- Lexikon
- Musik
- 1 Musik als Kunst, Bildung und Wissenschaft
- 1.4 Interkulturelle Musikbetrachtung
- 1.4.1 Musik verstehen im interkulturellen Kontext
- Beobachten, Befragen, Protokollieren: Musikalische Handlungen als Gegenstand der Dokumentation
Die zentralen Tätigkeiten des Ethnografen lassen sich mit Kategorien des (teilnehmenden) Beobachtens, Befragens und Protokollierens umreißen, wobei das Aufzeichnen mittels digitaler Klang- oder Videogeräte als Sonderform des Protokollierens, d.h. als instrumentell vermittelte Beobachtung verstanden werden kann. Wenn man sich anschickt, Musik, Tanz oder Gesang zu beschreiben, so stützt man sich bewusst oder unbewusst auf eine bestimmte Verfahrensfrage. Gefragt wird nach der Motivation eines bestimmten musikalischen Handelns. Man setzt sich mit den Absichten, Zielvorstellungen und Motiven des Musizierens, Tanzens und Singens auseinander, um verstehen zu können, warum eine spezifisch musikalische Handlung vollzogen wird.
Was ist der Zweck (Z), die Absicht bzw. das Handlungsziel der Musiker? Welche musikalische Handlung oder Performanz wird als Mittel (M) eingesetzt und welche Schlussfolgerung (Conclusio C) wird daraus gezogen?
An einem Fallbeispiel, einem Tanz bolivianischer Indios aus dem Andenhochland, soll dies veranschaulicht werden:
Gesangstext (aus dem Aymara übersetzt):
Transkriptionsbeispiel Chokela-Tanz: 12 Kerbflötenspieler, begleitet von einer mit einem Schlägel geschlagenen Trommel (caja)
Kommentar zum Hörbeispiel chokela:
Die 12 Kerbflöten (Chokelas, Quenas) und die große Trommel (Caja oder Bombo) werden von 13 Musikern gespielt und begleiten 11 Tänzerinnen und weitere vier Tänzer sowie den Gesang von vier Frauen und einem Mann.
Die Choquela ist dem Typus nach eine Quena-Kerbflöte aus Bambusrohr mit einer Kerbe als Aufschnitt, 6 vorderständigen und einem hinterständigen Griffloch. Die Kerbe hat einen v- oder u-förmigem Aufschnitt (ähnlich ist das Prinzip der japanischen Shakuhachi). Die große und die kleiner Flöte ist im Abstand einer Quinte gestimmt (vgl. hierzu die parallelen Quintenklänge im Hörbeispiel 1).
Set eines Kerbflöten-Ensembles des Andenhochlandes
Die Musik stammt aus der Aymara sprechenden Gemeinde Llaura Llokolloko in der Provinz Pacajes (Department von La Paz).
Der Aymara-Tanz ist ein Bändertanz (danza de cintas) und wird als musikalische Opfergabe der als „Mutter Erde" verehrten Pachamama dargebracht. Musiker, Tänzerinnen und Tänzer tanzen im Kreis um einen in der Mitte stehenden Pfahl. Von diesem gehen rote, grüne und gelbe Bänder aus, die von den Tanzenden mit einer Hand gehalten werden und so wie die Speichen eines Rades ein Netz bilden. Die Bänder werden während des Tanzens miteinander durch geschicktes Überkreuzen verflochten, sodass an dem oberen Ende der Pfahlspitze ein kunstvolles Bändergeflecht entsteht, das man das Auge des Puma (puma naira) nennt. Das mythologische Symbol bezeichnet Stärke und Fruchtbarkeit. Das Netz repräsentiert zugleich das Jagdnetz, mit dem die wild lebenden Vicuñas (kleinwüchsige Lamas) der feinen Wolle wegen zum Scheren eingefangen werden. Der Trommler ist als Fuchs (k'usillo) verkleidet, der für die Jungtiere der Vicuñas ständig eine drohende Gefahr darstellt.
