- Lexikon
- Musik
- 3 Musik in der Gesellschaft
- 3.2 Musik als Beruf
- 3.2.2 Vom Unterhaltungsmusiker zum DJ
- Vom DJ zum Turntablisten
Als erster DJ in der Geschichte der Musik gilt der britische Rundfunkmoderator CHRISTOPHER STONE (1882–1965), der am 7. Juli 1927 aus dem Studio 3 der BBC zum ersten Mal eine Sendung mit dem Abspiel von Platten gestaltete und damit, vor allem in den USA, rasch Nachahmer fand. Diese Praxis war alles andere als unumstritten. Da sich das Radio als ein Übertragungsmedium etabliert hatte, das „wirkliche Musik“ in die Wohnzimmer der Hörer übertrug (also Livemusik aus dem Studio, aus Konzerthallen, Hotellobbys oder aus eigens für den Rundfunk geschaffenen Veranstaltungsstätten wie der berühmten, am 27. Dezember 1932 eröffneten New Yorker Radio City Music Hall), galt der Einsatz der Tonkonserve anstelle der Livemusik als Betrug am Hörer. In den USA verlangte die für das Rundfunkwesen zuständige Bundesbehörde, die Federal Frequency Commission, bei Strafe des Lizenzentzuges sogar bis Anfang der 1930er-Jahre hinein, dass der Einsatz von Platten in Rundfunksendungen durch vollständiges Verlesen des Plattenlabels kenntlich gemacht werden musste. Genau das wiederum machte das Radio als Werbemedium für die Tonträgerindustrie interessant, weil auch der Firmenname angesagt werden musste.
Andererseits wehrten sich die Musikgewerkschaften schon frühzeitig gegen die Vernichtung ihrer Arbeitsplätze im Radio durch den Einsatz von Tonkonserven. In den USA kam es 1942 deshalb sogar zu einem anhaltenden Musikstreik sowohl gegen die Rundfunkveranstalter als auch gegen die Plattenfirmen. Das hatte insofern gravierende musikgeschichtliche Folgen, als die entstehende Lücke mit nichtgewerkschaftlich organisierten Musikern, afroamerikanischen wie euroamerikanischen Volksmusikern (also mit Rhythm & Blues-Musik und insbesondere Country Music) ausgefüllt wurde, die ohne diesen Streik vermutlich kaum eine derartigen Einfluss erhalten hätten. In sogenannten „Needletime Agreements“ wurden dann noch bis in die 1950er-Jahre hinein ausgehandelte Quoten festgesetzt, die den Anteil der Tonkonserve am Musikprogramm begrenzten.
Dennoch war der Vormarsch des Diskjockeys – nicht zuletzt aus Kostengründen – vor allem in dem kommerziell organisierten Rundfunkwesen der USA unaufhaltsam. 1935 schuf der bei dem Sender WNEW in New angestellte Rundfunkmoderator MARTIN BLOCK (1895–1967) mit seiner Sendung „Make Believe Ballroom“ einen Prototyp für die Tonträger basierten Musikprogramme, der aus dem Platten auflegenden Rundfunkmoderator den Radio-Diskjockey werden ließ. BLOCK agierte vor dem Mikrofon so, dass die Illusion einer Live-Übertragung aus einem Ballsaal entstand. Die fiktive Interaktion mit einem Publikum durch direkte Ansprache des Rundfunkhörers, das Schaffen einer zur Musik passenden Atmosphäre durch den virtuosen Umgang mit der eigenen Stimme (rasante Schnellsprechakrobatik, Tempowechsel der Sprache usw.) und eine entsprechend erfindungsreiche, witzige und unterhaltsame Ansage im lockeren Plauderton wurde zum Charakteristikum eines Moderationsstils, der sich bis heute im Radio erhalten hat und zu einer Personalisierung des Mediums Rundfunk führte.
Zugleich wurde die Musikauswahl zum Markenzeichen der Platten auflegenden Radiomoderatoren, die damit die Bezeichnung „Diskjockeys“ erhielten, ein Begriff, den 1941 das amerikanische Branchenmagazin „Variety“ aufbrachte. Angesichts der Wirksamkeit des Mediums Rundfunk hatten die Radio-Diskjockeys schon bald eine Schlüsselstellung in der Musikindustrie inne, oblag ihnen doch die Programmzusammenstellung und damit die Entscheidung über die Abspielhäufigkeit einer Platte (Airplay). Das provozierte verschiedene Formen der Einflussnahme seitens der Plattenfirmen, unter denen die als Payola (von Pay Victrola, einem verbreiteten Modell der Musicbox) bekannt gewordene bestechungsähnliche direkte Bezahlung des Diskjockeys für den Programmeinsatz eines Titels nicht selten war.
