Im 14. Jh. war Frankreich das Zentrum der Motettenkomposition. Die Motette ist eine der wichtigsten Gattungen mehrstimmiger Vokalmusik und verzeichnet ihre Anfänge im 13. Jh.
Der Ars-nova-Stil umfasste etwa die Zeit von 1320 bis 1380 und führte die Traditionen der spezifisch französischen Musik fort, wobei der vorherige Stil, die sogenannte Ars antiqua (alte Kunst), als Fundament und Ausgangspunkt genutzt wurde. Der Begriff „Ars nova“ bezieht sich auf die neue Kunst des Notierens von Musik und die damit verbundenen kompositorischen Möglichkeiten. Dieser Begriff ist allerdings auf die französische Musik begrenzt, da England und Italien eigenständige musikalische Traditionen führten.
Der Ars-nova-Stil setzte spätestens im zweiten Viertel des 14. Jh. den notationstechnischen Standard und konstituierte sich wesentlich innerhalb der Gattung der Motette, die ihr Zentrum an der Pariser Universität und am Pariser Königshof hatte. Ihr Themenspektrum war sehr breit:
Aus diesem Grund unterscheidet man verschiedene Arten der Motette wie
Nach 1350 komponierte Motetten sind zumeist politisch motiviert. Die Inhalte sind demnach weltlich und in der Beliebtheit der Motette zeigt sich der Aufbruch eines neuen weltlichen Musiziergefühls.
Formal zeichnet sich die Motette der Ars nova durch eine reiche Vielfalt in ihrer Anlage aus. Exakt festgelegte kompositorische Anforderungen dieser anspruchsvollen Gattung drücken sich
Als wesentliche Neuerung gilt die Gleichstellung der zwei- und dreizeitigen Untergliederung der Notenwerte:
Dass die Unterteilung in dreizeitige Notenwerte perfekt genannt wird, hängt damit zusammen, dass die Zahl drei ein Symbol für die Dreieinigkeit Gottes und somit heilig ist.
Das Gleiche gilt für den Rhythmus der Ars nova. Da die Notenform die Darstellung der Rhythmen angibt (diese Notationsweise nennt man Mensuralnotation), verdeutlichen Mensurzeichen einen Rhythmuswechsel:
Nun ist auch die Gleichstellung von zwei- und dreizeitiger Mensur möglich. Ein nur vorübergehender Mensurwechsel einer Stimme wird durch eine Rotkolorierung der jeweiligen Passagen verdeutlicht. Darüber hinaus werden durch die Erweiterung der Zahl der Mensurarten kleinere Notenwerte hinzugewonnen. Die Semibrevis kann in Minima und diese weiterhin in Semiminima geteilt werden.
Eine bedeutende Erweiterung ihrer Kompositionsart erfährt die Motette durch die von PHILIPPE DE VITRY (1291–1361) ausgebildete Isorhythmie, die bei GUILLAUME DE MACHAUT (um 1300–1377) ihren Höhepunkt erreicht. Von DE VITRY sind 13 Motetten überliefert, die sich durch Anwendung der Ars nova-Notation auszeichnen und die Herausbildung der Isorhythmie dokumentieren. 1322/1323 schreibt DE VITRY seinen als „Ars nova“ betitelten Traktat, der das neue Notationsverfahren systematisiert und diesem Stil seinen Namen gibt. Das Werk DE MACHAUTs bildet den Mittelpunkt der französischen Musik des 14. Jh. und gleichzeitig den Höhepunkt der mehrstimmigen Musik des französischen Mittelalters überhaupt. Sein Hauptschaffen konzentriert sich auf die 1340er-Jahre. Insgesamt schrieb er 23 Motetten.
Der isorhythmische Motettentypus wird im weiteren Verlauf der Entwicklung zum dominierenden Satzmodell. Man versteht darunter Tonsätze, in denen unabhängig von Melodie und Text ein rhythmisches Grundgerüst (talea) genau wiederholt wird. Hier setzt sich das Bestreben fort, musikalisch eigenständige, vom Text autonome Strukturen zur Grundlage der Gestaltung zu machen. So werden
unabhängig voneinander miteinander kombiniert, wobei sich die melodischen und die rhythmischen Phasen überschneiden. Beispielsweise können zwei Colores auf drei Talea aufgeteilt werden.
An Bedeutung gewinnt in diesem Fall die Anlage der Oberstimme in Phasen gleicher Länge, denn grundlegend war nur der Tenor von diesem Stilmerkmal betroffen. Dieser bestimmt Länge, Aufbau, Tonart und Inhalt der Motette und somit werden Text und musikalische Gestaltung der Oberstimmen im Blick auf den Tenor konzipiert. Mithilfe eines rhythmischen Schemas (talea) wird dabei ein- oder mehrmals eine vollständig durchgeführte Tenormelodie (color) wiederholt. Findet zum Ende der Komposition kein Ausgleich der Stimmen statt, so kann durch das Hinzufügen einer perfekten bzw. imperfekten Mensur die Tenormelodie in verkürzter (Diminution) bzw. verlängerter Form (Augmentation) wiederholt werden. Die meisten Ars nova-Motetten haben jedoch einen Diminutionsteil.
Ebenfalls von Bedeutung ist die Einführung einer mit dem Tenor isorhythmisch verknüpften zweiten Unterstimme (Contratenor). Nun bilden Vierstimmigkeit und eine vollständig isorhythmische Anlage zunehmend die Regel.
Die isorhythmische Motette stellt den Gipfel an rationaler Strukturiertheit dar und schafft den Ausgleich zu der ausdrucksstarken Melodik und der gesteigerten harmonischen Farbigkeit der Kompositionen. Bereits um die Jahrhundertmitte ist mit GUILLAUME DE MACHAUTs Motette „Amors/Fasus Semblant“ ein Beispiel einer vollständig isorhythmisch durchgestalteten Komposition belegbar.
Ferner wird die Motette durch das Kompositionsprinzip der Isoperiodik – der Einteilung in gleiche Perioden – verfeinert. Um auch die Oberstimmen in eine dem Tenor entsprechende Ordnung zu bringen, stimmte DE VITRY deren Periodenbau über den einzelnen Tenorabschnitten aufeinander ab. Das geschieht mittels Zäsuren (Pausen), die stets an der gleichen Stelle erscheinen, wobei kleine Abweichungen möglich sind. Dieses Prinzip nimmt keine Rücksicht auf das melodische Material, z.T. nicht einmal auf den Text. Ein Beispiel hierfür ist die Machaut-Motette „Trop plus-Biauté – Je ne suis“ (Triplum-Motetus-Tenor).
Mit der Motette der Ars nova steht die französische Musik in der Geschichte der artifiziellen Mehrstimmigkeit des Mittelalters jahrhundertelang im Mittelpunkt. Ab etwa der Jahrhundertmitte nimmt die Motettenproduktion am Pariser Königshof jedoch stark ab. Einerseits ist ein bedarfsdeckendes Repertoire vorhanden, andererseits verlagert sich das kompositorische Schwergewicht auf das mehrstimmige Lied und die Motette wird damit zur Gelegenheitskomposition.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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