War der Tanz früher ein Tanz der Jäger und Sammler, der – wie vermutet wird – ein alter Ritus aus dem Tiwanaku-Gebiet in der Region um den Titicacasee darstellt, so hatte er in der Kolonialzeit einige Veränderungen erfahren. Seine Bedeutung liegt inzwischen vor allem darin, der „Mutter Erde“ Dankesopfer darzureichen (Prinzip des Gebens) und eine Bitte um Regen für das Ackerland auszudrücken. Auf dem Höhepunkt des Tanzes werden neben Musik, Tanz und Gesang Pachamama weitere Opfergaben wie Coca-Blätter, Maisbier (chicha), Weihrauch (q'oa) in allen vier Himmelsrichtungen dargereicht und mit der Bitte verknüpft, Pachamama möge auch im nächsten Jahr eine gute Ernte schenken (Prinzip des Nehmens).
Bändertanz und tanzender Kerbflötenspieler
Beobachtet wird vorerst eine musikspezifische Handlung als Conclusio. Im vorangehenden Beispiel ist es die fortschreitende Tanzhandlung der chokela (C), die man als Außenseiter mit eigenen Augen und eigenen Ohren beobachten und hören kann. Das Beobachten und Hören von Musik und Liedtexten alleine gibt allerdings noch keine Auskunft darüber, wozu der Tanz dient, in welchem kulturspezifischen Kontext die musikalische Handlung vollzogen wird und welche Funktion er innerhalb eines Mittels zum Zweck erfüllt.
Über die empirisch beobachtbare Conclusio wird der Ethnograf deshalb zur Befragung der Musiker-Gruppe fortschreiten, um in Interviews zu erfahren, dass mit dem Mittel der Pachamama-Verehrung (M), der von der Gruppe beabsichtigte Zweck erreicht werden soll, den notwendigen Regen zur Subsistenzsicherung für die nächste Anpflanzzeit zu erhalten (Z).
Die ethnomusikologische Feldforschung unterscheidet demnach die drei Ebenen des Beobachtens, Befragens und (interpretierenden) Verstehens.
Es ist wichtig, in der Ethnografie diese einzelnen Schritte auseinander zu halten, um den ganzen Zusammenhang des Erklärens bzw. Verstehens im Hinblick auf die Aussagekraft vor Augen zu haben.
Beobachten – Befragen – Verstehen
Protokollsätze oder Protokollaussagen sind Aussagen, welche das Vorkommen von Phänomenen, d.h. von sinnlich beobachtbaren Ereignissen feststellen. Sie gehen aus der Beobachtungssituation des Feldforschers hervor. Eine Protokollaussage enthält empirisch überprüfbare Angaben zur musikalischen Handlung wie Zeitkoordinaten; Raumkoordinaten; Umstände; Beschreibung des Phänomens. In der Praxis enthält sie zudem noch den Namen des Beobachters. Um die Protokollaussage in eine etwas praktikablere und systematische Form zu bringen, kann man diese mit wenigen Abkürzel wie folgt umreißen:
Wer kommt mit Wem zusammen, um Wann, Wo und mit Was, Welche musikalische Handlung zu vollziehen?
Beispiel eines einfacher Protokollsatzes (bzw. Basissatzes aus der Beobachtung des oben erwähnten Chokela-Tanzes):
Selbstverständlich wäre jede einzelne Protokollaussage noch detaillierter zu fassen. So könnte zu jedem einzelnen Fragepunkt die Einzelbeobachtung exakter in eine Folge von Aussagen gegliedert werden, wie etwa zur Beobachtung des ungefähren Alters der Tänzerinnen und Tänzer; ihre Trachten können in einfachsten Aussagesätzen beschrieben, die Zeit kann genauer angegeben, der Ort der Handlung präziser bestimmt werden; die Musikinstrumente können im Detail gezeichnet und abgemessen sowie die einzelnen Tanzschritte und Tanzfiguren aufgelistet werden usw.
