Charta 77

KSZE-Schlussakte und Menschenrechte

Die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE), die Vorgängerorganisation der heutigen OSZE, war seit 1972 eine ständige Staatenzusammenkunft von 33 europäischen Staaten sowie den USA und Kanada. Mit ihr strebten die Staaten des durch den Eisernen Vorhang in Ost und West geteilten Europas eine Entspannung und Verbesserung ihrer gegenseitigen Beziehungen und ein geregeltes Miteinander an.

Die wesentlichen Ziele der KSZE waren in drei Körben (= drei Dimensionen der Zusammenarbeit) der Schlussakte von Helsinki von 1975 festgehalten. Korb 1 regelte die Prinzipien des Verhältnisses der Staaten untereinander, z. B. das der souveränen Gleichheit der Staaten, das der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheit anderer Staaten oder das der friedlichen Regelung von Streitfällen. Korb 2 beschäftigte sich mit Aspekten der Zusammenarbeit in Fragen der Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt. Korb 3 bekannte sich zum Ziel menschlicher Kontakte sowie zu Informations- und Kulturaustausch zwischen Ost und West.
Die Schlussakte war kein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag, sondern eine gemeinsame politische Absichtserklärung. Da an der angestrebten Zusammenarbeit aber alle Staaten ein, wenn auch manchmal unterschiedliches, Interessen hatten, war sie ein wichtiges Dokument mit gegenseitig politisch verpflichtender Wirkung. Auch Vertreter unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen in den europäischen Ländern bezogen sich daher immer wieder auf sie.

Zu den 10 Prinzipien, die den wesentlichen Inhalt des Korbes 1 ausmachten, gehört auch die Erwähnung der Menschenrechte als Grundlagen der Zusammenarbeit. In Prinzip VII bekannten sich die Unterzeichnerstaaten gemeinsam zur

Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten, einschließlich der Gedanken-, Gewissens- Religions- und Überzeugungsfreiheit“.

Unter dem Menschenrechtsbegriff wurden hier die

„zivilen, politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen sowie die anderen Rechte und Freiheiten, die sich alle aus der dem Menschen innewohnenden Würde ergeben und für seine freie und volle Entfaltung wesentlich sind“

subsumiert.
An anderen Stellen der Charta wurde zudem positiv auf die UN-Charta und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verwiesen.

Die Bedeutung der Schlussakte von Helsinki für die Menschenrechte in den Unterzeichnerstaaten kann man in drei Punkten zusammenfassen:

  1. Es gilt ein gemeinsamer Menschenrechtsbegriff;
     
  2. Anerkennung der universellen Menschenrechte durch alle Teilnehmerstaaten;
     
  3. Verknüpfung der Menschenrechte mit dem internationalen Frieden und den Beziehungen der Staaten untereinander. Sie stellte klar, dass „die universelle Bedeutung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ ein „wesentlicher Faktor für den Frieden“ und „die Entwicklung freundschaftlicher Beziehungen“ zwischen den Staaten sei.

Die Tschechoslowakei nach dem Prager Frühling

Obwohl die Erklärungen zu den Menschenrechten nur einen kleinen Teil der Schlussakte von Helsinki ausmachten, sorgten sie in vielen osteuropäischen Gesellschaften für großes Aufsehen, so auch in der Tschechoslowakei. Da die Unterzeichnerstaaten eine Veröffentlichung der KSZE Schlussakte in ihren Ländern vereinbart hatten, konnte man sie auch in diesem zum Ostblock gehörenden Land im Einzelnen nachlesen.
Das war durchaus brisant. Denn in wichtigen Teilen widersprachen die gesellschaftliche und die politische Wirklichkeit den aus dem Dokument von Helsinki hervorgehenden Bekenntnis zu den Menschenrechten.

Nachdem 1968 der so genannte Prager Frühling, ein auch von vielen Mitgliedern der Kommunistischen Partei unterstützter Ansatz eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“, durch Panzer und Soldaten „befreundeter“ sozialistischer Staaten niedergewalzt wurde, setzte eine sogenannte „Normalisierung“ ein. Anhänger der alten Ordnung gelangten an die Macht. Viele Protagonisten der Ereignisse von 1968 wurden als „Umstürzler“ verhaftet, verfolgt oder z. B. mit Berufsverboten schikaniert.
Ein Großteil der Bevölkerung zog sich bis Mitte der 1970er-Jahre enttäuscht vom politischen Geschehen zurück. Nur eine kleine Zahl Intellektueller traf sich in kleinen Zirkeln und gab im Untergrund illegal zahlreiche Publikationen heraus. Dabei waren sie oftmals staatlicher Verfolgung und Repression ausgesetzt.

Zur gleichen Zeit aber ratifizierte die Tschechoslowakei, veranlasst auch durch die Teilnahme an der KSZE, zwei UN-Menschenrechtsvereinbarungen. Der „Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ und der „Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte“ waren von der Tschechoslowakei im Dezember 1976 ratifiziert und kurze Zeit später in die nationale Gesetzgebung aufgenommen worden. Da das ein international wichtiger Schritt war, wurde er auch im Inland von der Regierung in großem Stil gewürdigt.

Gründung der Charta 77 als Bürgerinitiative

Der offensichtliche Widerspruch zwischen den eingegangenen internationalen Menschenrechtserklärungen einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit der „Normalisierung“ andererseits veranlasste insgesamt 243 Personen (meistens Intellektuelle, Universitätsmitglieder oder Kirchenvertreter) zur Unterschrift unter eine Erklärung. Dies war der Beginn der Charta 77.

