Quantenblumen

Auf einige dieser Experimente werden wir im Folgenden eingehen. Um die Eigentümlichkeiten der Quantenwelt zu verdeutlichen, wollen wir hier darstellen, wie eine Blume wachsen würde, wenn sie sich entsprechend dem Komplementaritätsprinzip der Quantenphysik entwickeln würde. Wie jede Veranschaulichung hat auch diese ihre Grenzen, dennoch kann die Analogie erstaunlich weit getrieben werden.
Von einem erkenntnistheoretischen Standpunkt aus ist bemerkenswert, dass man sich zur Erklärung der Experimente oft mit einer kombinierten Welle-Teilchen-Vorstellung behilft, ohne sich die Tragweite der Messergebnisse richtig bewusst zu machen: Den kleinen Objekten traut man anscheinend alles zu. Die Merkwürdigkeiten kann man verdeutlichen, wenn man sie von den Quantenobjekten auf eine Blume überträgt: Wie müsste eine Blume nach den Gesetzen der Quantenphysik wachsen?
In einer Tabelle stellen wir den verschiedenen Eigenarten der Blume die Versionen eines Interferenzexperiments mit den jeweils entsprechenden experimentellen Ergebnissen gegenüber. Der Leser kann z. B. zuerst einmal die linke Spalte mit der Beschreibung der Blume lesen, um die Merkwürdigkeiten im Zusammenhang zu haben. Man kann beim Lesen aber auch zwischen Blumeneigenschaften und zugehörigen Quantenexperimenten hin und her springen.

Der Gärtner Gerd findet in einer Tropfsteinhöhle eine neuartige Blume. Die Blume besitzt ein trichterförmiges Blatt, mit dem sie Tropfwasser auffängt.
Gerd will die Blume selbst ziehen. Er setzt ein Samenkorn in einen Blumentopf und wartet. Nach wenigen Stunden ist das trichterförmige Blatt gewachsen. Im Weiteren findet Gerd heraus: Damit die Blume weiter wächst, muss er zwei Bedingungen erfüllen: Der Trichter muss mit Wasser gefüllt sein und er muss die Pflanze in einen dunklen Raum stellen. Sobald er den Raum erhellt, stellt die Blume ihr Wachstum ein.
Die Blume steht für das Quantenobjekt. Mit einzelnen Quantenobjekten (z. B. Photonen oder Atomen) hat man schon des Öfteren Interferometer-Experimente durchgeführt.
Das Quantenobjekt hat zwei denkbare Möglichkeiten, auf den Schirm zu gelangen: Entweder „oben herum“: durch den ersten Strahlteiler zum Spiegel rechts oben und reflektiert am zweiten Strahlteiler zum Schirm, oder „unten herum“: am ersten Strahlteiler nach unten reflektiert, am Spiegel links unten reflektiert und durch den zweiten Strahlteiler zum Schirm.
Wenn Gerd 5 Tage lang verdunkelt, wächst die Blume zur vollen Größe heran.Wenn man die Spuren der Objekte auf dem Beobachtungsschirm sammelt, bilden sie ein Interferenzmuster.
Gerd hat eine Forscherseele und will herausfinden, zu welchen Zeiten die Blume von ihrem Wasservorrat Gebrauch macht. Da er dazu das Licht nicht anmachen darf, steckt er einen Feuchtigkeitssensor in die Blumenerde. Die Feuchtigkeitskurve wird auf einem Papierstreifen aufgenommen.MANDEL und andere haben in das Interferometer-Experiment zwei nichtlineare Kristalle gebracht, mit deren Hilfe Photonen gespalten werden können. Der eine Teil des Photons (das sogenannte Signalphoton) gelangt weiterhin zum Schirm, der andere (das sogenannte Idlerphoton) kann an den Detektoren D 1 bzw. D 2 nachgewiesen werden.
Nach vielen Wiederholungen stellt Gerd fest:Nach vielen Wiederholungen des Experiments stellt man fest:
1. Die Blume bewässert sich stets entweder in der ersten oder in der zweiten Nacht.1. Das Idlerphoton wird immer nur vom Detektor D 1 oder vom Detektor D 2 nachgewiesen.
2. Statt einer großen Blüte erhält man mit Feuchtigkeitsmessung zwei kleine.2. Statt eines Interferenzmusters erhält man eine homogene Verteilung der Photonenspuren.

Für Gerd liegt nahe, dass dies entweder am Feuchtigkeitssensor oder am Schreibgerät liegt.
Wenn er statt eines Schreibgeräts einen Computer außerhalb des dunklen Raums benutzt, der die Feuchtigkeitsdaten speichert, wächst immer noch die zweiblütige Blume. Dazu muss Gerd die Computerdaten gar nicht auswerten. Es genügt offensichtlich, dass die Daten für ihn zur Verfügung stehen.

Für das Verschwinden des Interferenzmusters scheinen die nichtlinearen Kristalle oder die Detektoren verantwortlich zu sein.
Man stellt fest: Auch wenn man die Detektoren weglässt, kann das Interferenzmuster nicht mehr beobachtet werden. Es genügt offenbar, dass an den Idlerphotonen eine Messung mithilfe von Detektoren durchgeführt werden könnte.

