Igor Wassiljewitsch Kurtschatow

IGOR WASSILJEWITSCH KURTSCHATOW lebte in einer Zeit, in der sich die Atom- und Kernphysik stürmisch entwickelte. HENRI BECQUEREL (1852-1908) hatte 1896 die Radioaktivität entdeckt. Sie wurde von MARIE CURIE (1867-1934) und PIERRE CURIE (1859-1906) intensiv erforscht.
ERNEST RUTHERFORD (1871-1937) und NIELS BOHR (1885-1962) entwickelten ihre Atommodelle. 1932 wurde durch JAMES CHADWICK (1891-1971) die Existenz des Neutrons als Kernbaustein nachgewiesen. OTTO HAHN (1879-1968) und FRITZ STRASSMANN (1902-1980) entdeckten 1938 die Kernspaltung. LISE MEITNER (1878-1968) gab dazu eine erste theoretische Deutung.
In der Sowjetunion bemühte man sich in den zwanziger und dreißiger Jahren intensiv um den Aufbau einer breiten wissenschaftlichen Basis und bildete in großem Umfange auch Physiker aus. Zu diesen jungen und begabten Physikern zählte I. W. KURTSCHATOW.

Kindheit. Jugend und Ausbildung

IGOR WASSILJEWITSCH KURTSCHATOW wurde am 12. Januar 1903 in Sim im Südural geboren. Sein Vater arbeitete als Forstgehilfe und später als Oberfeldmesser, seine Mutter war Dorfschullehrerin.
1909 zogen die KURTSCHATOWs nach Simbirsk, einer größeren Stadt, um den Kindern den Besuch des Gymnasiums zu ermöglichen, das es in Sim nicht gab. 1912 wechselten sie nach Simferopol am Schwarzen Meer. Dort besuchte I. W. KURTSCHATOW ab 1912 das Gymnasium. Er war in allen Fächern ein sehr guter Schüler und wurde beim Abitur im Jahr 1920 für seine hervorragenden Leistungen mit einer Goldmedaille ausgezeichnet.

Aufgrund der komplizierten Verhältnisse im Land - es herrschte Bürgerkrieg in Russland - war ein Studium an einer großen Universität zunächst nicht möglich. Deshalb begann I. W. KURTSCHATOW im September 1920 ein Physik-Studium an der so genannten Taurischen Universität in Simferopol. Organisiert wurde diese Universität 1918 durch Professoren der Petersburger und Kiewer Universität, die auf der Krim Sommerhäuser besaßen und die wegen der Kriegswirren nicht in ihre Hochschulorte zurückkehren konnten. Ende 1920 wurde die Taurische Universität in die Staatliche Krim-Universität umgewandelt. KURTSCHATOW schloss das vierjährige Studium bereits nach drei Jahren erfolgreich ab.

Im Herbst 1923 ging KURTSCHATOW nach Petrograd (heute: St. Petersburg) und setzte seine Studien am dortigen Polytechnischen Institut fort. Um sein Leben zu finanzieren, arbeitete er u.a. als Hilfskraft am Magnetometeorologischen Observatorium in Pawlowsk und maß dort u.a. die Radioaktivität des Schnees.

Als Forscher in Leningrad

Ab 1925 war KURTSCHATOW als wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem 1918 von A. F. JOFFE (1880-1960) gegründeten Physikalisch-Technischen Institut in Leningrad (heute: St. Petersburg) tätig. Dieses Institut wurde in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einem der wichtigsten Zentren physikalischer Forschung in der Sowjetunion.
KURTSCHATOW beschäftigte sich u.a. mit dem Elektronendurchgang durch dünne Schichten und mit dem Verhalten von Dielektrika. Ab 1934 forschte er intensiver zu Problemen der Kernphysik. Wie intensiv diese Beschäftigung war, zeigen seine Veröffentlichungen in dieser Zeit: Allein in den Jahren 1934 und 1935 veröffentlichte er 24 Artikel in verschiedenen Zeitschriften.
Im April 1935 konnte KURTSCHATOW eine von ihm und einigen Mitarbeitern entdeckte Erscheinung bekannt geben, die Kernisometrie. Diese am Brom entdeckte Erscheinung besagt, dass Atomkerne existieren, die bei gleichem Atomgewicht verschiedene radioaktive Eigenschaften besitzen. In dieser Zeit führte KURTSCHATOW mit seinen Mitarbeitern auch erste Versuche mit langsamen Neutronen durch.

