Die tschebyschewsche Ungleichung

Der russische Mathematiker PAFNUTI LWOWITSCH TSCHEBYSCHEW (1821 bis 1894) war der Begründer der mathematischen Schule von St. Petersburg. Er beschäftigte sich nicht nur mit Problemen der Wahrscheinlichkeitstheorie, sondern arbeitete wissenschaftlich auch auf den Gebieten Zahlentheorie und Mechanik.

Angesichts eines sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausbreitenden enthusiastischen Anwendungsuniversalismus der Wahrscheinlichkeitsrechnung, insbesondere der Normalverteilung, war seine Forderung nach strengen Beweisen und nach Einfachheit eine wichtige Orientierung auf grundlegende Werte mathematischen Forschens und Lehrens.

Die tschebyschewsche Ungleichung kann folgendermaßen formuliert werden:

  • Es sei X eine endliche Zufallsgröße mit dem Erwartungswert EX und der Streuung D 2 X .
    Dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass X einen Wert annimmt, der um mindestens α ( m i t α > 0 ) von EX abweicht, höchstens D 2 X α 2 .
    Für jeden positiven Wert von α gilt also:
    P ( | X E X | α ) 1 α 2 D 2 X .

Im Folgenden wird ein Beweis der tschebyschewschen Ungleichung angegeben.

Die endliche Zufallsgröße X mit den Werten x 1 , x 2 , ..., x n besitze den Erwartungswert EX und die Streuung D 2 X . Dann gilt für jede positive Zahl α :
P ( | X E X | α ) = P ( ( X E X ) 2 α 2 ) = i : ( x i E X ) 2 α 2 P ( X = x i )

Dies ist die Summe der Wahrscheinlichkeiten aller Ereignisse X = x i , für die ( x i E X ) 2 α 2 , d.h. ( x i E X ) 2 α 2 1 gilt.

Mit einer anderen Darstellung für die Indexmenge der Summe ergibt sich:
P ( | X E X | α ) = i : ( x i E X ) 2 α 2 1 P ( X = x i )

Jeder nichtnegative Summand P ( X = x i ) der Summe wird nun mit dem Faktor ( x i E X ) 2 α 2 multipliziert, der größer oder gleich 1 ist. Damit gilt:
P ( | X E X | α ) i : ( x i E X ) 2 α 2 1 ( x i E X ) 2 α 2 P ( X = x i )

Wird die Summation auf alle i von 1 bis n ausgedehnt, so kann sich der Wert der Summe nicht verkleinern, da alle möglicherweise hinzukommenden Summanden nichtnegativ sind:
P ( | X E X | α ) i = 1 n ( x i E X ) 2 α 2 P ( X = x i )

Wird der Faktor 1 α 2 auf der rechten Seiten ausgeklammert, so ist die verbleibende Summe gleich der Streuung D 2 X . Damit gilt:
P ( | X E X | α ) 1 α 2 D 2 X w . z . b . w .

Die tschebyschewsche Ungleichung ist unter nachstehenden Aspekten für theoretische Überlegungen von großer Bedeutung:

  1. Mit der tschebyschewschen Ungleichung wird die Zweckmäßigkeit von D 2 X als ein „Streuungsmaß“ einer Zufallsgröße X begründet. Die Abschätzung zeigt, dass die Wahrscheinlichkeit für die Abweichung der Zufallsgröße X von ihrem Erwartungswert EX um ein festes α umso kleiner sein muss, je kleiner D 2 X ist.
  2. Wendet man die tschebyschewsche Ungleichung auf eine BERNOULLI-Kette an, so erhält man eine theoretische (auf dem kolmogorowschen Axiomensystem basierende) Interpretation und Rechtfertigung des empirischen Gesetzes der großen Zahlen.

Bei der praktischen Anwendung der tschebyschewschen Ungleichung zeigen sich folgende Vor- und Nachteile:

  1. Die tschebyschewsche Ungleichung gestattet es, Wahrscheinlichkeitsabschätzungen für alle Zufallsgrößen vorzunehmen, wenn nur deren Erwartungswert und Streuung bekannt sind.
  2. Die mit der tschebyschewschen Ungleichung gewonnenen Abschätzungen sind in vielen praktischen Fällen zu grob. Die Ungleichung kann sogar ein Ergebnis liefern, das nichts sagend ist.

Wir betrachten dazu ein Beispiel.

  • Beispiel: Tessa Tüchtig, die gerade 18 Jahre alt geworden ist, entnimmt einer kurzen Zeitungsnotiz, dass das Lebensalter, welches eine 18-Jährige erreicht, eine Zufallsgröße mit dem Erwartungswert von 75 und einer Standardabweichung von 5 Jahren ist.
    Tessa möchte daraufhin die Wahrscheinlichkeit abschätzen, dass sie ein Alter von mehr als 65 und weniger als 85 Jahren erreicht.

Lösung:
Wir gehen von der Modellannahme aus, dass Tessa eine „auf gut Glück“ ausgesuchte 18-Jährige ist:
P ( 65 < X < 85 ) = P ( 10 < X 75 < 10 ) = P ( | X E X | < 10 ) = 1 P ( | X E X | 10 )

Für P ( | X E X | 10 ) gilt nach der tschebyschewschen Ungleichung (für α = 10 und mit D 2 X = 5 2 = 25 ):
P ( | X E X | 10 ) 1 100 25 = 0,25

Damit ist P ( 65 < X < 85 ) 1 0,25 = 0,75 , d.h. mindestens mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,75 werden sich die Lebenserwartungen Tessas erfüllen. Dies ist eine relativ unbestimmte Aussage.

Nimmt man auch für andere Intervalle ( 75 α ; 75 + α ) Abschätzungen vor, so kann man erkennen, dass die mit der tschebyschewschen Ungleichung gewonnenen Abschätzungen relativ grob sind:

Für kleine Werte von α erhält man „leere“ Aussagen und für größere α erreicht man zwar Wahrscheinlichkeitswerte von 0,95 und mehr, d.h., man kommt in den Bereich der sogenannten statistischen Sicherheit, aber der Informationswert der damit verbundenen Aussage nimmt deutlich ab.

Stand: 2010
Dieser Text befindet sich in redaktioneller Bearbeitung.

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