Tropus und Sequenz

Tropus

Tropus“ (griech. „tropos“ = „Wendung, Beschaffenheit“) meint als ein Haupttyp der rhetorischen Figuren schon in der Antike stilistisch schmückende, hervorhebende, verfremdende Umschreibungen von Wörtern und Begriffen: wie etwa der jüdische Rabbi Jesus als „Christus“ (= der Gesalbte = hebräisch „Messias“), als „Menschensohn“, als „Lamm Gottes“ („Agnus Dei“) usw. bezeichnet.

Der Tropus umschreibt, schmückt und kommentiert die geheiligten Melodien des „gregorianischen Chorals“. Dem Gebot, dass diese rituellen, liturgischen Melodien als solche nicht verändert werden dürfen, folgt das Prinzip der Tropierung: es fügt nur, gewissermaßen bescheiden und devot, Neues und Anderes ein, ohne die Melodien selber anzutasten. So wurde der sowieso schon riesige Melodienbestand erneuert und weiterentwickelt. Dabei gibt es folgende Hauptverfahren:

  • syllabische Textierung vorhandener Melismen,
  • Einfügen oder Anhängen neuer Verse mit eigenen Melodien,
  • rein melodische Erweiterung von Gesängen.

Die ältesten liturgischen Tropen stammen von dem St. Gallener Benediktinermönch NOTKER BALBULUS („der Stammler“, um 840–912). NOTKER schrieb etwa 40 Sequenzen-Dichtungen; dazu blieben 33 Melodieschemata erhalten. Sie waren z.T. bis ins 16. Jh. in Gebrauch. Rückblickend (nach 880) nennt NOTKER als Stichdatum das Jahr 851, in dem er zum ersten Mal Textierungen bzw. Tropierungen aus dem nordfranzösischen Kloster Jumièges kennen gelernt hatte.

Sequenz

Eine besonders produktive und entwicklungsfähige Sonderform des Tropus ist die Sequenz (von lat. „sequentia“ = „Folge“; musikalisch hat „Sequenz“ noch eine zweite Bedeutung: die Wiederholung eines Motivs auf einer anderen Tonstufe.)

Die Sequenz entwickelte sich zu einer eigenen Gattung der einstimmigen Musik. Der Text der Sequenz ist lateinisch. Sie beginnt als Textierung des oft außerordentlich ausgedehnten Alleluja-Schlussmelismas (des „Jubilus“, d. h. das aus dem Synagogal-Gesang übernommene wortlose Singen). Dieser Alleluia-Jubilus wurde im 9. Jh. unter anderem eben als „sequentia“ bezeichnet.

Die Sequenz wird dann

  • eine selbstständige Gattung innerhalb der Messe und
  • verkörpert zugleich eine Form der Dichtung.

Die „klassische“ Sequenz (etwa 840–1050) reiht melodisch gleiche Strophenpaare von wechselnder Länge. Sie sind textlich jeweils als Strophe und Gegenstrophe strukturiert. Statt des Reims gibt es die Assonanzbildung (Gleichklang nur der Vokale am Zeilenschluss). Die Melodik ist syllabisch.

Nach 1050 entwickelt die Sequenz einen regelmäßigen Akzentrhythmus mit Reimen. Die Melodien werden eingängig. Sie schließt sich damit nicht zuletzt an den ebenfalls neu gedichteten und metrisch regelmäßigen lateinischen Hymnus des 4. Jh. an (z.B. das „Te Deum“), der seit dem 5. Jh. auch gereimt war.

Besonders bekannt ist die spätere Reimsequenz (mit neu dazu komponierten Melodien), das „Dies irae“ aus dem 13. Jh. Es wurde ein Satz des Requiems, der Totenmesse.

„Dies irae, dies illa / solvet saeclum in favilla / teste David cum Sybilla.“

Es handelt sich um einen dreifachen Reim: a a a – ihm antwortet dann der dreifache Reim b b b. Es geht um das „Jüngste Gericht“:

„Tag des Zorns, jener Tag / löst die Welt in Asche auf / davon zeugt David mit der [prophetischen] Sibylle.“)

Im Unterschied zur zentralisierten und kanonisierten Ordnung der Choralgesänge ermöglicht die Sequenz lokale Eigenständigkeit und entsprechende „Ausschmückung“ des Gottesdienstes. Sie wurde ausgiebig wahrgenommen: der (Text-)Bestand umfasst mindestens 5 000 Stücke.

Das gegenreformatorische Konzil von Trient (1563 beendet) vereinfachte die Liturgie und reduzierte zunächst auch den musikalischen Aufwand, um der massenwirksamen Reformation etwas entgegenzusetzen. Die katholische Kirche verbot daher die Tropen und beschränkte die Sequenzen auf nur vier im Kirchenjahr:

  • „Victimae paschali laudes“ („Dem österlichen Opferlamm sei Lob“ – zu Ostern),
  • „Veni sancte spiritus“ („Komm, Heiliger Geist“ – zu Pfingsten)
  • „Lauda Sion“ und
  • „Dies irae“ (1972 als eigenständiges Stück im Kirchenjahreszyklus verboten).

Hinzugefügt als Teil des liturgischen Kanons wurde als Verstärkung des Marienkults 1727 das syntaktisch und verstechnisch raffiniert gebaute „Stabat mater dolorosa“, die Klage Marias unter dem Kreuz (Hymnus de passione = Passions-Hymnus). Textautor war JACOPONE DA TODI (1230–1306):

„Stabat mater dolorosa iuxta crucem lacrimosa,
dum pendebat filius;
cuius animam gementem, contristatam et dolentem,
pertransivit gladius.“

(„Die Schmerzensmutter stand weinend unter dem Kreuz / an dem ihr Sohn hing; / ihre seufzende, mittrauernde und schmerzende Seele / durchdrang ein Schwert.“)

Von den Sequenzen aus gibt es Querverbindungen zum Kirchenlied

  • für die Laien,
  • für die Gemeinde sowie
  • zu den geistlichen Spielen des Hoch- und Spätmittelalters (hier besonders Weihnachten und Ostern).

Die auf Weihnachten bezogene Sequenz „Quem pastores laudavere” („Den die Hirten lobten sehre“) aus dem 14. Jh. wurde ein Ausgangspunkt für ein gemischt deutsch-lateinisches Kirchenlied-Repertoire. Besonders bekannt ist bis heute „In dulci jubilo / Nun singet und seid froh“.

Eine mehrstimmige Erweiterung des Tropus ist dann die Motette. Sie entwickelte sich in der Notre-Dame-Zeit im südfranzösischen Kloster St. Martial und an der Kathedrale Notre Dame in Paris nach 1160 und wurde zu einer zentralen Gattung der französischen Spätgotik nach 1330 und der Frührenaissance um 1400. Das Prinzip der Tropierung erweitert sich hier auf die Vertikale der Mehrstimmigkeit.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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