Seit 1939, also bereits kurz nach der Entdeckung der Kernspaltung durch O. HAHN und F. STRASSMANN, beschäftigte sich auch KURTSCHATOW mit Problemen der Kernspaltung. Der Erkenntnisstand zu diesen Fragen war 1939 in einer Reihe von Ländern, z.B. in Deutschland, England, den USA und der Sowjetunion, etwa gleich. Es wurden zahlreiche Arbeiten zur Kernspaltung veröffentlicht. Bekannt war auch, dass bei der Kernspaltung Energie freigesetzt wird.
Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg, ausgelöst durch den Überfall Deutschlands auf Polen. Das beeinflusste auch die wissenschaftliche Arbeit.
Auffällig war, dass ab Mitte 1940 in den USA keinerlei Veröffentlichungen mehr über die Kernspaltung erschienen. Auch die in Deutschland tätigen Forscher veröffentlichten ihre Erkenntnisse nicht mehr.

Tätigkeit in der Kriegszeit

Mit dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni 1941 wurde ein Großteil der sowjetischen Wissenschaftler für die Landesverteidigung eingesetzt. Das galt auch für KURTSCHATOW. Er war zunächst in Sewastopol am Schwarzen Meer tätig und beschäftigte sich mit der Entschärfung von Magnetminen. Anschließend arbeitet er in Poti und in Kasan. Dort beschäftigte er sich u.a. mit der Panzerung von Kampfwagen. Im November 1942 kam für ihn ein entscheidender Einschnitt: KURTSCHATOW wurde zum wissenschaftlichen Leiter des sowjetischen Atombombenprojektes ernannt.

Vater der sowjetischen Atombombe

Die Geschichte der sowjetischen Atombombe ähnelt bis zu gewissem Grade der der amerikanischen: In den USA machten Wissenschaftler wie A. EINSTEIN, E. P. WIGNER, L. SZILARD und E. TELLER Regierungsstellen auf die Möglichkeit des Baus einer deutschen Atombombe aufmerksam. Das war letztlich der Anstoß zum amerikanischen Atombombenprojekt, das 1945 zur ersten erfolgreichen Zündung einer Atombombe führte.
In der Sowjetunion spielten zwei Faktoren eine Rolle:

  • Auch hier machten Wissenschaftler Regierungsstellen auf die Möglichkeit einer Atombombe aufmerksam. Akademiemitglied N. N. SEMJONOW wandte sich im Herbst 1941 mit einer entsprechenden Information an das Volkskommissariat für Schwerindustrie. Der Physiker G. N. FLJOROW forderte im Mai 1942 das Staatliche Verteidigungskomitee auf, "unverzüglich mit der Herstellung einer Uranbombe zu beginnen".
  • Ende 1942 war der sowjetischen Regierung bekannt, dass in den USA unter strengster Geheimhaltung an einer neuen Waffe auf der Grundlage der Kernspaltung gearbeitet wurde. Es lagen auch Informationen zu Arbeiten am Uran-Problem in Deutschland vor.

KURTSCHATOW koordinierte die Arbeiten der sowjetischen Physiker und Techniker seit Februar 1943 von Moskau aus. Der Mitarbeiterstab wurde ständig vergrößert, viele führende Wissenschaftler wurden mit in das Projekt einbezogen. Höchste Priorität erhielten die Arbeiten 1945 nach dem Abwurf von zwei amerikanischen Atombomben über Hiroshima und Nagasaki.

Beteiligt waren an den Arbeiten nach 1945 auch deutsche Wissenschaftler und Techniker, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion tätig waren, u.a. GUSTAV HERTZ (1887-1975), MANFRED VON ARDENNE (1907-1997), PETER-ADOLF THIESSEN (1899-1990) und MAX STEENBECK (1904-1981). Welchen Anteil sie tatsächlich am Bau der sowjetischen Atombombe haben, ist bis heute umstritten.