Zu den in diesem Zusammenhang wichtigsten Diskjockeys gehörte zweifellos ALAN FREED (1921–1965), dessen bis 1953 von der Station WJW/Cleveland als „Record Rendezvous“ bekannte, dann in „The Moon Dog Rock ’n’ Roll House Party“ umbenannte und ab 1954 von der New Yorker Station WINS ausgestrahlte Sendung den amerikanischen Rock ’n’ Roll nicht nur popularisieren, sondern durch die Art seiner Musikauswahl maßgeblich herausbilden half. Er geriet 1958 im Zusammenhang mit einer Anti-Rock ’n’ Roll-Kampagne ins Fadenkreuz eines Kongressausschusses, der die Praktiken im US-Rundfunkwesen unter die Lupe nahm. Das Ergebnis war ein Gesetz (Anti Bribrary Act, 1960), in dessen Folge Programmdirektoren eingesetzt werden mussten, um die Personalunion von Programmgestaltung und Moderation aufzulösen. Inzwischen geben Computer, die von darauf spezialisierten Consulting Firmen programmiert werden, den Radio-DJs die Musikauswahl vor.
Die Praxis der Radio-DJs wurde auch für die in Diskotheken (die sich in den 1950er-Jahren etablierten) als Alleinunterhalter agierenden Diskjockeys zum Leitbild. Auch hier begannen der persönliche Stil des Diskjockeys und seine Musikauswahl zum Markenzeichen zu werden und über Erfolg und Misserfolg einer Veranstaltung zu entscheiden. Allerdings führte die direkte, statt der nur fiktiven Interaktion mit dem Publikum zu diversen Versuchen, das bloße Plattenauflegen zu überwinden und etwa durch eine entsprechend gestaltete Musikdramaturgie den Ablauf der Veranstaltung sowie die Atmosphäre im Saal zu beeinflussen. Vor allem in den Ländern der dritten Welt, wo die Diskothek eine ebenso weitverbreitete wie populäre, weil billige Alternative zu herkömmlichen Veranstaltungsformen war, entwickelte sich das Plattenauflegen zu einer Kunst eigener Art.
Eine besondere Rolle für die weitere Entwicklung spielten dabei die jamaikanischen Diskjockeys im Umfeld des Reggae, die hier Sound Systems Men genannt wurden und schon in den 1950er-Jahren begannen, die Platten beim Auflegen zu manipulieren.
Diese überaus kreative Form des Umgangs mit der Tonkonserve gelangte mit dem ständigen Strom von Migranten direkt in die USA und wurde hier zum Auslöser einer Entwicklung, die aus der Diskothek einen Ort des Musizierens mit dem Plattenspieler werden ließ.
DJ GRANDMASTER FLASH (* 1958, 2. v. l., mit Mitgliedern seiner Gruppe GRANDMASTER FLASH & THE FURIOUS FIVE 2007 in New York): Er gilt als einer der Urväter der Hip-Hop-Musik, erfand das „Backspinning“ und führte als einer der Ersten das „Scratching“ ein.
Die in aus der Karibik stammenden, aber in den USA aufgewachsenen DJs
machten die Manipulations- und Mix-Techniken aus ihren Heimatkulturen zum Bestandteil von Rap und Hip-Hop in den USA. Sowohl KOOL HERC wie GRANDMASTER FLASH arbeiteten mit zwei Plattenspielern und zwei Exemplaren des gleichen Songs, dem sie durch ein additives Mix-Verfahren eine neue Gestalt gaben. So wurden die instrumentalen Überleitungen, die Breaks, mehrfach aneinandergereiht und so auf ein Vielfaches ihrer Länge zerdehnt, so dass sie die Ursprungssongs schließlich völlig dominierten, was zur Grundlage eines eigenen, Breakbeat genannten Hip-Hop-Stils werden sollte.
