Entwicklung der Musikwissenschaft

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Musik

Der Begriff „Musikwissenschaft“ ist zusammengesetzt aus zwei Wörtern: „Musik“ und „Wissenschaft“. Um den Beginn der Entwicklung der Musikwissenschaft herauszufinden, müssen deshalb beide Termini näher untersucht werden.

Schon in der Antike beschäftigte man sich mit der Erforschung der Grundlagen der „Musik“. Im 6. Jh. v.Chr. gab es physikalische Berechnungen zu Intervallen durch PYTHAGORAS (ca. 570–500 v.Chr.), auf die sich das griechische Tonsystem und die geordnete Aneinanderreihung von Tönen stützte. Solche Tonleitern werden bspw. im Musikkapitel von PLATONs (um 428–347 v.Chr.) „Politea“ („Der Staat“) beschrieben.

Die Erforschung physikalischer und mathematischer Eigenschaften von Klängen und Tönen wurde im Mittelalter fortgeführt. Die Musik zählte als theoretisches Fach zu den vier mathematischen Disziplinen:

  • Arithmetik,
  • Geometrie,
  • Astronomie und
  • Musik

(Quadrivium) der „sieben freien Künste“ (septem artes liberales). Dabei wird das Wort „Kunst“ nicht im heutigen Sinne verstanden. Es steht für wissenschaftliche Kenntnisse, die die eigentliche Bildungsgrundlage des „freien“ Mannes ausmachten.

Die neu gewonnenen theoretischen Erkenntnisse fanden seit dem 14. Jh. immer mehr Bezug zur praktischen Musikausübung. Die Musik orientierte sich nun an den sprachlichen Disziplinen:

  • Grammatik,
  • Rhetorik,
  • Dilaktik

(Trivium) der „sieben freien Künste“. Auch heute noch gehören die sprachwissenschaftlichen Arbeitsweisen zu den wichtigsten Methoden der Musikwissenschaft.

Der eigentliche „Wissenschafts“-Begriff ist erst seit dem 16./17. Jh. im deutschen Sprachraum nachweisbar. Er entspricht dem lateinischen „scientia“ und steht für ein geordnetes, in sich zusammenhängendes Gebiet von Erkenntnissen. Dies ist also der frühestmögliche Zeitpunkt, von Musikwissenschaft als einem tatsächlichen Wissenschaftsgebiet zu sprechen.

Musik blieb aber noch lange Zeit ein bloßes Teilgebiet übergeordneter Wissenschaftsbereiche. Als eigenes wissenschaftliches Fach wurde sie erst im 19. Jh. begründet.

Vielschichtigkeit des Faches Musikwissenschaft

Als Musikwissenschaft wird die Gesamtheit der Fachgebiete und Methoden verstanden, die sich mit allen musikalischen Phänomenen auseinandersetzen. Dazu gehören u.a. Untersuchungen auf den Gebieten

  • der Akustik,
  • der Wahrnehmung,
  • der Komposition,
  • der Geschichte,
  • der Aufführungspraxis,
  • der Musiktheorie

sowie Methoden

  • theoretischer,
  • analytischer,
  • experimenteller oder
  • statistischer Art.

Allein diese Auswahl zeigt den breit gefächerten Umfang der Musikwissenschaft. Eine gesamte Darstellung der Geschichte der Musikwissenschaft würde an sich eine Gesamtschau aller Fachgebiete bedeuten. Doch diesem Anspruch kann man kaum gerecht werden.

Deshalb wird die geschichtliche Entwicklung der Musikwissenschaft auf einen bestimmten Zeitraum eingegrenzt. Sie beginnt mit der Herausbildung des modernen Wissenschaftsbegriffs in der Aufklärung.

Musikwissenschaft als selbständiges Fachgebiet

Der Begriff „Musikwissenschaft“ erschien zum ersten Mal 1827 bei JOHANN BERNHARD LOGIER (1777–1846) im Titel seines Werks „System der Musik-Wissenschaft und der praktischen Komposition“. Zu diesem Zeitpunkt befasste sich das Fach fast ausschließlich mit Musik in ihrer historischen Entwicklung. Erst ab 1885 setzte sich die Bezeichnung Musikwissenschaft vollständig durch.