Schon diese kurzen Hinweise genügen, um anzuzeigen, dass im strengen Sinn Protokollaussagen nie das Ganze der Ereignisse vermitteln können, da sie schon durch die selektive Wahrnehmung eine Eingrenzung vornehmen. Der Protokollsatz ist im besonderen das Ergebnis von Einzelwahrnehmungen, die unter dem Gesichtspunkt aufgezeichnet werden: Was ist der Fall?
Protokollsätze sind noch keine Erklärungen, sie geben noch keine Auskunft auf die Frage: Warum ist etwas der Fall? Protokollsätze sind die Ergebnisse wiederholter Wahrnehmungen. Innerhalb der ersten Phase der Datenerhebung, aus welcher sich die Ergebnisse der Protokollsätze herleiten, kann folgender Aufbau festgestellt werden:
Wahrnehmen – Beobachten – Protokollieren
Protokollsatz: Wer kommt mit Wem zusammen, um Wann, Wo und mit Was, Welche musikalische Handlung zu vollziehen?
„Allem Anschein nach muss nämlich jede Wissenschaft am Anfang erkunden, was der Fall ist, ehe sie sinnvoll fragen kann, warum es sich so und nicht anders mit ihm verhält“ (ELISABETH STRÖKER 1973).
Beobachtungsdaten gehören in der Feldforschung zu den konstituierenden Elementen, mit denen man erst auf die Idee kommt, was innerhalb der wissenschaftlichen Tätigkeit erklärt bzw. verstanden werden soll.
Mit dem Umreißen der notativen Betrachtungsebene als eine Form des protokollierenden Beobachtens von sinnlich wahrnehmbaren Ereignissen können zwar Tanzbewegungen beschrieben, Hörbares in Sprache oder Transkriptionen umgesetzt und einzelne musikalische Phänomene in Aussagen wiedergegeben werden, ohne dass man das Beobachtete deshalb auch verstehen müsste. Auf die Frage, warum etwas der Fall ist, geben die aufgelisteten Beobachtungen in den wenigsten Fällen Auskunft, da es eine Frage nach der Motivation menschlichen Handelns ist und diese ist nur durch Befragen der Musiker feststellbar.
Bei dem oben erwähnten bolivianischen Bändertanz kann man den Formverlauf, die Instrumente, die gespielt werden, und alle weiteren Ereignisse beobachten. Doch was der Trommler zur Begleitung der Kerbflöten in seiner Verkleidung bedeutet, ist nicht beobachtbar, ebenso nicht die einheimische Terminologie der Instrumente und die musikalischen Konzepte der Musiker, geschweige denn was das der Zweck des Musikmachens darstellt. Es ist zwar möglich, den maskierten Trommler mit unseren Beobachtungsbegriffen als „teufelähnliche Gestalt“ zu beschreiben. Aber bereits diese Art der Beschreibung bewirkt eine inhaltliche Aussage, die nicht zutreffend ist.
Die aus einem eurozentrischen Verständnis heraus als „teufelähnliche Gestalt“ interpretierte Tanzfigur entpuppt sich nach der Befragung im fremdkulturellen Kontext als „Fuchsgestalt“ (k'usillo).
Hier muss die Befragung auf die fremdkulturelle Ebene hinzielen, um einerseits den intentionalen Begriff für die „teufelähnliche Gestalt“ zu erhalten und den Begriff mit kulturadäquaten (emisch verstandenen) Inhalten zu füllen. Erst auf diese Weise wird offenbar, dass die vollzogene Beobachtung unter einer falschen Prämisse stattgefunden hatte, dass dieser „teufelähnliche“ Tänzer in Tat und Wahrheit einen k'usillo repräsentiert, einen Fuchs.