GRAND WIZARD THEODORE nimmt für sich in Anspruch, das „Scratchen“ (oder „Scratching“), die rhythmische Bewegung der Platte unter der aufliegenden Nadel, „erfunden“ zu haben. Auf jeden Fall hat er mit seiner virtuosen Manipulation der sich auf dem Plattenteller drehenden Platte die Entwicklung der Kunst des Plattenauflegens maßgeblich geprägt.
Der entscheidende Schritt im Prozess der Herausbildung des DJs als eines neuen Musikertypus wurde im Kontext der Chicagoer House Music getan. Hier etablierte sich Anfang der 1980er-Jahre durch DJs wie
die Praxis, vorhandene Musikaufnahmen nicht bloß zu modifizieren, sondern nun als Material für völlig neue Klanggestalten zu benutzen. War bis dahin die Erkennbarkeit des Originals als Ausgangspunkt für den Mix ein wichtiger Indikator zur Beurteilung des Kunst des DJs (die Mixe lebten gerade davon, zu zeigen, wie die benutzten Aufnahmen auch klingen konnten), so verschwand das Ausgangsmaterial in der Chicagoer House Music häufig spurlos oder wurde zumindest schwer erkennbar gemacht. Das Augenmerk lag nun ganz auf der kreativen Kraft der DJs, aus der Situation des Augenblicks in der Diskothek heraus etwas Neues zu kreieren, an dessen Schöpfung das tanzende Publikum durch die Art seiner Bewegung teil hatte. DJing bürgerte sich als Bezeichnung dafür ein. Im Zentrum stand nun voll und ganz der Mix, die Herkunft des Materials dafür wurde sekundär. Die Chicagoer DJs kopierten sich das Material für ihre Mixe – Klangpartikel unterschiedlichster Herkunft – zu Hause auf Tonband, das sie dann live zuspielten. Und sie begannen, Maschinen generierte Klangfolgen – die legendären Sequenzer der analogen Rhythmus- und Basssynthesizer „Roland TR 909“ und „Roland TB 303“ – in ihre Mixe einzubauen.
Als die Digitaltechnik durch Verbilligung der Hardware und Entwicklung von Softwaresequenzern auch im Amateurbereich zugänglich war, wurde die Nutzung Maschinen generierter Klangfolgen als Ausgangsmaterial für die Musikmixturen zum Standard. Zusätzlich erlaubte die digitale Samplingtechnik, nun jeden beliebigen Klang und jede beliebige Klangfolge unabhängig von ihrer Herkunft dieser Art des Musizierens einzuverleiben. Die Detroiter DJs
brachten eine Entwicklung auf den Weg, die als „Detroit Techno“ dann den Status des Diskjockeys als eines Sound Artisten und damit eigenständigen Künstlertyps endgültig etablierte.
Charakterstisch für den zum Turntablisten gewordenen Diskjockey ist die Fähigkeit, Körper und Maschinen durch seine Kunst des Mixens so miteinander zu verkoppeln, dass ein neuartiges Klang basiertes Gesamterlebnis entsteht, das sowohl eine ganz eigene Form des Körpererlebnisses als auch eine ganz eigene Form des Klangerlebnisses ermöglicht. Die Strategien, derer er sich dabei bedient, sind – wie etwa die klanghypnotische Wirkung der Wiederholung – zum Teil uralt und aus anderen kulturellen Kontexten – dem Ritual etwa – lange bekannt. Neu jedoch ist die Bindung dieser Techniken an die Eigenlogik von Maschinen, an deren Fähigkeit, endlose Klangfolgen automatisch zu erzeugen, die im Mix geschichtet, verknüpft, verkettet, vernetzt oder ineinander geschachtelt werden können. Die Kunst des DJing bleibt dem Moment und damit dem Erlebnis verpflichtet, ist interaktiv und braucht den sich bewegenden Körper als Impulsgeber und Auslöser für die Klangkaskaden, die der DJ den Maschinen entlockt, seien es der Plattenspieler oder die diversen Sound generierenden Geräte, mit denen er umgeben ist. Eben deshalb ist die Kunst der Turntablisten auf Tonträgern auch nicht wirklich zu dokumentieren.
Seit 2002 organisiert die Deutsche Sektion der International Turntablist Federation jährliche DJ World Championships, auf denen die Besten aus aller Welt zusammenkommen, um der Öffentlichkeit ihre Kreativität unter Beweis zu stellen.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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