Seit diesem Jahr werden auch die Fachgebiete Akustik und Tonpsychologie in ihrem vollen Umfang zur Musikwissenschaft gezählt. Außerdem erschien ab 1885 die „Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“, die im schon in ihrem Titel die Bezeichnung Musikwissenschaft trägt. Im selben Jahr legte GUIDO ADLER (1855–1941) die Trennung zwischen einem historischen und einem systematischen Bereich fest.

Die Entstehung der Musikwissenschaft als eigenständiges Fachgebiet wurde durch weitere Aspekte stark gefördert:

  1. die Entstehung von Lehrstühlen an Universitäten ab 1861,
  2. das Aufkommen von Zeitschriften („Vierteljahrsschrift für Musikwissenschaft“ ab 1885 u.a.),
  3. die Gründung von musikwissenschaftlichen Gesellschaften (beispielsweise die „Gesellschaft für Musikforschung“ 1868–1906),
  4. die Erschließung alter Quellen nach sprachwissenschaftlichen Gesichtspunkten und
  5. die Entstehung von musikalischen Nachschlagewerken (z.B. „A Dictionary of Music and Musicians“, 1879–1889 von GEORGE GROVE, 1820–1900)

Die Entwicklung der Historischen Musikwissenschaft

Die Historische Musikwissenschaft befasst sich – wie der Name schon andeutet – mit der Geschichte der Musik von der Antike bis zur Gegenwart.
In der Entwicklung dieses Fachbereichs lassen sich drei verschiedene Herangehensweisen unterscheiden.

  • Es wurde versucht, die Musikgeschichte in ihrem gesamten Verlauf darzustellen. Die ersten Ansätze finden sich in JOHANN NIKOLAUS FORKELs (1749–1818) Werk „Allgemeine Geschichte zur Musik“ (1788 und 1801, unvollständig). Kennzeichnend für das 19. und frühe 20. Jh. ist, dass man sich schrittweise erst einmal bis zum Mittelalter herantastete. Eine erste wirklich umfassende Musikgeschichte lieferte der Österreicher RAPHAEL GEORG KIESEWETTER (1773–1850) mit seinem Werk: „Geschichte der europäisch-abendländischen oder unserer heutigen Musik“ (1834).
     
  • Zugleich begannen die Musikwissenschaftler, sich auf einzelne Musikerpersönlichkeiten zu konzentrieren. Es entstanden die ersten Biografien von Komponisten. Sie beschrieben das Leben, das Werk und das historische Umfeld des jeweiligen Musikers.
     
  • Eine dritte Herangehensweise in der historischen Musikwissenschaft ist das Auflisten aller Werke eines Komponisten. Sogenannte Werkverzeichnisse wurden geschrieben. Ein bekanntes Beispiel bietet die Verzeichnisse der Kompositionen WOLFGANG AMADEUS MOZART (1756–1791) durch den österreichischen Gelehrten LUDWIG ALOIS FRIEDRICH VON KÖCHEL (1800–1877).

Durch bedeutende Musikwissenschaftler des beginnenden 20. Jh. wurden die bis dahin gewonnenen Erkenntnisse zu einzelnen Epochen oder Musikbereichen noch näher untersucht.

  • Das Interesse an musikalischen Gattungen und ihrer Geschichte weckte HERMANN KRETZSCHMAR (1848–1924) mit seinem „Führer durch den Konzertsaal“ (erschienen ab 1887).
     
  • GUIDO ADLER (1855–1941) versuchte mit seinem Buch „Der Stil der Musik“ (1911) eine Stilgeschichte nachzuzeichnen.
     
  • ARNOLD SCHERING (1877–1941) untersuchte die symbolische Bedeutung von bestimmten Tonfolgen. Sein Hauptschwerpunkt lag im Werk von JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750).
     
  • Der wohl bedeutendste Repräsentant der Musikwissenschaft in Deutschland war in seiner Zeit HUGO RIEMANN (1849–1919). Er trieb die Methodik der Forschung voran, diskutierte aufführungspraktische Probleme und gab der musiktheoretischen Analyse einen neuen Stellenwert.

 

Die Entwicklung der Systematischen Musikwissenschaft

Die Systematische Musikwissenschaft beschäftigt sich mit den physikalischen, physiologischen, psychologischen Aspekten der Musik. Vielfach ist ihr auch die Musikästhetik zugeordnet.

