die deutsche Wiedervereinigung anfallenden Kosten für die EG.
Die EG, insbesondere der damalige Kommissionspräsident JACQUES DELORS, befürwortete eine enge Einbindung des wiedervereinigten Deutschlands in die Gemeinschaft und sicherte den deutschen Vereinigungsprozess wirtschaftsinstitutionell ab. Der deutsche Bundeskanzler HELMUT KOHL betonte ausdrücklich, dass das wiedervereinigte Deutschland am europäischen Integrationsprozess festhalten werde. Dies untermauerte er, als er sich gemeinsam mit dem französischen Staatspräsidenten FRANÇOIS MITTERRAND im April 1990 für eine Vertiefung der europäischen Integration durch die Beschleunigung der politischen Union und der Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion einsetzte.
Von symbolischer Bedeutung ist die Neuformulierung desjenigen Grundgesetzartikels, über den die deutsche Vereinigung im Oktober 1990 verwirklicht wurde. Mit der neuen Formulierung geht die Beteiligung des wiedervereinigten Deutschlands am europäischen Integrationsprozess in die Verfassung ein. So lautet der Art. 23 Abs. 1 GG heute:
„Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Der Bund kann hierzu durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte übertragen.“
1993 sprachen sich Präsident MITTERRAND und Bundeskanzler KOHL für eine Vertiefung der Europäischen Union (EU) aus, die auf einer Beschleunigung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der EU sowie einer Optimierung der Zusammenarbeit im Bereich der Kriminalitätsbekämpfung und Bekämpfung des Drogenhandels – beide sind Bestandteil der Dritten Säule des Maastrichter Vertrages – beruhen sollte.
Auch in den Regierungskonferenzen zum Vertrag von Amsterdam 1997 unterstrich Deutschland sein Interesse an der Vertiefung der politischen Union, die mit der ökonomischen Vertiefung einhergehen müsse. Deutschland setzte sich für Fortschritte in der GASP, z. B. durch Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen, sowie der dritten Säule des Maastrichter Vertrages, der Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik, ein. Hier forderte Deutschland u. a. eine Vergemeinschaftung der Asyl- und Visapolitik. Ein weiteres zentrales Anliegen betraf die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU).
Im Vorfeld der Verhandlungen zum Vertrag von Nizza verstärkten sich die Diskussionen um die Finalität, des Endziel des europäischen Einigungsprozesses. Um trotz Erweiterung der EU handlungsfähig zu bleiben und in der Vertiefung der Union voran zu schreiten, schlug der damalige deutsche Außenminister JOSCHKA FISCHER die Bildung eines „Gravitationszentrums“ vor. Dadurch soll den integrationswilligen Mitgliedstaaten eine verstärkte Zusammenarbeit in den Politikbereichen ermöglicht werden, wobei zögernde Mitgliedstaaten jederzeit zu dieser Pioniergruppe zustoßen könnten. Diesem Vorschlag schloss sich der ehemalige französische Staatspräsident JACQUES CHIRAC an. Dieses Konzept kann – wie sich mit der Einführung des Euro in 12 der damals 15 Mitgliedstaaten der Union gezeigt hat – erfolgreich zur Vertiefung der Union angewendet werden. Durch Teilnahme an dem Europa der „differenzierten Integration“ kann Deutschland auch weiterhin gemeinsam mit anderen großen Staaten eine Führungsrolle im Einigungsprozess einnehmen.
Im Anschluss an die deutsche Vereinigung machte sich Deutschland zum Fürsprecher einer Mitgliedschaft der mittel- und osteuropäischen Staaten (MOE) in der Union. So wurde in Essen 1994 unter deutscher Ratspräsidentschaft die Einrichtung eines strukturierten Dialogs mit den assoziierten mittel- und osteuropäischen Staaten beschlossen. Der Grund dafür lag einerseits in der Erwartung eines ökonomischen Profits, andererseits jedoch verband Deutschland damit die Ausweitung von Demokratie, Wohlstand und Sicherheit auf das östliche Europa. Deutschland verfolgte also ein Doppelinteresse: Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
Ein Angebot von