Sie verstand sich als eine Bürgerinitiative im Dienste der tschechoslowakischen Gesellschaft und Öffentlichkeit. Allerdings wollte sie ausdrücklich keine alternative politische Formation neben der damals herrschenden Kommunistischen Partei sein. Vielmehr betonten die Unterzeichner ihre moralische Verantwortung, als Menschen unterschiedlichster Weltanschauung gemeinsam für die Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte verantwortlich zu sein. Sie kritisierten etwa die Beschneidung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, die Praxis der Berufsverbote für Oppositionelle usw..

So hieß es in der Erklärung:

„Charta 77 ist eine freie, informelle und offene Gemeinschaft von Menschen (...) verbunden durch den Willen, sich einzeln und gemeinsam für die Respektierung der Bürger- und Menschenrechte in unserem Land und in der Welt einzusetzen – jener Rechte, die dem Menschen von beiden kodifizierten internationalen Pakten, von der Abschlußakte der Konferenz von Helsinki, von zahlreichen weiteren internationalen Dokumenten (...) zugestanden werden und die zusammenfassend in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN zum Ausdruck gebracht werden.“

Entwicklung und Bedeutung der Charta 77

Der Staat reagierte auf die Aktivitäten der Charta 77 häufig mit Verfolgung und Repressalien. Anhänger und Unterstützer der Initiative mussten in den Jahren bis 1989, das auch in der Tschechoslowakei einen friedlichen Umsturz brachte, mit beruflichen Diskriminierungen, mit Überwachung durch staatliche Sicherheitsdienste oder gar Gefängnis rechnen. So verbrachte der spätere Staatspräsident VACLAV HAVEL zwischen 1977 und 1989 insgesamt 4 ½ Jahre in Haft. Trauriger Höhepunkt der staatlichen Reaktion war der Tod eines der drei ersten Sprecher der Charta, des Philosophen JAN PATOCKA, der am 13. März 1977 nach einem über elfstündigem Verhör starb.

Dennoch ließen sich die meisten Anhänger nicht einschüchtern. In den Jahren bis 1989 wurden insgesamt 572 Dokumente mit Informationen über die Situation der Menschen- und Bürgerrechte in der Tschechoslowakei herausgegeben. Berichtet wurde z. B. über Rechtsverstöße staatlicher Behörden gegen Einzelne oder über die Lage von Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Daneben wurden auch allgemeine Themen wie Frieden und Umweltschutz aufgegriffen. Häufig erzielten solche Berichte vor allem im Ausland große Aufmerksamkeit, was dann wiederum die Aktivitäten der Gruppe auch im Inland bekannter machte.

Immer wieder wies man dabei weiterhin auf die Staat und Bürger verpflichtende Gültigkeit internationaler Menschenrechtsvereinbarungen hin. So schrieb man 1987 in einem Aufruf an die Mitbürger des Landes:

„Die Verfassung, die allgemeinen Menschenrechtserklärungen, die Charta der UNO, die internationalen Pakte, die Schlußakte von Helsinki, das alles kann sowohl wertloses Papier sein wie auch ein sehr konkreter und verpflichtender Maßstab und Leitfaden. (...) An uns allen liegt es, wie ernsthaft wir diese Normen akzeptieren, wie wir sie erfüllen und verwirklichen, wie wir sie in lebendige Wirklichkeit verwandeln“.

Bis 1989 unterschrieben fast 2000 Bürgerinnen und Bürger des Landes die ursprüngliche Erklärung. Das ist, gemessen an der Gesamtbevölkerung, eine eher kleine Anzahl. Bis heute jedoch gilt die Bürgerrechtsgruppe als moralisches Gewissen der tschechoslowakischen Gesellschaft in jener Zeit und als Trägerin und Bewahrerin des bürgerlichen Selbstbewusstseins. Damit leistete sie einen wichtigen Beitrag zur Delegitimation der Einparteienherrschaft der sozialistischen Partei und für die friedliche Revolution von 1989.

Charta 77 und KSZE

Wie wir sahen hatte die KSZE der Charta 77 wichtige Impulse gegeben. Neben der Ermutigung durch die Erwähnung der Menschenrechte in der Schlussakte von Helsinki kam dies auch in anderen Zusammenhängen zum Tragen.

Auf verschiedenen KSZE-Nachfolgekonferenzen der Zusammenkunft von 1975 war die Verwirklichung der Menschenrechte immer wieder Thema. So konnte die Anklage konkreter Menschenrechtsverletzungen hier immer wieder eine öffentliche Bühne finden.

Solche Konferenzen wurden auch von Nichtregierungsorganisationen (NGO) genutzt. Dabei kam ihnen ein Passus in der Erklärung von Helsinki zugute, nach dem neben den Regierungen auch „Institutionen, Organisationen und Personen eine relevante und positive Rolle“ zum Erreichen der „Ziele ihrer Zusammenarbeit“ beitragen sollten. Viele nicht-staatliche Gruppen arbeiteten als unabhängige Menschenrechtsgruppen auch über den Eisernen Vorhang hinweg unter manchmal schwierigsten Bedingungen länderübergreifend zusammen. So wurden die Anliegen osteuropäischer Bürgerrechtsbewegungen häufig erst durch westliche Gruppen öffentlich gemacht.

Insgesamt sollte man den Einfluss internationaler Abkommen oder Vereinbarungen auf die Lage der Menschenrechte also nicht unterschätzen. Wie die vielfach zwar zähe und schwierige Entwicklung der Charta 77 zeigt, können sie zumindest ermutigen und unterstützen, zudem eine internationale Öffentlichkeit schaffen und so vielleicht zu einer Veränderung beitragen, die letztlich immer aus den Gesellschaften selbst wachsen muss.

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