Die Beobachtungen in einer fremden Kultur können mit der Befragung von Informanten und über den Erfahrungsbereich innerhalb der entsprechenden Kultur richtig verstanden werden, da Wahrnehmen und Beobachten letztlich auch auf kulturspezifischen Konventionen beruhen. Beobachtungen im fremdkulturellen Umfeld werden im Hinblick auf die Motive des musikalischen Handelns erst dann richtig interpretierbar, wenn die Befragung der Informanten (Musiker) nach deren Intentionen hinzutritt. Ziel der intentionalen Betrachtungsebene muss es demgemäss sein, mit den Augen und Ohren der anderen Kultur beobachten und hören zu lernen. Diese Idealvorstellung wird vermutlich in den wenigsten Fällen eingehandelt werden, ist aber vorerst anzustreben. Mit der intentionalen Betrachtungsebene wird im Grunde genommen das gesamte musikalische Konzept der Fremdkultur in ihrem eigenen Begreifen und Denken zu Worte gebracht (kulturimmanente bzw. emische Betrachtungsebene).
Tänzer in der Maske eines k’usillo anlässlich eines Tanzes zu den Klängen eines Kernspaltflötenensembles
Das anglo-sächsische „Seeing is believing“ („Was ich sehe, an das glaube ich“) hat immer schon auf eine allzu unkritische Hinnahme des Sehens bzw. Beobachtens verwiesen. MELVILLE J. HERSKOVITS hatte das kulturspezifische Vorverständnis schon im simplen „Beobachten“ auf markante Weise thematisiert, wenn er schreibt:
„Mehr als ein Völkerkundler hat von der Erfahrung berichtet, die er machte, wenn er eine scharfe Fotografie eines Hauses, einer Person, einer vertrauten Landschaft Menschen zeigte, die in einer Kultur lebten, die keinerlei Kenntnis von der Fotografie besaß. Sie berichteten, wie der Eingeborene bei seinem Versuch, dieses für ihn bedeutungslose Arrangement verschiedener Grauschattierungen auf einem Stück Papier zu interpretieren, sich das Bild in den verschiedensten Blickwinkeln vor Augen gehalten habe, wie er es sogar umgedreht habe, um die Rückseite zu inspizieren. Denn selbst die schärfste Fotografie ist nur eine Interpretation dessen, was die Kamera sieht.“
(vgl. MELVILLE J. HERSKOVITS, Man and His Works, New York 1948).
Wir interpretieren und verstehen die Welt nicht nur mit einem mentalen, sondern auch mit einem inzwischen technologisch bestimmten Auge und sind zugleich eingewoben in den subtilen „Brainwash“ der eigenkulturellen Konstrukte, aber auch der szientistischen Paradigmata wissenschaftlicher Communities, die über Leitbilder funktionieren. Über Leitbilder wirken verstärkt auch gruppenspezifische und massenmediale Einwirkungen, seien diese nun größere oder kleinere Ideologiekonstrukte wie etwa jene von „Wahrheit und Methode“ oder von besonderen „Leitkultur“-Anmaßungen religiöser, politischerer oder ästhetischer Prägung.
Musikakteure im Aushandeln von musikalischen Bedeutungen, Werten und Konzepten
Zur Befragung von Musikerinnen und Musikern, Musikgruppen, Musikorganisatoren oder Zuhörergruppen werden im Allgemeinen standardisierte, halbstandardisierte oder offene Interviews durchgeführt. Um Antworten vergleichen zu können, ist es notwendig, den gleichen Fragebogenkatalog einzusetzen.
Zu den zentralen Interviewfragen innerhalb von Feldforschungsdokumentationen gehört die Fokussierung auf einzelne Musikakteure, die im kommunikativen Interaktionsfeld zueinander stehen:
Diese und weitere Fragen gehören zum Kernbestand von Interviews.
Die folgenden Formblätter sollen als kleine Anregung zur musikalischen Feldforschungsdokumentation in der eigenen Umgebung anregen.
Je nach Situation und Vorhaben können die einzelnen Fragen übernommen, abgeändert oder erweitert werden.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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