Ein wichtiger Schritt wurde 1946 erreicht: Am 25. Dezember 1946 gelang es in der Sowjetunion, die erste gesteuerte Kettenreaktion zu realisieren. Ein weiterer wichtiger Schritt war der Bau eines Kernreaktors für die Plutoniumproduktion, der im Herbst 1947 begann. Und am 29. August 1949 - vier Jahre nach den USA - erfolgte unter Leitung von KURTSCHATOW die Zündung der ersten sowjetischen Atombombe.

Eine lange Pause blieb für KURTSCHATOW allerdings nicht. Da inzwischen bekannt war, dass die USA an einer neuen Superwaffe - der Wasserstoffbombe - arbeiteten, erhielt KURTSCHATOW die Aufgabe, sich als Verantwortlicher diesem Projekt zu widmen.
Im November 1952 führte die USA im Bereich des Eniwetok-Atolls im Stillen Ozean die erste Explosion einer Fusionsbombe durch, am 12. August 1953 erfolgte die Explosion der ersten sowjetischen Wasserstoffbombe. Die sowjetische Bombe war allerdings im Unterschied zur amerikanischen keine nicht transportable "Versuchsbombe", sondern eine echte, transportable Bombe. Damit war das amerikanische Atombombenmonopol endgültig gebrochen, der kalte Krieg zwischen den beiden Supermächten ging allerdings weiter.

Weitere wissenschaftliche Tätigkeit

Teilweise parallel zu den Arbeiten an Kernwaffen beschäftigte sich KURTSCHATOW auch mit weiteren Problemen. So hatte er wesentlichen Anteil an der Entwicklung des ersten Kernreaktors für friedliche Zwecke. Das erste Kernkraftwerk der Sowjetunion wurde am 27. Juni 1954 in Obninsk bei Moskau in Betrieb genommen, später auf seine ausdrückliche Anregung hin weitere Kernkraftwerke gebaut. Darüber hinaus beschäftigte sich KURTSCHATOW mit Problemen der gesteuerten Kernfusion.
1956 erlitt er einen ersten Schlaganfall, im Februar 1957 den zweiten. Damit war seine wissenschaftliche Tätigkeit stark eingeschränkt. Trotzdem blieb er weiter öffentlich wirksam. So formulierte er im März 1958 vor dem Obersten Sowjet, dem Parlament der Sowjetunion, dessen Mitglied er war:

"Wir sowjetischen Wissenschaftler sind zutiefst beunruhigt darüber, daß es bis jetzt kein internationales Abkommen zum bedingungslosen Verbot der Atom- und Wasserstoffbombe gibt. Wir sind immer entschieden für das Verbot der Anwendung von Atomwaffen eingetreten. Dabei fühlen wir uns mit den namhaftesten Gelehrten des Auslandes einig: mit dem Dänen Niels Bohr, dem Franzosen Joliot-Curie, dem Amerikaner Pauling, dem Deutschen Heisenberg, dem Japaner Yukawa, dem Engländer Powell und vielen, vielen anderen ...
Von dieser hohen Tribüne appellieren wir an die Wissenschaftler der ganzen Welt, ihre vereinten Bemühungen darauf zu richten, in kürzester Frist die gesteuerte thermonukleare Reaktion zu verwirklichen und die Energie der Kernverschmelzung von einem Vernichtungsmittel in eine reiche, lebensspendende Energiequelle zum Wohle der Völker zu verwandeln ...

Am 7. Februar 1960 starb KURTSCHATOW in einem Sanatorium in der Nähe von Moskau. Seine Urne wurde an der Mauer des Moskauer Kreml am Roten Platz beigesetzt.
Zu Ehren KURTSCHATOWs erhielt das 1963 von G. N. FLJOROW hergestellte Element 104 zunächst den Namen Kurtschatovium. Es wurde später in Rutherfordium umbenannt.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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