Die Entwicklung einer Systematischen Musikwissenschaft ist zu Beginn des 20. Jh. in Berlin anzusetzen. Durch

  • CARL STUMPF (1848–1936) und seine Schüler
  • ERICH MORITZ VON HORNBOSTEL (1877–1935) sowie
  • OTTO ABRAHAM (1872–1926) wurden die Forschungen in der Musikpsychologie vorangetrieben.
  • CURT SACHS (1881–1959) gilt als der damals wohl wichtigste Instrumentenkundler.

Entwicklung der Vergleichenden Musikwissenschaft

Die Vergleichende Musikwissenschaft (Musikethnologie bzw. Ethnomusikologie) beschäftigt sich mit den Musikkulturen der Welt und ihrem Vergleich.
Sie entwickelte sich um 1900 mit dem Ziel, „schriftlose Kulturen“ und die Musik außereuropäischer Völker zu erforschen. Als Begründer gelten

  • CARL STUMPF und
  • ERICH MORITZ VON HORNBOSTEL,

die als Herausgeber der „Sammelbände für Vergleichende Musikwissenschaft“ (1922/1923) dem Fach wichtige Impulse vermittelten. Mit der Emigration der wichtigsten deutschen Musikforscher nach 1933 in die USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg entfaltete sich das Fach der Vergleichenden Musikwissenschaft zunächst an den amerikanischen Universitäten, bevor es in den 1960er-Jahren mit der Einrichtung entsprechender Lehrstühle auch in Deutschland wieder Fuß fasste.

Die Entwicklung der Musiksoziologie

Die Musiksoziologie widmet sich den gesellschaftlichen Voraussetzungen, die zur Entstehung einzelner Musikrichtungen, -formen, -gattungen usw. führen. Dazu zählt u.a. auch die Erforschung und Entwicklung musikalischer Bedürfnisse.

Ursprünglich war die Musiksoziologie ein Teilgebiet der Systematischen Musikwissenschaft. Die Entwicklung zu einem eigenständigen Teilbereich der Musikwissenschaft begann in den 1920er-Jahren bei PAUL BEKKER (1882–1937). Die frühen 1930er-Jahre sind bestimmt durch Personen, wie

  • HEINRICH BESSELER (1900–1969, „Grundfragen des musikalischen Hörens“, 1925),
  • EBERHARD PREUSSNER (1899–1964, „Die bürgerliche Musikkultur“, 1935) und
  • THEODOR WIESENGRUND ADORNO (1903–1969, „Zur gesellschaftlichen Lage der Musik“, 1932).

Die vollständige Ausbildung zu einem selbstständigen Fach der Musiksoziologie fand erst nach dem Zweiten Weltkrieg statt.

Musikwissenschaft nach 1945

Nach 1945 vergrößerte sich das Feld der Musikwissenschaft enorm. Immer mehr Musikwissenschaftler arbeiteten und studierten an immer mehr musikwissenschaftlichen Einrichtungen. Das beschränkte sich nicht nur auf Europa. Außerdem wurden neue Gegenstände erforscht und neue Methoden entwickelt. Bereits bekannte Dinge mussten einer genaueren Betrachtung standhalten. Diese quantitative und qualitative Ausweitung des Fachs brachte eine ständig wachsende Erkenntnis über die Musik mit sich.

Als Folge dieser beschriebenen Ausdehnung und Verfeinerung wurden die Musikwissenschaften in Teildisziplinen aufgegliedert. 1953 setzte sich die von FRIEDRICH BLUME (1893–1975) in Anknüpfung an GUIDO ADLER vorgeschlagene Aufteilung in drei Hauptbereiche durch. Er unterschied zwischen:

  • Historischer Musikwissenschaft (Musikgeschichte),
  • Systematischer Musikwissenschaft (Musikästhetik, Musiksoziologie) und
  • Vergleichender Musikwissenschaft (Ethnomusikologie, Musikanthropologie).

HANS-HEINZ DRÄGER (1909–1968) führte neben den genannten Bereichen noch eine Angewandte Musikwissenschaft (Musikkritik, musikalische Technologie) auf.

Als Reaktion auf die zunehmende Bedeutung populärer Musik in der zweiten Hälfte des 20. Jh. entstand Anfang der 1980er-Jahre die Popmusik-Forschung als eigenständiger Zweig der Musikwissenschaft. Sie beschäftigt sich insbesondere mit der Rock- und Popmusik, ihren gesellschaftlichen Hintergründen und den Technologien der Klangerzeugung. Damit greift sie auf historische, soziologische und systematische Fragestellungen zurück.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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