Die Kantate ist ein Werk für Gesang und Instrumentalbegleitung, welches in der Regel mehrere Sätze (Rezitative, Arien, Chöre, Instrumentalritornelle) umfasst. JOHANN SEBASTIAN BACH (1685–1750) schrieb im Laufe seiner Amtszeiten in Weimar, Köthen und Leipzig insgesamt fünf Zyklen á 59 Kantaten, die einen Höhepunkt in der Geschichte dieser Gattung bilden. Sie gehen von zeitüblichen Texten und Formen aus und weisen eine hohe Qualität der kompositorischen Struktur und eine außerordentliche Vielfalt der Formenkombination auf. Sein Werk lässt sich in
unterteilen und sein Schaffen stand stets in Verbindung mit seinen Amtspflichten als Konzertmeister, Kapellmeister oder Kantor.
Anfang Juli 1708 wurde BACH als Hoforganist am Hof des Herzogs WILHELM ERNST ZU WEIMAR (1662–1728) eingestellt. Nachdem er 1714 zum Konzertmeister ernannt wurde, begann auch sein regelmäßiges Weimarer Kantatenschaffen. In den zwei Jahren bis 1716 komponierte er knapp 30 Kirchenkantaten, denn er war verpflichtet, in vierwöchigem Abstand eigene Kantaten aufzuführen. Die Serie begann am Palmsonntag 1714 und endete am 4. Advent 1716. Eine Reihe von Werken gilt jedoch als verloren.
BACH verwendete hier zum ersten Mal den Text-Typus der „neueren Kirchenkantate“, den er von dem Theologen ERDMANN NEUMEISTER (1671–1756) übernahm. NEUMEISTER führte die aus der Oper stammenden Satztypen Rezitativ und Dacapo-Arie in die Kirchenkantate ein, was eine Bereicherung bedeutete und BACH kompositionstechnisch vor neue Aufgaben stellte.
Das Kantatenrepertoire wurde größtenteils auf Texte des Weimarer Hofdichters SALOMO FRANCK (1659–1725) geschrieben. Seine formal kunstvollen und an Bildern und Gefühlen reichen Dichtungen boten die ideale Grundlage für die Entfaltung von BACHs Kantatenkompositionen in allen Typen. Ein Beispiel hierfür ist „Nun komm, der Heiden Heiland“ (1714). Bach versuchte, Einzelwerke in große zyklische Konzeptionen einzubetten, denn er zielte auf die Komposition eines geschlossenen Jahrgangs ab. Das Vorhaben gelang jedoch nur ansatzweise.
Anfang Dezember 1717 übersiedelte BACH nach Köthen, um dort seine Stellung als Kapellmeister des kleinen Fürstentums Anhalt-Köthen anzutreten. Die Kirchenkantate trat zurück, da diese an einem reformierten Hof keinen Ort hatte. BACH komponierte zur Ausgestaltung von Feierlichkeiten nur noch weltliche Kantaten, von denen zwischen 1717 und 1723 dreizehn entstanden. Diese konzentrierten sich auf Rezitativ und Arie, unterschieden sich nach ihrer Besetzung und beinhalteten Variationen je nach Zahl und Stellung der Sätze. Es dominierte das Genre der weltlichen Huldigungskantate, Anlässe waren Fürstengeburtstage und das Neujahrsfest.
Nur für zwei dieser Werke sind Text und Musik erhalten:
Fast alle dieser Kantaten hat BACH dann in Leipzig als Kirchenkantaten wiederverwendet und so wurde z.B. aus der „Durchlauchtester Leopold“ die Leipziger Kantate zum 2. Pfingstfeiertag „Erhöhtes Fleisch und Blut“ (1724).
In Köthen entstand ein spezifischer Kantatentypus. Entsprechend den Kapellverhältnissen wurden der solistische Gebrauch der ersten Violine sowie der Einsatz zweier Flöten bevorzugt. Außerdem fehlte der Choral, da nur ein bescheidener Chor zur Verfügung stand und somit der Chorgesang stark zurücktrat. Aufgewogen wurde dieser Typus durch neue Formen des solistischen Gesangs, insbesondere durch den Rezitativ-Dialog und das cantable Dialog-Duett sowie durch die Aufnahme von Tanzformen in die Kantatenkomposition:
BACHs weltlichen Kantaten weisen besonders in der musikalischen Gestaltung weitgehende Analogien zur Kirchenkantate auf.
BACHs wichtigste und bedeutendste Station war Leipzig. Als Thomaskantor und Musikdirektor war er seit 1723 für die vokale Kirchenmusik an den vier Leipziger Stadtkirchen verantwortlich. Nun rückte die Kirchenkantate wieder in das Zentrum kompositorischer Arbeit. Zu BACHS Aufgaben gehörten die Leitung des Thomaschors und die musikalische Ausstattung der Gottesdienste. Dazu erklangen Sonn- und Feiertags jeweils eine Kantate, von denen jährlich rund 60 fast ausschließlich eigens komponierte aufgeführt wurden. Hin und wieder war eine Kantate zweiteilig (z. B. BACHs erste Leipziger Kantaten BWV 75 und 76), dann wurde der zweite Teil nach der Predigt musiziert. In dieser Funktion konnte auch eine zweite Kantate aufgeführt werden. An Festtagen wurde die Hauptmusik des Vormittags zur Vesperpredigt am Nachmittag wiederholt.