 
 

Verantwortlich für das Wachstum der zweiblütigen Variante scheint also die Feuchtigkeitsmessung zu sein. Überraschenderweise ist dem aber nicht so: Wenn Gerd die Daten während des laufenden Versuchs wieder löscht, wächst wieder die einblütige Blume.
Dies geschieht selbst dann, wenn er die Daten löscht, unmittelbar bevor er den dunklen Raum mit der Pflanze erhellt und nachsieht, welche Blume gewachsen ist.

Gerd findet dies haarsträubend, weil er ja, während er die Daten noch auf der Festplatte hat, davon ausgeht, dass der Blume zwei Blüten wachsen. In Folge des Löschens würde sich demnach die Blume mit den zwei Blüten in eine Blume mit einer Blüte verwandeln. Dies ist in so kurzer Zeit nicht möglich. Vielleicht wächst die Blume ja irgendwie in beiden Modifikationen gleichzeitig und bildet dann beim Erhellen des Raums schnell die passende aus, abhängig davon, ob in diesem Moment die Daten auf der Festplatte vorliegen oder nicht. Aber so richtig vorstellen kann Gerd sich dies nicht.
Wenn Gerd die Daten erst löscht, wenn die Blume schon im Hellen steht, dann bleibt sie zweiblütig.
Entscheidend ist offensichtlich der Moment, in dem Gerd den Raum mit der Blume erhellt. Wenn Gerd in diesem Moment erfahren kann, wie sich die Blume bewässert hat, bekommt sie zwei kleine Blüten, andernfalls eine große.

Somit scheinen die nichtlinearen Kristalle die Ursache für das Verschwinden des Interferenzmusters zu sein. Dies ist jedoch nicht zutreffend:
Wenn man in die möglichen Wege der Idlerphotonen einen zusätzlichen Strahlteiler stellt, so kann das Muster wieder beobachtet werden. Genau genommen ist zur Herstellung des Musters eine Koinzidenzmessung nötig. Dieses Detail kann nicht auf die Blume übertragen werden. Hier zeigen sich die Grenzen der Analogie.

Offensichtlich erhält man kein Muster, wenn eine Messung möglich ist, die eine Zuordnung zwischen den Messergebnissen und den denkbaren Möglichkeiten erlaubt:
Ohne Strahlteiler ist die Zuordnung eindeutig: Ein Signal von D 1 gehört zur Möglichkeit „oben herum“ und ein Signal von D 2 zur Möglichkeit „unten herum“.
Mit Strahlteiler ist die Zuordnung nicht mehr möglich, da nun ein Photon, das an D 1 nachgewiesen wird, am zusätzlichen Strahlteiler reflektiert oder durchgelassen werden konnte.
Dies ist ein Beispiel für das Komplementaritätsprinzip der Quantenphysik: Interferenzmuster und Zuordnungsinformation schließen sich aus.
Man kann dieses Verhalten nicht verstehen oder gar sich vorstellen, man kann nur die Ergebnisse (ob ein Interferenzmuster auftritt oder nicht) vorhersagen.
Wenn die Löschung der Zuordnungsinformation durch den zusätzlichen Strahlteiler erst erfolgt, wenn das Signalphoton schon den Schirm erreicht hat, so kann man kein Muster mehr erhalten.

 
 
Gerds Computer ist ans Internet angeschlossen. Diesmal speichert er die Daten nicht, aber er ermöglicht allen Leuten im Internet, seine Messungen aufzeichnen. Tatsächlich gibt es einen Forscher in Australien, der die Daten speichert.
Dabei wächst die Blume mit den zwei Blüten.
Wenn der Australier die Daten wieder löscht und sei es nur 1 Sekunde, bevor Gerd nachschaut, welche Blume gewachsen ist, so wird Gerd die einblütige Blume erhalten.
Gerd ist zwar schon ziemlich abgebrüht, aber nun ist er doch wieder erstaunt, dass die Blume offensichtlich den Überblick über die ganze Welt hat und mitbekommt, ob irgendwo die Feuchtigkeitsdaten gespeichert sind oder nicht.

Auch wenn das Idlerphoton die Information sehr weit weg trägt, so ist stets noch eine Messung an dem Idlerphoton möglich, die eine Zuordnung zu den denkbaren Möglichkeiten erlaubt.
Das Idlerphoton kann die Information auch an ein anderes System weiterreichen, zum Beispiel könnte es ein Atom anregen. Entscheidend ist nur, ob zu dem Experiment irgendwo in der Welt eine Zuordnungsinformation steckt, wenn das Signalphoton den Schirm erreicht.
Man nennt dieses Prinzip „Ganzheitlichkeit der Messung“, denn zum Zeitpunkt der Messung (des Signalphotons auf dem Schirm) ist für das Messergebnis der Zustand der ganzen Welt entscheidend, denn jedes Objekt der Welt kann eine Zuordnungsinformation enthalten.
Dies kann man sich auch in sehr großen Dimensionen vorstellen. Dabei wird klar, dass die Beeinflussung des Messergebnisses durch eine irgendwo hinterlegte Zuordnungsinformation auch über weite Strecken sofort erfolgen kann. Hier zeigt sich die Nichtlokalität der Quantenphysik.

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