Im Leipziger Kantatenschaffen BACHs war zwischen den einzelnen Jahrgängen zu unterscheiden. Das erste Jahr (1723) bekundete eine große Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten. Der Grundtypus war die „gemischte Kantate“, eine Kombination von madrigalischen Texten, die als Rezitativ und Arie komponiert wurden, mit den traditionellen Texttypen Bibelwort und Choral. Die meisten Werke wurden durch die Vertonung eines Bibeltextes (meist aus der Lesung des betreffenden Tages) und einen Choral gerahmt. Dazwischen standen vier bis fünf Sätze in der Folge
Im ersten Kantatenjahr entwickelte und festigte sich der Typus des vierstimmigen Choralsatzes, der meistens am Werkende stand. Dieser wurde später „Bachchoral“ genannt und manifestierte sich zum satztechnischen Modell. In der Leipziger Anfangsphase gestaltete BACH den Schlusschoral regelmäßig in erweiterter Form mit selbstständigem Instrumentalteil, der später durch einen reinen vierstimmigen Choralsatz ersetzt wurde. Eine individuelle Gestalt erhielten die einzelnen Sätze durch expressive, auf bestimmte Textworte bezogene Harmonik. Die Expressivität wurde in der Anfangsphase gelegentlich bis zur Extravaganz gesteigert. Das berühmteste Beispiel dafür stellt der Choralsatz „Es ist genug“ dar, der die Kantate „O Ewigkeit, du Donnerwort“ beschließt (1723).
Die Vielfalt der Formen spiegelte sich in den Arien und Duetten sowie in rezitativischen und ariosen Sätzen, die immer neue Kombinationen der vokalen und instrumentalen Partner erprobten. Allerdings war die Bewahrung eines Werktyps nicht erkennbar, denn die Typisierungen reichten kaum über die Teile eines Jahrgangs hinaus. Einerseits lag das am Fehlen ständig verfügbarer Textdichter, ebenso aber auch an der Entscheidung BACHs gegen eine schematische Typisierung. Darüber hinaus wurden der gesamte Weimarer Kantatenbestand und ein Teil des Köthener Repertoires an Glückwunschkantaten in sein Repertoire integriert.
Mit der erforderlichen Neutextierung der weltlichen Kantaten begann schon im ersten Jahrgang das Parodieverfahren (Umtextierung vorhandener Musik), das später für kirchenmusikalische Großwerke zu großer Bedeutung gelangen sollte.
Im zweiten Jahrgang komponierte BACH fast ausschließlich eigene Werke. Das gesamte zweite Jahr wurde als eine einheitliche textlich-musikalische Durchgestaltung konzipiert, was allerdings Mitte des Jahres abgebrochen wurde. Jedoch wurde der genau umrissene Typus der Choralkantate geprägt. Deren Textbasis war stets ein Kirchenlied in allen seinen Strophen, wobei Anfangs- und Schlussstrophe ihre originale Fassung behielten, die mittleren Strophen aber so umgeformt wurden, dass sie sich als Texte für Rezitative und Arien eigneten. Als Schlusssätze wurden vierstimmige Choralsätze komponiert; am Anfang standen dagegen groß angelegte Choralbearbeitungen mit Cantus firmus in langen Notenwerten.
Der Typus der Choraltextkantate erforderte einen hohen Grad von kompositorischer Kunst. Es gab Werke mit experimentellem Charakter, in denen BACH versuchte, eine neue Ausdruckssphäre zu erschließen, so z.B. die Kompositionen von Solokantaten („Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust“ für Alt). Des Weiteren komponierte er dialogisierende Stücke für zwei Solostimmen. Auch bezog er Transkriptionen nach Orchesterwerken in seine Kantaten mit ein; diese fungierten meist als Eingangssinfonien, wurden aber auch durch Vokaleinbau in Arien und Chöre umgewandelt.
Nach dem zweiten Jahrgang ließ die Dichte der Kantatenproduktion deutlich nach. BACH bezog nun auch fremde Werke in sein Repertoire mit ein bzw. es fanden Wiederaufführungen statt. Wie BACH seine Kantatenkomposition nach dem dritten Jahrgang fortsetzte, ist nicht klar.
Neben der Ausstattung der Gottesdienste durch Kirchenkantaten schuf BACH ebenso eine Reihe von weltlichen Kantaten, die vor allem für Mitglieder der Universität und des Dresdener Königshauses bestimmt waren. 1729 war die regelmäßige Kantatenproduktion an ihr Ende gekommen und in der Folgezeit entstanden sie nur noch als Einzelwerke.
BACHs Kantatenschaffen blieb ohne zeitgenössische Parallele. Insgesamt spiegelte sich in dem erhaltenen Bestand die atypische Vielfalt von BACHs Kunst:
verwirklichten sich in der dichten Verarbeitung und sorgten für eine unlöslich wirkende Verknüpfung von Text und Musik. Dennoch ist ein Rekurs auf ältere Traditionen – wie der Choralkombinationen, kanonischen Strukturen oder in den motettischen Sätzen – unverkennbar. Wo sich also bei BACH ein einheitlicher Typus ausprägte, da erwies er sich zugleich als individuelle Prägung.
Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.
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